Entgrenzte Entmenschlichung: Linke Handlungsfähigkeit in Zeiten des Kriegs

Israel-Palästina-Konflikt

Die Debatte um Israel und Palästina verroht zunehmend. Um neue Handlungsfähigkeit zu erlangen und bestehende Denkmuster herauszufordern, sollte sich die gesellschaftliche Linke an universellen Menschenrechten orientieren, argumentiert mosaik-Redakteur Mathias Krams.

Ein Blick auf X, vormals Twitter, gleicht dieser Tage oftmals einem Blick in menschliche Abgründe. Die einen lassen sich zu mehr oder weniger gut verdeckten Rechtfertigungen für das von der Terrororganisation Hamas verübte Massaker, der größten Massentötung an Jüd:innen seit dem Holocaust, hinreisen und wittern darin Elemente eines Befreiungskampfes. Die anderen meinen, dieses schreckliche Ereignis würde die Entmenschlichung und kollektive Bestrafung der Bewohner:innen Gazas legitimieren. Sie nehmen im Namen einer falsch verstandenen „bedingungslosen Israel-Solidarität“ den Tod tausender Zivilist:innen sowie Kriegsverbrechen billigend in Kauf. Und sie bedienen sich einer rassistischen Hetze gegen Muslime. Wo bleibt die Orientierung am Schutz menschlichen Lebens? Am Recht, Rechte zu haben, wie es Hannah Arendt formulierte. Ganz gleich, welcher Nationalität, Religion man angehört, oder wo man sich befindet?

Die Debatte verroht zunehmend. Soweit, dass selbst bürgerliche Freiheitsrechte in Frage gestellt werden. Demonstrationen und jede Form der Palästina-Solidarität wurden an vielen Orten pauschal verboten und diffamiert. Allgegenwärtig ist die Aufforderung, sich klar zu einer der Kriegsparteien zu bekennen. Weicht dies von der ‚eigenen’ Seite ab, folgen Beleidigungen statt Argumente. Wer die Art von Israels Kriegsführung kritisiert oder darauf verweist, dass die Fortführung der Siedlungspolitik Frieden verunmöglicht, wird entsprechend diesem Schwarz-Weiß-Denken zum Hamas-Anhänger. Wer die Mitverantwortung der Hamas für die Lage der Zivilbevölkerung in Gaza oder ihren reaktionären, einer Befreiung entgegenstehenden Charakter benennt, wird zum Kolonialisten. Der Raum für Zwischentöne schwindet. Die Freiheit der Andersdenkenden, sie wird in der öffentlichen Debatte zwischen Hassrede, Diffamierung, Bekenntniszwang und einem selektiven Humanismus zerrieben.

Eine linke Position kann nicht bei der Verteidigung bürgerlicher Freiheitsrechte stehen bleiben. „Die Linke muss Widerstand leisten gegen Antisemitismus im Namen des antikolonialen Kampfes genauso wie gegen Rassismus im Namen der sogenannten Israelsolidarität“, bringt es Hanno Hauenstein auf den Punkt. Und in dieser Hinsicht gibt es viel zu tun.

Antimuslimische Hetze und der Rechtsruck

Widerstand gegen Rassismus leisten heißt in diesen Tagen etwa, sich antimuslimischer Hetze entgegenzustellen, die Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Glaubens pauschal verurteilt und stigmatisiert. Diese Hetze bettet sich in einen allgemeinen Rechtsruck der Mitte der Gesellschaft ein. Deutlich wird dieser etwa in der Debatte um die neuerliche Verschärfung des Asylrechts. Eine solche dehumanisierende Debatte ist Wasser auf den Mühlen der extremen Rechten. Selbst diese entdeckt neuerdings die Empörung über Antisemitismus für sich. Sie instrumentalisiert sie, um darüber Zuspruch für ihre rassistische Hetze gegen Migrant:innen einzuheimsen.

Der Einsatz gegen diesen antimuslimischen Rassismus und für die notwendig gewordene Verteidigung einer offenen Gesellschaft bedeutet selbstredend nicht, die Augen vor antisemitischen Straftaten auf Anti-Israel-Demos zu verschließen. Doch wenn auf antisemitische Demoparolen der Ruf nach Abschiebungen folgt, während antisemitische Liederbücher nicht einmal Regierungsämter versperren, dann entpuppt sich die Antisemitismus-Kritik als rechtes Kalkül. Antisemitismus lässt sich nicht abschieben, besonders nicht wenn die umfragenstärkste Partei durch Verstrickungen mit Neonazistrukturen und antisemitischen Burschenschaften hervorsticht. Antisemitismus genauso wie antimuslimischer Rassismus darf keinen Platz in der Gesellschaft haben. Er muss konsequent verurteilt werden – egal von wem er ausgeht.

Linker Antisemitismus und der vermeintliche ’Schuldkult’

Auch sogenannter ‚linker‘ Antisemitismus treibt dieser Tage neue Blüten. Doch anstatt sich mit antisemitischen Einstellungen und Holocaust-Relativierung in den eigenen Strukturen auseinanderzusetzen und diese zu verurteilen, wird Kritik oftmals abgeblockt. Etwa unter Verwendung der Parole, „Free Palestine from German (and Austrian) Guilt“. So hört man es auf Demos und so wurde es kürzlich an Wände der Uni Wien geschmiert. Die Kategorie ‘Schuld’ ist fehl am Platz. Weder sind Schuldgefühle in Bezug auf die Shoah notwendig, um sich für den Schutz jüdischen Lebens einzusetzen und den Hamas-Terror klar zu verurteilen. Noch braucht es den Verweis auf einen vermeintlichen ’Schuldkult’, um uneingeschränkte Unterstützung für Israels rechte Regierung zu kritisieren. 

Problematisch ist die Parole auch, da sie unbedacht an die ‘Schuldkult’-Rhetorik der extremen Rechten angeknüpft und diese reproduziert. Mit Verweis auf einen angeblichen ‘Schuldkult’ bekämpften Rechtsextreme in der Nachkriegszeit die Entnazifizierung Deutschlands. Sie versuchten – wie auch heute wieder zu hören ist – die gesellschaftliche Verantwortung für die Gräueltaten des Holocausts abzustreiten. Sie wollten einen ‘Schlussstrich’ unter die Aufarbeitung der NS-Zeit setzen und darüber einen neuen Nationalstolz begründen. 

Heute wird die Phrase der ‘deutschen/österreichischen Schuld’ mitunter von antisemitischen Linken genutzt, um Israel das Existenzrecht abzusprechen. Dabei geht es in der politischen Debatte eigentlich gar nicht um die Frage von Schuld, sondern um Verantwortung. Es geht nicht um die Verpflichtung gegenüber einem schlechten Gewissen, sondern um eine Überzeugung. Die Überzeugung, Verantwortung dafür zu übernehmen, dass sich so etwas wie der Holocaust nie wiederholt. Dass jüdisches Leben geschützt wird und dass Menschenrechte bedingungslos und für alle verteidigt werden. Eine Aufgabe, die angesichts der Doppelstandards bei der Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen, aber auch in Hinblick auf die Kontinuität antisemitischer Einstellungen in breiten Teilen der Bevölkerung, dringlicher ist denn je. Man denke an die jüngsten Angriffe auf jüdische Einrichtungen in Österreich und Deutschland. Oder aber an die Folgenlosigkeit von Israels Völkerrechtsverletzungen.

Menschenrechte als Orientierungspunkt

Um sich im Stellungskrieg der gesellschaftlichen Debatte nicht zu verlieren, sind die aus einer Geschichte von Bewegungskämpfen hervorgegangenen Menschenrechte ein wichtiger Orientierungspunkt. Sie positionieren sich klar gegen die Dehumanisierung ganzer Gruppen, gegen das Ausspielen der Rechte und Sicherheitsbedürfnisse der einen, gegen die der anderen. Außerdem erinnern sie daran, was es bräuchte, um die Grundlage für Frieden zu schaffen. Nämlich eine Orientierung auf eine politische Lösung des Konflikts. Eine Lösung, welche durch die Verwirklichung sozialer Menschenrechte Ausblick auf ein besseres Leben ermöglicht, sich im Hinblick auf kollektive Menschenrechte gegen Fremdbeherrschung wendet und zugleich die individuellen Rechte etwa auf Diskriminierungsfreiheit und Leben nicht aus dem Blick verliert.

Auch wenn klar ist, dass es mit der Hamas eine solche politische, menschenrechtsorientierte Lösung nicht geben kann und die Zerstörung ihrer Kapazitäten für fortlaufende Angriffe auf Israel zwingend notwendig ist: Der Versuch auf rein militärischem Wege Sicherheit herbeizubomben und dabei auch den Tod unzähliger Zivilist:innen in Kauf zu nehmen, ist zum Scheitern verurteilt. Die exterminatorische antisemitische Ideologie der Hamas wird sich in der Bevölkerung dadurch verfestigen und weiter verbreiten. Frieden und nachhaltige Sicherheit kann es nur mit der palästinensischen Zivilbevölkerung geben, nicht gegen sie.

Perspektivenwechsel notwendig

Die Bearbeitung von Konflikten erfordert, dass beide Konfliktparteien Verständnis für die hinter den verhärteten Positionen liegenden Bedürfnisse der Gegenseite entwickeln. Relevant in diesem Konflikt scheinen das Bedürfnis nach Sicherheit auf der einen und das nach Wohlergehen und Autonomie auf der anderen Seite. Die Aberkennung des israelischen Existenzrechts, aber auch die Legitimierung der völkerrechtswidrigen Besatzung des Westjordanlandes oder Kriegsverbrechen in Gaza, treten diese Bedürfnisse mit Füßen. 

Doch nicht nur scheitern aus naheliegenden Gründen die unmittelbar betroffenen Konfliktparteien daran, einen solchen Perspektivenwechsel vorzunehmen. Auch innerhalb der deutschsprachigen Linken ist davon oft wenig zu spüren. Der Bekenntniszwang hat tiefe Gräben hinterlassen. Sie lassen das Formulieren gemeinsamer Antworten auf die Herausforderung immer neuer Kriegsherde in weite Ferne rücken. Anstatt sich dem Ohnmachtsgefühl  hinzugeben und in eine Schockstarre zu verfallen, ist vielleicht genau das die Aufgabe, der sich die gesellschaftliche Linke aktuell stellen muss: neue Handlungsfähigkeit zu erlangen, indem der eigenen Fragmentierung durch eine Orientierung an unteilbaren und universellen Menschenrechten entgegengewirkt wird und herrschaftliche, den Bellizismus fördernde Denkmuster und Strukturen, herausgefordert werden.

Initiativen, wie die von ‘Standing Together Vienna’ ins Leben gerufenen Mahnwachen für palästinensische und israelische zivile Opfer oder die von 600 internationalen Organisationen unterstützte Petition ‘Ceasefire Now’ für eine sofortige humanitäre Waffenruhe, weisen in diese Richtung. Daran gilt es anzuknüpfen, um auf ein sofortiges Ende des Massensterbens sowie perspektivisch auf eine politische, menschenrechtsorientierte Konfliktlösung hinzuwirken.

Foto: tipinfo

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