Heute findet in Salzburg die Angelobung der schwarz-blauen Koalition statt. Was bedeutet das für Erinnerungs- und Gedenkinitiativen, die sich eine kritische Auseinandersetzung mit der österreichischen Vergangenheit zum Ziel gesetzt haben?
Im Juli findet unter dem Schwerpunktthema „Verblasste Spuren – Fluchtraum Gebirge“ wieder das Dialogforum Krimml und die Gedenkwanderung über den Krimmler Tauern statt. Der Verein für aktive Gedenk- und Erinnerungskultur Alpine Peace Crossing erinnert dabei an jene Jüdinnen und Juden, die 1947 über die österreichischen Alpen nach Italien flohen, um weiter in das damalige Mandatsgebiet Palästina zu gelangen. mosaik-Redakteur Hannes Grohs hat Vorstandsmitglied Robert Obermair im Salzburger Mirabellgarten getroffen und mit ihm über die Arbeit des Vereins, aktive Gedenkarbeit und aktuelle politische Entwicklungen gesprochen.
mosaik: Warum brauchen wir in Österreich noch 2023 einen Verein für aktive Gedenk- und Erinnerungskultur?
Robert Obermair: In Österreich gibt es viele Gedenkinitiativen und Erinnerungszeichen. Diese sind insbesondere seit den 1980er Jahren von engagierten Einzelpersonen und Gruppen erkämpft worden. Die politischen Kämpfe wandten sich gegen eine revisionistische Erinnerungskultur, die in der Nachkriegszeit vor allem von Kriegerdenkmälern dominiert war. Die Leistungen, die diese Initiativen erbracht haben und das ehrenamtliche Engagement, mit dem sich die Menschen bis heute dahinterklemmen, sind hoch einzuschätzen. Gleichzeitig haben wir aber den Befund, dass es sich hier mittlerweile oft um ein sehr ritualisiertes Gedenken nach Schema A bis Z handelt. Das ist absolut legitim. Wir glauben aber, dass es mehr braucht – insbesondere, um jüngere Generationen wieder für Gedenk- und Erinnerungsarbeit zu gewinnen.
Darum ist uns das Wort aktiv besonders wichtig. Es zeigt sich sowohl in unserer Gedenkfeier – der Wanderung, die wir sehr aktiv gestalten – aber auch, dass wir das, was wir tun, als aktivistisch begreifen. Vor diesem Hintergrund glauben wir, dass es in Österreich in der Gedenk- und Erinnerungskultur nach wie vor sehr viel zu tun gibt. Das betrifft sowohl die Erinnerung an viele vergessene Opfer und Widerständige, als auch eine Auseinandersetzung mit oft bis heute verschwiegenen Täterbiographien und Tatorten.
Apropos noch sehr viel zu tun: Was bedeuten schwarz-blaue Landesregierungen – neuerdings in Salzburg –, aktuelle Umfragewerte der FPÖ, aber auch Erfolge der KPÖ für eure Gedenkarbeit?
Tagespolitische linke Wahlerfolge oder -diskussionen beeinflussen unsere Arbeit bis jetzt nicht so sehr. Das Erstarken von Nationalismus, Ausländerhass, völkischem Gedankengut oder auch die erneute Salonfähigkeit von rechtsextremen Politiker*innen beobachten wir natürlich mit Sorge. Es betrifft uns insofern, als wir mit unserer Arbeit etwas in der Gesellschaft verändern möchten und dafür sorgen möchten, dass es eine kritische Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit in Österreich gibt und dass das auch etwas bewirkt im Heute.
Wenn wir dann ein Wahlergebnis wie in Salzburg haben, wo große Teile der Bevölkerung bereit sind, entsprechend zu wählen, ist das natürlich kein Erfolg für aktive antifaschistische Gedenk- und Erinnerungsarbeit. Gleichzeitig würde ich es auch als Ansporn sehen, uns gerade jetzt weiterhin nicht nur mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Sondern – wie in der Alpendistel – die Auseinandersetzung mit der belasteten Vergangenheit mit einer aktiven Auseinandersetzung mit der aktuellen Gesellschaft und der Frage, wie Menschen in Salzburg leben können oder auch nicht leben können, zu verknüpfen. Und das erscheint – auch wenn es phrasenhaft ist – in dieser Situation so wichtig wie schon lange nicht mehr. Insofern wird es unsere Arbeit durchaus betreffen, wie sich die Dinge hier in Salzburg und in Österreich in den nächsten Jahren entwickeln werden.
Den Verein Alpine Peace Crossing (APC) gibt es seit 2007. Was hat sich in den letzten 16 Jahren getan?
Die Geschichten von Gedenkinitiativen beginnen oft mit einzelnen Engagierten, die etwas ändern wollen. Im Fall von APC war das Ernst Löschner. Er ist beim Wandern in der Grenzregion zwischen Österreich und Italien auf die Geschichte jener tausender Juden und Jüdinnen gestoßen, die 1947 aus Österreich flohen. Es war eine Geschichte, die – wie so viele Geschichten von Opfern, Widerständigen und auch Tätern – in Österreich ‚vergessen‘ wurde. Ernst Löschner hat begonnen zu recherchieren, sich mit den Schicksalen auseinanderzusetzen und nach und nach gemeinsam mit anderen diese Erinnerungs- und Gedenkinitiative aufzubauen.
Vor mittlerweile vier Jahren hat es dann einen großen Wandel gegeben. Die Ursprungsgeneration der Vereinsgründer*innen, die mittlerweile alle um die 80 Jahre alt sind, haben gemerkt, sie schaffen es in der Form nicht mehr. Wir als sehr junges Team haben übernommen. Wir haben vieles beibehalten, aber auch vieles erneuert. Das zeigt sich insbesondere im Vereinsnamen, der seitdem den Zusatz „Verein für aktive Gedenk- und Erinnerungskultur“ trägt. Wir wollten damit über die alleinige Gedenkveranstaltung in Krimml hinausgehen und einen breiteren Blick auf Österreich und darüber hinaus einnehmen.
Ein Ergebnis dieses Wandels ist auch die bereits erwähnte „Alpendistel“, die seit 2020 ein Mal jährlich erscheint. Sie trägt den Untertitel „Magazin für antifaschistische Gedenkkultur“. Wie kam es zu dem Projekt und zur Benennung, die sich ja von der Vereinsbezeichnung unterscheidet?
Die Gründer*innengeneration hatte den Namen Alpine Peace Crossing entwickelt. Die Wahl fiel dezidiert auf einen englischen Namen – im Übrigen ein Unterschied zu vielen anderen Gedenkinitiativen in Österreich. Bei APC war von Beginn an das Bewusstsein und der Wunsch da, die Überlebenden und deren Nachfahren aus der ganzen Welt einzubinden und ihnen die Möglichkeit zu geben, an die Flucht und allgemein Antisemitismus in Mitteleuropa zu erinnern. Der Gründer*innengeneration war und ist der vermittelnde und verbindende Friedensgedanke sehr wichtig. Diesen Gedanken wollen wir in der aktuellen Vereinszusammensetzung aufrechterhalten. Gleichzeitig wollen wir den Fokus aber über diese lokale Erinnerung und das spezifische Ereignis in Krimml und den Krimmler Tauern hinaus lenken. In diesem Sinne ist uns eine breitere Gedenk- und Erinnerungsarbeit, aber auch -politik, ein Anliegen. Deswegen verstehen wir unsere Arbeit auch ganz klar als antifaschistisch.
Wir wollten für unser Magazin jedoch keinen klassischen Antifanamen, der letztlich austauschbar ist. Uns war es wichtig, einen Namen zu finden, der unseren spezifischen Zugang sowie den Fokus auf die Berge ausdrückt. Der Name Alpendistel irritiert erstmal. Manche würden darunter vielleicht eine biologische Zeitschrift oder eine Bergsteigerzeitschrift vermuten. Der Name bricht dadurch den klassischen Erwartungshorizont auf. Der Untertitel macht dann aber klar, worum es uns tatsächlich geht: nämlich antifaschistische Gedenkkultur über den Bergraum hinaus. Diese Kombination funktioniert für uns nach wie vor recht gut. Die Basis ist das Gedenken in Krimml, aber die Perspektive ist der breitere Blick und deswegen findet sich auch nichts von Krimml oder dem ursprünglichen Vereinsnamen in der Benennung der Zeitschrift.
Wie sieht dieser breitere Blick und die Praxis dahinter konkret aus?
Uns ist es nach wie vor wichtig, im Regionalen zu starten. Vieles, was wir über die Gedenkveranstaltung und Wanderung in Krimml hinaus machen, ist weiterhin auf Salzburg bezogen. Aber es soll auch darüber hinaus strahlen. Wie zum Beispiel unsere Auseinandersetzung mit rechtsextreme Kletterrouten, vor allem auch in Ostösterreich. Wir wollen neben der klassischen Gedenk- und Erinnerungsarbeit, auch aktiv politische Forderungen stellen und politisch in der Gedenk- und Erinnerungskultur intervenieren – Stichwort belastete Straßennamen. Hier ist es uns besonders wichtig, uns zu involvieren. Da sind wir auch nicht allein. Auch etablierte Akteure wie der KZ-Verband machen das natürlich. Aber wir sehen unsere Aufgabe darin, Perspektiven miteinander zu verknüpfen und gerade in Salzburg, wo vieles – trotz toller Einzelpersonen und Initiativen – seit Jahrzehnten verkrustet ist, frischen Wind reinzubringen. Wir wollen überregional dazu beitragen, dass etwas passiert.
Angenommen, das gelingt euch: Wie entwickelt sich die österreichische Gedenk- und Erinnerungskultur in den nächsten fünf Jahren und was gewinnt die politische Praxis im Hier und Heute daraus?
Dadurch, dass derzeit leider die letzten Zeitzeug*innen, die sich aktiv an das NS-Regime erinnern können, versterben, wird es zwangsweise einen großen Wandel geben, da die auf die aktive Teilnahme von Überlebenden fokussierenden Gedenkveranstaltungen in dieser Form nicht mehr stattfinden werden können. Wir glauben, dass der Schlüssel zu einer gelungen Gedenk- und Erinnerungskultur in der Zukunft daher der regionale beziehungsweise lokale Bezug sein wird. Idealerweise entstehen in den nächsten Jahren österreichweit neue Initiativen und Projekte, die unter Einbindung der örtlichen Bevölkerung eine intensive Auseinandersetzung mit der NS-Lokalgeschichte initiieren und gleichzeitig auch immer eine Brücke von der Vergangenheit ins Heute schlagen. Gerade wenn sich Menschen heute mit der Geschichte mutiger Widerständiger auseinandersetzen, zu der sie über eine örtliche Verbundenheit einen persönlichen Bezug herstellen können, hat das – so hoffen wir – auch einen Effekt auf ihr politisches Denken und Handeln im Hier und Heute.
Interview: Hannes Grohs
Foto: APC