Mord am Yppenplatz: Warum Grundrechte auch für Francis N. gelten

Vor einigen Tagen wurde am Yppenplatz in Wien-Ottakring eine Frau erschlagen. Diese Tat hat heftige Debatten ausgelöst. Viele fordern jetzt die schnellere Abschiebung straffällig gewordener MigrantInnen. Michael Bonvalot über Sicherheitsbedürfnisse, Drogenhandel an der U6 und warum auch psychisch kranke StraftäterInnen ein Bleiberecht in Österreich haben sollten.

Francis N. war in der Gegend rund um den beliebten Wiener Brunnenmarkt gut bekannt. Der 21jährige war obdachlos und lebte de facto am Yppenplatz. In Interviews berichten Ladenbesitzer, dass sie ihm hin und wieder Essen zugesteckt hätten. Ein Anwohner beschreibt ihn mir gegenüber als apathisch, eine andere sagt, dass für alle sichtbar war, dass er krank war.

In der Nacht auf den 4. Mai 2016 hat der junge Mann mutmaßlich eine Frau getötet. Soweit wir bisher wissen, kannten Opfer und Täter sich nicht, die Tat mutet zufällig an. Im Nachhinein wurde bekannt, dass Francis N. höchstwahrscheinlich psychisch krank war, derzeit deutet vieles auf einen psychotischen Schub hin.

Politische Kreise nützen den Einzelfall

Dennoch wird das Opfer, die 54-jährige Maria E., derzeit in rechtsextremen Kreisen zur Märtyrerin stilisiert. Der mutmaßliche Täter, Francis N., stammt ursprünglich aus Kenia, nun wird medial und politisch die Frage aufgeworfen, warum er nicht schon längst abgeschoben worden sei. Auch ansonsten liberale Kreise argumentieren in eine ähnliche Richtung und fordern die Deportation.

Die Regierungsparteien nützen den Fall und springen auf den Zug auf. ÖVP-Innenminister Wolfgang Sobotka will die „Abschiebeintensität“ für MigrantInnen erhöhen. SPÖ-Klubchef Andreas Schieder geht das noch nicht weit genug. „Anstatt dauernd Forderungen aufzustellen und darüber zu reden, soll der Minister seine Arbeit machen und abschieben“, so Schieder, der in der Sozialdemokratie oft als Vertreter des „linken“ Parteiflügels gehandelt wird. Die FPÖ reibt sich währenddessen die Hände. Ohne dass sie selbst etwas tun muss, bekommt sie wieder einmal die Themenführerschaft.

Rache oder Resozialisierung?

Im Umgang mit StraftäterInen gibt es zwei grundlegend unterschiedliche Positionen. Die eine Position sagt, dass Strafe vor allem das Rachebedürfnis der Gesellschaft befriedigen soll. Möglichst harte Strafen, Abschiebungen nach Straftaten oder in letzter Konsequenz auch die Todesstrafe sind klassische Antworten jener, die vor allem das Rachebedürfnis in den Mittelpunkt stellen.

Die andere Position sagt, dass eine Zwangsunterbringung in einem Gefängnis oder einer psychiatrischen Klinik niemals wünschenswert ist. Vor allem der Aufenthalt im Gefängnis kann krank machen und straffälliges Verhalten oft sogar eher unterstützen. Das ist umso mehr der Fall, je problematischer die Haftbedingungen sind.

Diese Problematik und mögliche psychische Folgeschäden der Haft haben nach einer Entlassung nicht nur Auswirkungen auf die Person selbst, sondern auch auf ihre Umgebung. Denn klarerweise steigt auch die Rückfallquote, wenn eine kranke oder durch die Haft krank gemachte Person ohne weitere Unterstützung aus der Zwangsunterbringung entlassen wird. Wenn es also zu einer Zwangsunterbringung kommt oder kommen muss, dann sollte diese immer möglichst schonend vorgenommen werden und vor allem der Resozialisierung und/oder Therapie der betroffenen Person dienen.

Kranke Menschen brauchen Therapie!

Im konkreten Fall von Francis N. können wir davon ausgehen, dass die psychiatrischen Ressourcen in Österreich weit besser ausgebaut sind als jene in Kenia. Wir haben es hier mutmaßlich mit einem psychisch kranken Mann zu tun, der – ebenso wie andere psychisch kranke Menschen – sinnvoll behandelt werden sollte. Denn nicht nur in seinem eigenen Interesse, sondern auch im Interesse der Gesellschaft ist es dringend geboten, dass Menschen, die aufgrund psychischer Erkrankungen fremdgefährdend sind, therapiert werden.

Wer Francis N. nun aber nach Kenia deportieren möchte, sagt im Kern, dass es zwar ein Problem darstellt, wenn ein psychisch kranker Mensch unbehandelt am Wiener Brunnenmarkt herumläuft, es aber weniger problematisch ist, wenn er das auf den Straßen von Nairobi, Mombasa oder Kisumu tut. Letztlich ließe sich das nur mit einem unterschiedlichen Wert der jeweils betroffenen Umgebung argumentieren. Davor, diese Konsequenz offen auszusprechen, scheuen viele dann allerdings doch (noch?) zurück.

Boulevard-Mythen rund um die Linie U6

Im Hintergrund wird mit dem aktuellen Fall die gesamte soziale Situation nahe dem Brunnenmarkt verhandelt. Rund um die U6-Stationen Alser Straße, Josefstädter Straße und Thaliastraße hat sich eine halb-offene Drogen-Verkaufsszene entwickelt. Es sind vor allem junge Migranten die hier dealen, viele von ihnen sind offenbar Asylwerber. Dabei kam es bereits mehrmals zu Auseinandersetzungen, zumeist unter den Jugendlichen selbst.

Weder Drogenhandel noch Obdachlosigkeit sind allerdings für Wien etwas Neues. Im Gegenteil, beides sind typische Phänomene einer kapitalistischen Großstadt. Auf den ersten Blick mag es also verwundern, warum gerade die Situation an der U6 nun solche Aufmerksamkeit erregt. Als sich etwa vor einigen Jahren in Wien an den Stationen der Straßenbahnlinien 6 und 18 eine sehr ähnliche Szene entwickelte, war das den Medien kaum eine Randnotiz wert.

Die Erklärung dafür ist wohl einerseits darin zu suchen, dass die aktuellen Debatten sich sehr gut in eine insgesamt rassistische Berichterstattung vieler Medien einbetten lassen. Andererseits sollte auch nicht außer Acht gelassen werden, dass die aktuellen Verkaufsorte an der U6 sich mit Wohngebieten decken, wo seit einigen Jahren im Rahmen der Gentrifizierung gut verdienende und auch medial gut vernetzte Gesellschaftsschichten die ortsansässige Bevölkerung an den Rand drängen.

Sicherheitsbedürfnis ernst nehmen

Unabhängig von der Motivation der Berichterstattung braucht es aber natürlich tatsächlich Antworten auf Obdachlosigkeit, Drogenverkauf und subjektive Sicherheitsbedürfnisse. Es ist etwa nachvollziehbar, dass es für manche Menschen ein unangenehmes Gefühl verursachen kann, am Nachhauseweg auf den Kauf von Drogen angesprochen zu werden. Auch Räume, die durch Auseinandersetzungen, etwa unter Jugendlichen, subjektiv unsicherer werden, müssen beachtet werden. Im Fokus stehen dabei vor allem Frauen und Kinder, aber auch Männer wollen nicht gern in potentiell aggressive Situationen geraten.

Vertreibung ist allerdings keine Antwort auf diese Frage. Die Geschichte der Wiener Drogenpolitik der letzten zwanzig Jahre zeigt, dass eine Vertreibung des Drogenhandels von einem Ort immer nur eine Verlagerung zu einem anderen Ort bedeutet. Zuerst waren Karlsplatz und Gumpendorferstraße die zentralen offenen Verkaufsplätze in Wien. Als diese Szenen zerschlagen worden sind, hat sich der Verkauf dezentralisiert.

Natürlich könnte auch die aktuelle Szene an der U6 polizeilich zerschlagen werden. Dann wird es eben die U4. Oder die U2. Oder die U1. Es ist simpel: Wir haben es hier mit Suchtproblematiken zu tun. Solange es die Nachfrage nach illegalisierten Drogen gibt, aber keine legalen Abgabemöglichkeiten, wird es halboffene Verkaufsorte geben. Viele KonsumentInnen benötigen bestimmte Substanzen, weil sie suchtkrank und somit abhängig sind. Andere möchten bestimmte Substanzen gerne konsumieren und es gibt keinen legalen Weg, sie zu erhalten. Es gibt also eine intensive Nachfrage – somit wird es auch ein Angebot geben.

Es gibt sinnvolle Lösungen

Gleichzeitig gibt es auf die aktuell auftretenden Fragen konkrete und nachvollziehbare Antworten: Der Straßenverkauf von Drogen würde durch eine legale Abgabe, etwa in Apotheken, sofort komplett ausgetrocknet. Für die KonsumentInnen hätte das zusätzlich den riesigen Vorteil gleichbleibender und vergleichbarer Qualität. Das stünde in einem sehr positiven Gegensatz zur jetzigen Situation, wo der Substanzkonsum oftmals einer Partie russisches Roulette gleicht.

Und auch für die VerkäuferInnen braucht und gibt es Antworten: Arbeitserlaubnis, Integrationsmaßnahmen, Deutschkurse und ein Aufenthaltsrecht ohne Angst vor Abschiebungen wären sinnvolle und umsetzbare Lösungen. Die Jugendlichen hätten eine Perspektive und eine Chance jenseits des Drogenhandels. Für psychisch kranke Menschen schließlich ist vor allem ausreichende und kostenlose psychiatrische Versorgung und Psychotherapie notwendig. Im konkreten Fall von Francis N. wäre es etwa sehr wünschenswert gewesen, wenn bereits früher medizinisch und therapeutisch reagiert worden wäre.

Wir werden uns aber, so schmerzhaft es im Einzelfall sein mag, auch damit auseinandersetzen müssen, dass bestimmte Taten niemals vollständig verhindert werden können. Wenn jemand „nicht unmittelbar selbst- oder fremdgefährdend“ ist, gibt es keinen Grund für einen Zwangsaufenthalt in der Psychiatrie. Das kann im Einzelfall große Schwierigkeiten verursachen, vor allem wenn PatientInnen keine Krankheitseinsicht haben. Dennoch ist dieser grundlegende Zugang ein enormer Fortschritt der Psychiatriereform der 1970er Jahre. Zuvor wurden tausende Menschen oft über viele Jahre ohne Aussicht auf Entlassung in psychiatrischen Kliniken eingesperrt.

Die Psychiatrie-Reform bedeutet in Konsequenz, dass auch Menschen mit Psychosen auf der Straße sind und sein dürfen. Das wäre prinzipiell auch völlig in Ordnung, wenn sie medikamentös gut eingestellt und therapeutisch gut betreut sind. Besonders schwierig ist das allerdings bei Menschen, die einen unsicheren Aufenthaltsstatus haben und damit oft durch die Netze rutschen.

Über den Einzelfall hinaus

Schlussendlich ist der Fall von Francis N. auch ein Testfall. Als im Jahr 2007 die damals 15-jährige Arigona Zogaj abgeschoben werden sollte, überzog eine Welle der Empörung das Land. Sogar die Boulevard-Medien zogen ins Feld, um das junge, brave, gut integrierte und weiße Mädchen vor der Abschiebung zu bewahren. Die damalige Innenministerin Maria Fekter klagte empört über die „Rehlein-Augen“ der jungen Arigona.

Und tatsächlich ist es zweifellos leichter, gegen die Abschiebung sympathischer, junger und wohl-integrierter Mädchen zu sein als gegen jene eines ebenfalls jungen, doch psychisch kranken und schwarzen Obdachlosen, der noch dazu mutmaßlich eine schwere Straftat begangen hat. Genau deshalb ist der Fall Francis N. aber auch über den Einzelfall hinaus wesentlich. Denn hier wird auch die Frage verhandelt, ob Sympathie über den Aufenthalt entscheidet oder ob wir grundlegend der Meinung sind, dass eines der reichsten Länder der Welt eine globale Bringschuld hat und das Bleiberecht zu verteidigen ist.

An den Finanzen jedenfalls kann es nicht liegen: Österreich lässt sich etwa die Sanierung von Banken etliche Milliarden Euro kosten. Somit sollte es auch möglich sein, dafür zu sorgen, dass sowohl kranke Menschen wie Francis N. wie auch die Opfer von Verbrechen zeitgerecht Hilfe und Unterstützung bekommen. Hier wäre das Geld wohl weit besser angelegt als etwa in der Hypo Alpe Adria.

Michael Bonvalot ist Journalist und Diplomierter Sozialarbeiter in Wien. Seine Beiträge findet ihr auf Facebook, via Twitter sowie auf seiner Homepage www.bonvalot.net

 

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