Lebensmittelpreise: Der Krieg tobt nicht nur in der Ukraine, sondern auch auf den Tellern

Während des russischen Angriffskriegs in der Ukraine steigen nicht nur die Öl-, Gas- und Kohlepreise drastisch an, sondern auch der Weizenpreis. Wieso die hohen Lebensmittelpreise höchst komplex sind und was Finanzspekulation damit zu tun hat, erklärt mosaik-Redakteurin Sophie Gleitsmann.

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine verschärft die globale Ernährungskrise enorm. Nachdem die Lebensmittelpreise bereits letztes Jahr ein Rekordhoch verzeichnet hatten, sind sie jetzt höher als zur Zeit der Finanzkrise 2008/9. Laut der Welternährungsorganisation (FAO) ist der Lebensmittelindex seit Februar 2022 um 12,6 Prozent gestiegen. Allein der Marktpreis für Weizen hat sich in den letzten Wochen von 200 Euro auf 400 Euro pro Tonne verdoppelt. Russland und die Ukraine, auch als „Kornkammer Europas“ bekannt, gehören zu den weltweit wichtigsten Exporteuren von Weizen, Mais, Raps und Sonnenblumenöl. Der Krieg bedeutet weitreichende Konsequenzen für den globalen Welthandel, die sich meist auf den Tellern der Ärmsten bemerkbar machen.

Bereits mit dem vorübergehenden Exportstopp, den Russland für Mitte März bis Ende Juni für Weizen, Roggen, Gerste und Mais ankündigte, verzeichneten einige afrikanische Importländer steigende Lebensmittelpreise. Die Maßnahmen der russischen Regierung zielen darauf ab, den heimischen Lebensmittelmarkt gegen wirtschaftliche Sanktionen zu schützen und interne Lieferengpässe zu vermeiden. Auch wenn Russland den Exportstopp mittlerweile etwas gelockert hat, bleiben die Preise hoch und steigen weiter.

Globale Abhängigkeit von ukrainischem und russischem Weizen

Besonders tragisch ist diese Situation für wirtschaftlich schwache und kriegsgeschundene Länder. Deren Bevölkerung kann sich Lebensmittel, auch wenn sie noch ohne Einschränkungen vorhanden sind, nicht mehr leisten. Dies gilt unter anderem für Länder des sogenannten „Globalen Südens“. Ihre Produktionssysteme wurden in den letzten Jahrzehnten geschwächt und sie sind nun stark von Lebensmittelimporten abhängig. Rund 50 Länder beziehen 30 Prozent oder mehr ihrer Weizenversorgung aus Russland oder der Ukraine. Viele davon haben ohnehin Probleme, die Ernährungssicherung ihrer Bevölkerung zu gewährleisten. Besonders (nord-)afrikanische Staaten sowie der Jemen oder Libanon treffen die Preisanstiege enorm. Somalia am Horn von Afrika kämpft schon seit Jahren mit einer anhaltenden Dürre. Ihre Folgen sind vernichtete Ernten, totes Vieh und kein gesicherter Zugang zu Nahrung für knapp sechs Millionen Menschen. 90 bis 100 Prozent seines Weizens bezieht Somalia aus Russland und der Ukraine. Ein Wegfall dieser Importe könnte noch schwerwiegendere Folgen haben.

Der Jemen beispielsweise ist, bedingt durch den seit acht Jahren andauernden Bürgerkrieg, schon seit geraumer Zeit von Hilfslieferungen internationaler Organisationen abhängig. 17 von 30 Millionen Menschen hungern. Viele neue Länder kommen nun hinzu. Große Hilfsorganisationen warnen bereits vor Zuständen wie im Zweiten Weltkrieg, vor Hungerrevolten und daraus resultierender politischer Instabilität. Diese werden weiter dadurch bedingt, dass auch die Hilfsorganisationen weniger Lebensmittel kaufen und verteilen können, wenn die Preise steigen.

Ukrainekrieg erhöht Lebensmittelpreise

Es wäre anzunehmen, dass die aktuelle Preisexplosion durch bereits bestehende Lieferengpässe und Ernteausfälle ausgelöst wird. Dies ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Die hohen Preise haben keinen unmittelbaren Bezug zu bereits existierenden Lieferengpässen oder Ernteausfällen. Sie werden durch eine Reihe von Faktoren ausgelöst: Nachwirkungen der Covid-19 Pandemie, Klimakrise und -katastrophen, steigende Energiepreise, Ausbeutungsstrukturen in den globalen Lieferketten sowie einer steigenden sozialen Ungerechtigkeit. Die Lebensmittelpreise hängen dementsprechend auch stark mit den Energiepreisen für fossile Brennstoffe und höheren Kosten für Dünge- oder Transportmittel sowie Agrartreibstoffe zusammen. Hinzu kommt, dass viele Nutzpflanzen, also Agrargüter wie beispielsweise Mais, die als Agrartreibstoff, Futtermittel und Lebensmittel dienen, eine doppelte oder dreifache Rolle in dieser Krise einnehmen und ihre Komplexität erhöhen.

Zwei weitere Faktoren verschärfen diese Entwicklung: die Finanzialisierung von Lebensmitteln und Landwirtschaft und Spekulationen am Finanzmarkt. Finanzialisierung meint, dass die Finanzwirtschaft (Finanzmärkte, -institutionen und -eliten) eine zunehmend dominantere Rolle im Weltgeschehen einnimmt.

Das verquere System des globalen Agrarstoffhandels

Das System der weltweit einheitlichen Marktpreise von (Agrar-)Rohstoffen und der ineinander verstrickten globalen Abhängigkeitsstrukturen ist noch relativ jung. Der Rohstoffmarkt war bis in die frühen 2000er Jahre stark reguliert, als der damalige US-Präsident Bill Clinton im Jahr 2000 den „Commodities Future Modernization Act“ unterzeichnete. Das Gesetz öffnete den Markt für eine unbegrenzte Anzahl von Händler*innen, die mit Preisen spekulieren dürfen. Die sieben größten Terminbörsen für den Agrarrohstoffhandel bestimmen die weltweiten Preise für Agrargüter wie Weizen. Beim Warenterminhandel werden der Verkauf oder der Kauf von Waren zu künftigen Terminen, Mengen und Preisen festgelegt. Es handelt sich dabei also primär um die Vermutung, dass eine Knappheit eintreten könnte und die Spekulation darauf.

Weitere Liberalisierungen führten zu einem Anstieg der spekulativen Kapitalanlagen in Agrarerzeugnisse um das Doppelte zwischen 2006 und 2011. Die Folgen sind aggressive Investitionen und Spekulationen und eine immer mächtigere Finanzialisierung des globalen Ernährungssystems. Sie machten sich bereits 2008 bemerkbar, als im Zuge der internationalen Finanzkrise auch der Lebensmittel- und (Agrar-)Rohstoffsektor in eine tiefe Krise stürzte. Es ist nicht die verstärkte Nachfrage, die die steigenden Rohstoffpreise auslöst. Es sind die Launen der Wall Street und ihren Spekulanten, die als nachhaltige Preisverstärker wirkten und mithilfe einer gewissen Herdenmentalität die Preise in die Höhe trieben.

Ein Ende in Sicht?

Ja, der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine könnte zu einer Verknappung von Lebensmitteln in der Zukunft führen – aber noch ist sie nicht da. Bereits jetzt führt der Krieg in der Ukraine zu enormen Preisanstiegen von Öl, Gas und Lebensmitteln, obwohl noch keine Lieferengpässe oder Knappheiten bestehen. Dies lässt sich zu einem großen Teil durch Finanzspekulationen auf (Agrar-)Rohstoffe erklären. Zum anderen sind die Preisentwicklungen aber eingebettet in ein deutlich komplexeres Konstrukt von Krisen. Letztendlich entsteht momentan eine neue Dimension der bereits existierenden multidimensionalen Systemkrise, die sich nicht einfach lösen lässt. Die Interessen der Agrarindustrie gehen an den komplexen Ursachen dieser Krise vorbei. Sie treiben sie eher voran, als sie zu unterbinden.

Es gibt keine weltweite Knappheit an Lebensmitteln, sondern lediglich eine ungerechte Verteilung dieser. Um eine gerechtere Verteilung garantieren zu können, müssten wir einige wichtige Faktoren überdenken und neu bewerten. Unter anderem müsste die dramatische Verschwendung von einem Drittel aller Lebensmitteln weltweit enden und eine Neubewertung von Futtermitteln und Agrartreibstoffen gelingen. Auf rund 30 Prozent des weltweiten Ackerlands wächst Nahrung, die nie verzehrt wird, sondern als Futtermittel in die Massentierhaltung oder als Agrartreibstoffe in Tanks fließt. Was es jetzt braucht, ist eine Umkehr dieses Systems, hin zu einer stärkeren Unterstützung und Einbindung der Zivilgesellschaft und indigener Völker sowie bäuerlicher Agrarökologie. Sie zählt zu den wichtigsten Akteur*innen zur Erreichung von Ernährungssouveränität. Eine global koordinierte, solide, integrative und effektive Herangehensweise ist essentiell in der Umsetzung einer tiefgreifenden Umgestaltung des globalen Lebensmittelmarktes.

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