MOSAIK-PODCAST #8 – GLOBALE REVOLTE? Koloniale Zusammenhänge!

Vergangene Woche endete ein Jahr des globalen Aufbegehrens. Protestbewegungen von Bagdad bis Santiago, Beirut bis Hong Kong und Quito bis Karthum fordern ungebrochen ihre Eliten heraus. Damit fügen sie der hegemonialen Ordnung nicht nur deutliche Risse zu, sie schaffen neuen Spielraum für radikale Umbrüche. Was es jetzt braucht, sind realistische Einschätzungen und politische Sensibilität für koloniale Zusammenhänge, argumentieren Klaudia Wieser und Tyma Kraitt.

Der Beitrag zum Anhören:

Von Macht und Ohnmacht der historischen Last

Protestierende in den Ländern des globalen Südens wissen nicht erst seit der versuchten Einführung von Whats App Gebühren und den Anhebungen von Benzin- und Lebensmittelpreisen, dass es Zeit ist sich zu organisieren. Zwar werden die Proteste zu einem wesentlichen Teil von der Jugend getragen, ihre Gesellschaften blicken jedoch meist auf eine lange Geschichte des Widerstands gegen Kolonialismus, Krieg und Diktatur zurück. Dieser Aspekt wird gerade durch die aktuellen Beispiele Chiles und Iraks verdeutlicht. Rund 14.000 Kilometer sind Santiago de Chile und Bagdad von einander entfernt und doch eint diese Städte historisch so viel mehr, als viele es annehmen wollen.

Während der Putsch gegen den chilenischen Sozialisten Salvador Allende 1973 die realpolitische Geburtsstunde des Neoliberalismus darstellte, leitete der Feldzug der sogenannten Neocons 2003 im Irak sein zähes Scheitern ein. In beiden Fällen blieben nach den Interventionen der USA (im ersten Fall verdeckt, im letzteren durch Krieg und Besatzung) desolate Staaten zurück, deren korrupte Eliten den großen Ausverkauf ihrer Länder betrieben und jeglichen Widerstand mit aller Gewalt im Keim erstickten. Das neoliberale Herrschaftsprojekt war stets auch ein neokoloniales. Wenig überraschend knüpfen die neuen Oppositionsbewegungen des globalen Südens häufig auf die eigenen anti-kolonialen Traditionen an. Deren Vermächtnis können wir gerade auch in den kreativen Formen des Protests deutlich erkennen.

Credit: Tyma Kraitt

Im November marschierten tausende mit Gitarren „bewaffnete“ Menschen in Santiago auf und stimmten eines der bekanntesten Widerstandslieder „El derecho de vivir en pas“ von Viktor Jara an. Die Forderung auf das Recht in Frieden zu leben kosteten dem Musiker und Kommunisten unter der Pinochet-Diktatur seine eigene Freiheit. Er wurde 1973 verhaftet und nach schwererer Folter hingerichtet. Sein Aktivismus gilt als Symbol gegen Staatsterror und gegen Ungerechtigkeit und Ausbeutung von Arbeiter_innen. Er wurde bis heute nicht vergessen.

Im Libanon hingegen fordern Demonstrant_innen Gerechtigkeit für 13 Studierende, die 1943 bei Protesten in Tripoli von der französischen Besatzungsmacht kaltblütig ermordet wurden. Ihre Namen prangten in roter Farbe auf einem symbolischen Grabstein, der bei den jüngsten Protesten durch die Straßen Beiruts getragen wurde.

Strukturelle Auswirkungen von anti-kolonialer Geschichte bestehen fort und geben Hoffnung, ob es den Machthabenden Recht ist oder nicht. Eines von vielen aktuellen Beispielen ist der Sudan. Die sudanesische Protestbewegung blickt historisch auf zwei erfolgreiche populäre Stürzte von Diktatoren zurück – im Jahre 1964 und 1985. Tränengas, Gummigeschosse und scharfe Munition können wenig gegen das kollektives Gedächtnis anrichten. Die Folgen des Aufbegehrens gegen Unterdrückung sind zwar nicht immer sofort spürbar. Ebenso ist das erlangte Selbstbewusstsein häufig fragil und nach den ersten politischen Niederlagen eingeknickt. Doch die Erfahrung des politischen Kampfes lässt sich nicht so einfach aus den Köpfen ausradieren.

Credit: OSPAAAL

Eben solch eine Entwicklung konnten wir auch in Ägypten beobachten, dass ein Jahrzehnt zwischen Revolution und Konterrevolution, zwischen großer Hoffnungen und bitterer Enttäuschungen hinter sich hat. Nach dem erfolgreichem Sturz der Mubarak-Diktatur im Jänner 2011 und zwei Jahren der politischen Experimente, freier Wahlen, der Gründung unabhängiger Gewerkschaftsbewegungen und viel interner Streitigkeiten im ehemaligen Widerstandslager, putschte sich das Militär geführt vom damaligen Oberst Abdelfattah al-Sisi an die Macht. Dieser regiert seither mit eiserner Faust. Das bezeugen 60.000 politische Gefangene. Ob Muslimbrüder, Atheist-innen, Homosexuelle oder Ultras – niemand ist vor dem ägyptischen Repressionsapparat sicher. Doch wer in der Diktatur al-Sisis das „Ende der Geschichte“ hineininterpretierte, hat sich getäuscht. Erstmals seit seiner Machtübernahme sah sich der ägyptische Potentat heuer mit Massenprotesten konfrontiert.

Credit: Adelita Husni-Bey

Revolutionäre Geduld und politische Experimente

Die Momente des Umbruchs basieren stets auf einem komplexen Zusammenspiel sozialer Kräfte. Sie sind selten längerfristig planbar und entstehen meist abrupt durch kollektive Erfahrungen des (Un)möglichen, worin sich eben auch ihre Kraft entzündet. Die klassisch leninistischer Formel, nach der es dann eine revolutionäre Situation gibt, „wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen“, fasst die Problematik an sich gut zusammen. Die da „unten“ sind allerdings nicht bloß über ihre Klassenzugehörigkeit zu definieren. Die Mobilisierung von Millionen Menschen in den verschiedenen Zentren der Revolten erfolgt über Klasse, Ethnizität und konfessionelle Zugehörigkeit hinweg. Sie sind getrieben vom Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung und Gerechtigkeit. Und was vielerorts neu ist: sie weisen keine zentrale Führung auf und widerstehen politischer Vereinnahmungen.

Als die irakische Regierung Vertreter_innen der Protestbewegung an den Verhandlungstisch bat, erhielt sie eine Namensliste von Märtyrern, von Aktivisten, die von den Sicherheitskräften ermordet wurden. Die Forderungen sind klar: Solange es keine Aufklärung der Hinrichtungen von Protestierenden gibt, wird nicht verhandelt. Gleichzeitig organisieren sich die Massen in ihren Städten. Unzählige neue Netzwerke und Räte sind entstanden. Sie sind nicht nur Ausdruck des Wunsches nach Veränderung, sondern auch nach politischer Partizipation. In diesen Strukturen wird demokratische Mitsprache teilweise schon gelebt. Sie stellen eine Art Experimentierkasten des politischen Fortschritts dar. Hier diskutieren Aktivist_innen ihre Strategien, einigen sich auf Forderungen und drängen die Eliten zu weiteren Zugeständnissen. Dabei erzielten sie bis jetzt unvorstellbare Erfolge wie z.B. der Rücktritt des irakischen Premierministers Adil Abdel Mahdi Anfang Dezember.

Globale Revolte der kleinen Schritte

Auch im kleinen Libanon musste der Ministerpräsident Saad Hariri nach zwei Wochen anhaltender Proteste zurücktreten. Im Sudan begann wiederum ein Teil des Militärs mit dem oppositionellen Zentralrat zusammen zu arbeiten und eine Übergangsregierung zu bilden. Der gestürzte Präsidenten Omar al Bashir steht nach 30-jähriger Alleinherrschaft vor Gericht. In Ecuador hat sich der Widerstand gegen Morenos Sparmaßnamen, den zum Großteil die indigene Bevölkerung vorantrieb, gegen Strukturanpassungsprogramme der Weltbank durchgesetzt. In Hong Kong gelang es Tausenden einen der wichtigsten internationalen Drehkreuze des Luftverkehres für mehr als zwei Tage lahm zu legen.

Das Zusammenspiel von Straße und kollektiver Organisationsform bedingt nicht immer radikale Umstürze. Es sind jedoch kleine Schritte, die weitergetragen werden müssen. Der Politikwissenschaftler und Ökonom Samir Amin betrachtet Revolutionen deshalb über Jahrhunderte hinweg. Für ihn war jede nur denkbare Ausdehnung revolutionärer Bedingungen ein Erfolg sowie die Arbeit innerhalb des Staatsapparates an Reformen ein Muss. Manchmal schaffen solche Reformen Raum zum Atmen und Denken, der in Zukunft ausgebaut wird und weitere Kämpfe unterstützt. Ohne kontinuierliche politische Mobilisierung sah jedoch selbst der Optimist Amin keine nachhaltigen revolutionären Umbrüche an Boden gewinnen.

Der Staat als Komplize und Vergewaltiger

Wesentliche Voraussetzungen für die globalen Revolten unserer Zeit ist die Krise des Staates unter neoliberalen Verhältnissen. Innerparteiliche Auseinandersetzungen und geschwächte Militärs sowie Institutionen erzeugen Risse, die das Aufbegehren gegen die Gewalt und Korruption lokaler Eliten sowie gegen imperiale Geschichtsschreibung für kurze Zeit ermöglichen. Die Kehrseite ist, dass ein schwacher Staatsapparat immer auf massive Repression und Gewaltanwendung setzt.

„Der Vergewaltiger bist du“ ist einer der bekanntesten Sprüche des feministischen Kollektivs Las Thesis, der weit über die chilenische Protestbewegung Verbreitung gefunden hat. Damit machen Demonstrant_innen nicht nur auf den patriarchalen Charakter des Staates aufmerksam, sondern auch auf die massiven Formen von Gewalt, die vor allem Frauen und weltweit Protestierende ausgesetzt sind.

Credit: https://gdb.voanews.com/464A5EC7-5DAA-4DEA-9B37-F583ADFC2A83_w1597_n_r1_st.jpg

Allein im Irak sprechen wir mittlerweile von über 400 ermordeten Demonstrant_innen. Die Dunkelziffer dürfte angesichts rund 20.000 Verletzter viel höher liegen. Vom Vergewaltiger zum Komplizen könnte ein anderer Slogan lauten. Revolutionäre Bedingungen unserer Zeit ermöglichen ein Aufdecken von Komplizenschaft lokaler Eliten mit imperialer und transnationaler Ausbeutung und Kriegsführung.

Wirklich fix zam?

Es ist einfach die vielen neuen Aufstandsbewegungen unter einem verstaubten Begriff wie „Weltrevolution“ zusammenzufassen. Daraus ergibt sich eine geeignete Projektionsfläche für uns im globalen Norden. Auf einmal können wir auch Teil einer Revolution sein und müssen dafür nicht einmal den Komfort unserer imperialen Lebensweisen aufgeben. Echte Solidarität sollte allerdings nicht in Revolutionsromantik verharren – auch wenn diese zweifellos eine schöne Sache ist. Viel eher sollten wir uns darüber Gedanken machen, wie verschiedene revolutionäre Momente in Beziehung zu setzen sind. Ob wir ihr Potenzial unterschätzen, oder gar überschätzen. Und am Wichtigsten: die Rolle unserer eigenen Staaten in der Ausbeutung des globalen Südens und der Unterstützung unzähliger verbrecherischer Regime zu hinterfragen und Gegenstand unseres eigenen Protests werden zu lassen.

Credit: Dokumentarfilm Weapon of Choice

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