„Der Gewinner ist Griechenland. Wie begossene Pudel stehen Madrid und Lissabon nun da.“ So bewertete der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) jüngst das Ergebnis der Verhandlungen zwischen der griechischen Regierung und der Eurozone. Wie lässt sich erklären, dass die FAZ – eine Art Seismograf des deutschen Neoliberalismus – hier eine so heftige Erschütterung registriert? Der Grund ist, dass in der gegenwärtigen Situation schon ein kleiner Riss in der europäischen Politik eine Gefahr für das gesamte europäische Herrschaftsgefüge bedeutet. Denn er macht deutlich, dass eine Krisenpolitik, die auf Kürzungen und Austerität setzt, eben nicht alternativlos ist. Nun geht es darum, ein europäisches Nachbeben zu organisieren, das diesen Riss zu einem echten politischen Bruch ausweiten kann. Die Verantwortung dafür liegt aber nicht in Athen – sie ist grenzüberschreitend. Also raus aus den Sofas!
Auf den ersten Blick scheint die Bewertung der FAZ gegen die Fakten zu sprechen. Schließlich hat sich die griechische Regierung gegenüber der Eurogruppe darauf verpflichtet, in den kommenden vier Monaten – so lange läuft der „Brückenkredit“, der nun vereinbart wurde – politische Maßnahmen, die Auswirkungen auf das Budget haben, nur nach Zustimmung der Troika zu setzen. Auch wenn das Dreigespann aus Internationalem Währungsfonds (IWF), Europäischer Zentralbank (EZB) und EU-Kommission nun „die Institutionen“ genannt wird, sieht das nicht nach dem „Ende des Diktats der Troika“ aus, das SYRIZA im Wahlkampf versprochen hatte. Woher kommt also die konservative Sorge um eine europäische Kettenreaktion?
Programm zur Beendigung der humanitären Krise
Die Sorge der Konservativen beruht auf der Tatsache, dass die griechische Regierung, trotz aller Zugeständnisse, den Kern ihres Programmes zur Beendigung der humanitären Katastrophe in den Verhandlungen durchsetzen konnte. Die Regierung hat eine Liste mit „Strukturreformen“ vorgelegt, die von der Eurogruppe akzeptiert wurde. Darauf finden sich neben der „Gewährleistung einer medizinischen Grundversorgung für alle“ (aufgrund der Krisenpolitik sind derzeit rund die Hälfte aller Menschen in Griechenland nicht krankenversichert) und der „Vermeidung von Zwangsräumungen des Erstwohnsitzes für Familien unterhalb einer gewissen Einkommensgrenze“ auch die Beendigung des Hungers durch die Abgabe von Essensmarken sowie die Einführung einer Mindestsicherung. Darüber hinaus scheint die Finanzierung dieses Programmes vertraglich weitgehend abgesichert, da die griechische Regierung in den Verhandlungen eine erhebliche Absenkung der Zielmarke für den Primärüberschuss (Budgetüberschuss vor Abzug der Zinszahlungen) erreichen konnte.
Die Umsetzung dieses Programmes erscheint dennoch keinesfalls gesichert: Die Macht der Finanzmärkte ist ungebrochen. Kapitalflucht und Steuerhinterziehung der Elite nehmen zu. Die Versorgung mit Kapital aus den Rettungsschirmen erfolgt nur etappenweise. Gleich einem Faustpfand verbleibt die materielle Macht so in den Händen der Eurozone. Und selbst die volle Umsetzung der geplanten Maßnahmen wäre noch kein Ende der Wirtschaftskrise. Dazu bräuchte es sozial-ökologische Investitionen im großen Maßstab – was das Brückenabkommen klar untersagt.
Dennoch, wie Theodor Adorno es einst poetisch formulierte: zart wäre schon das Gröbste: dass keine_r mehr hungern muss. Denn die autoritär-neoliberale Krisenpolitik der letzten Jahre hat das Dogma der Alternativlosigkeit auf den Gipfel getrieben. Aus Sicht jener, die dieses Dogma aufrecht erhalten wollen, ist schon die Beendigung des schlimmsten Elends ein Sündenfall. Denn damit könnte einer europäischen Öffentlichkeit vor Augen geführt werden, dass soziale Kämpfe wie in Griechenland, die letztlich den Wahlsieg von SYRIZA angestoßen haben, tatsächlich erfolgreich sein können. Die Hoffnung, dass das gemeinsame Eingreifen in den Lauf der Dinge wirklich etwas verändern kann – eine Hoffnung, die zu Beginn des Neoliberalismus, mit der Niederlage des Bergarbeiter_innenstreiks 1985, in den englischen Kohlegruben begraben wurde – könnte wieder auferstehen. Und sie könnte von Griechenland aus über Spanien zu einer europäischen Hoffnung werden.
Angst vor einem europäischen Nachbeben
Die Angst vor diesem europäischen Nachbeben erklärt die brutale Unerbittlichkeit, mit der die Hardliner-Fraktion im europäischen Machtblock jegliches Zugeständnis an die griechische Regierung verhindern wollte. Doch die von der deutschen Bundesregierung angeführte Koalition aus den „nordischen“ Finanzministern, dem niederländischen Vorsitzenden der Eurogruppe (dem Sozialdemokraten Jeroen Dijsselbloem) und den konservativ geführten Mitgliedstaaten (Irland, Portugal und Spanien), die selbst brutale Verarmungsprogramme gegen die eigenen Bevölkerungen zu verantworten haben, konnte sich nicht vollständig durchsetzen. Das liegt daran, dass auch der Machtblock in der Europäischen Union selbst gespalten ist.
Uneinigkeit herrscht allerdings nicht darüber, ob das neoliberale Projekt gerettet werden muss – da sind sich die Herrschenden weitgehend einig. Widersprüchlich sind jedoch die Einschätzungen darüber, wie das gelingen kann. Die eine Seite spricht sich für Zugeständnisse gegenüber der griechischen Regierung aus – auch über das viermonatige Brückenübereinkommens hinaus. Dafür, so wird argumentiert, sprechen vor allem zwei objektive Problemlagen: Erstens ist die Wirtschaftskrise in der Eurozone weiterhin nicht beendet. Sie hat sich vielmehr zu einem Schwelbrand aus Deflation und leichter Rezession gewandelt, der sich schon durch relativ kleine Ereignisse – wie der Insolvenz Griechenlands – wieder voll entzünden und dabei die Währungsunion und die Weltwirtschaft mitreißen könnte. Zweitens hätte Griechenland im Falle seiner Insolvenz gar keine andere Möglichkeit, als sich gegenüber dem „Osten“, insbesondere gegenüber Russland, zu öffnen – nicht zuletzt, um neue Kredite und Investitionen für den Aufbau des Landes anzuziehen. Eine solche Öffnung an der Südost-Grenze der EU, die gleichzeitig die Flanke des transatlantischen Bündnisses ist, erscheint den Führungsstäben wohl gerade in Zeiten der ungelösten Ukrainefrage als besonders riskant.
Vor diesem Hintergrund erklärt sich, dass selbst die Institutionen der Troika, die USA und Mitgliedstaaten wie Frankreich und Italien auf partielle Zugeständnisse an Griechenland drängen. Zugeständnisse freilich in engen Grenzen: Ein gezielter Nachfrageschub, der die neoliberale Verfassung der Europäischen Union als Ganzes nicht gefährdet, soll für die nötige Stabilität des europäischen Kapitalismus sorgen.
Nach den Verhandlungen ist vor den Verhandlungen
Es ist nun an der gesellschaftlichen Linken in Europa, die nächsten vier Monate zu nutzen. Denn Anfang Juli läuft der griechische Brückenkredit aus und es ist völlig offen, ob und unter welchen Bedingungen es ein neues Programm für Griechenland geben wird. SYRIZA steht vor der Aufgabe, das humanitäre Notprogramm entschieden voranzutreiben. Darüber hinaus können wirkliche Brüche mit der alten Politik schon jetzt vollzogen werden, wo Maßnahmen ohne Belastung für den Staatshaushalt durchgesetzt werden können. Bereits in den ersten Wochen hat das linke Regierungsprojekt hierfür Beispiele gesetzt. So soll etwa allen in Griechenland geborenen Menschen, unabhängig von ihrer Hautfarbe und der Herkunft ihrer Eltern, die Staatsbürgerschaft verliehen werden. Ebenso hat das linke Regierungsprojekt mit der Schließung menschenunwürdiger Internierungs- und Abschiebelager begonnen.
Spätestens die Verhandlungen über das Brückenabkommen haben deutlich gemacht, dass sich Zugeständnisse nur erreichen lassen, wenn es eine glaubhafte Alternative zu einer Fortsetzung der Schuldenprogramme gibt. Die griechische Regierung sollte daher mit den Vorbereitungen zu einer Insolvenz des Staates und einer damit möglicherweise verbundenen Aufgabe des Euros beginnen. Nur wenn es diesen gut ausgearbeiteten Plan B gibt, lässt sich genug Druck entwickeln, um einen Schuldenschnitt zu erringen. Plan A muss jedoch sein, einen ersten wirklichen Bruch in der neoliberalen Verfassung der Europäischen Union zu erreichen.
Diese Vorbereitungen dürfen allerdings nicht hinter verschlossen Türen geschehen. Nur durch eine breite Debatte sowohl innerhalb der Partei SYRIZA, als auch mit in der Zivilgesellschaft und der Bevölkerung insgesamt, können die demokratischen Kräfte entwickelt werden, die es zu einer nachhaltigen Beendigung der Krise braucht. In einer solchen Debatte würde auch deutlich werden, dass der Austritt aus dem Euro – also eine Maßnahme in der Zirkulationssphäre – die Probleme der defizitären griechischen Produktionsstruktur langfristig nicht lösen kann. Eine wieder eingeführte, dann stark abgewertete Drachme würde die Importe von Gegenständen des Alltags und auf Euro notierte Kleinkredite stark verteuern. Die Gewalt der Finanzmärkte könnte sich dadurch noch unvermittelter auf die Politik und in den Alltag der Menschen übertragen. Aus den Kräfteverhältnissen des europäischen Kapitalismus kann man nicht einfach austreten. Das Ziel muss daher eine kontinentale Strategie ihrer Überwindung sein: ein europäischer Frühling gegen die Eliten des Neoliberalismus. Das kann nicht allein in Athen – oder, nach einem möglichen Wahlsieg von Podemos im Herbst – nicht allein in Athen und Madrid gelingen. Das linke Regierungsprojekt in Griechenland hat schon jetzt einen tiefen Riss im Dogma der Alternativlosigkeit hinterlassen. Es liegt allerdings an der gesellschaftlichen Linken in den europäischen Zentren der Macht, aus diesen Risse echte Brüche entstehen zu lassen.
Lukas Oberndorfer ist Wissenschafter in Wien und arbeitet vor allem zur Europäischen Krise und ihrer autoritären Bearbeitung. Er ist Redakteur von mosaik und blog.arbeit-wirtschaft.at. Du kannst ihm auf Twitter oder Facebook folgen.