Menschen ohne Staatsbürgerschaft sind oft von demokratischen Prozessen ausgeschlossen. Das Konzept der Urban Citizenship soll das ändern. Die Kunstkuratorin und Aktivistin Katharina Morawek sprach im Vorfeld der in Graz vom 29.-31. März stattfindenden Konferenz Demokratie. Konferenz für praktische Kritik mit Leo Kühberger über Urban Citizenship in der Schweiz und die Herausforderungen in Zürich.
Mosaik: Was bedeutet Urban Citizenship?
Katharina Morawek: In vielen demokratischen Gesellschaften lässt sich beobachten, dass der Zugang zu Rechten und Ressourcen ungleich verteilt ist. Immer mehr BewohnerInnen eines Landes haben die StaatsbürgerInnenschaft nicht und können von den damit verbundenen Rechten keinen Gebrauch machen. Das Konzept Urban Citizenship steht für die Ausweitung der rechtlichen, politischen, sozialen und kulturellen Teilhabegerechtigkeit aller Menschen, die in einer Stadt leben. Das kann neue Wege zu einer gerechteren Gestaltung der Gesellschaft aufzeigen. Der Begriff kommt aus der US-amerikanischen Soziologie, die Stadtforschung hat ihn später aufgegriffen.
Mittlerweile gibt es viele Spielarten, etwa das Modell der „Sanctuary City“, wo Menschen ohne gültigen Aufenthaltstitel ein Aufenthaltsrecht bekommen, indem sie durch eine lokale Identitätskarte zu Citizens (BürgerInnen) von New York werden. Das war eine Idee, die Grassroots-Bewegung lange gefordert haben. Schließlich hat sie Stadtregierung pragmatisch umgesetzt.
Ihr betont, dass es ein „massives Demokratiedefizit“ gibt, weil viele Menschen aufgrund fehlender oder „falscher“ Papiere das passive und aktive Wahlrecht vorenthalten wird und sie gar nicht die Möglichkeit haben, am politischen Prozess zu teilzuhaben. Wie viele Menschen betrifft das in den postmigrantischen Gesellschaften?
In der Schweiz betrifft das etwa ein Viertel der Bevölkerung, in Österreich sind es 15, in Deutschland zwölf Prozent. Der Anteil in den Städten ist noch wesentlich höher. In Zürich geht es um ein Drittel der Bevölkerung, denen faktisch keine demokratischen Rechte zukommen. Unter den 30- bis 39-Jährigen ist es rund die Hälfte. Und trotzdem ändert sich an der Lage nichts. 2013 stimmten 80 Prozent der Wahlberechtigten im Kanton Zürich gegen ein Stimmrecht für Nicht-StaatsbürgerInnen.
„Die ganze Welt in Zürich“ war eine sehr konkrete Initiative, die versucht hat dem entgegenzuwirken. Wie ist das Projekt entstanden und welche Akteur*innen haben sich dabei beteiligt?
Das war ein Kunstprojekt, das ich als künstlerische Leiterin der Shedhalle Zürich gemeinsam mit dem Künstler Martin Krenn ins Leben gerufen habe. Wir wollten das oben beschriebene Schweizer Demokratiedefizit in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellen. Das Kernstück des Projekts war eine Arbeitsgruppe, bestehend aus acht ExpertInnen aus Wissenschaft, Gewerkschaft, NGOs und politischem Aktivismus mit und ohne Migrations- und Fluchterfahrung. Später kamen auch politische EntscheidungsträgerInnen dazu. Die Arbeitsgruppe nahm verschiedene Aspekte von „Citizenship“ in den Fokus, so etwa „Aufenthaltsfreiheit“, „Diskriminierungsfreiheit“ und „Gestaltungsfreiheit/Teilhabe“. Mit der Zeit wurde der Kreis der Interessierten immer größer, weil wir bewusst an die Öffentlichkeit gingen. Mittlerweile haben sich aus dem Projekt mehrere tragfähige Initiativen in der Schweiz und anderswo entwickelt, die weiter am Thema der Urban Citizenship arbeiten.
Thema der Konferenz wird auch eine Kritik an den bestehenden Formen der Demokratie sein. Ist es ausreichend die bestehende Form der Demokratie durch die Beteiligung derer, die jetzt davon ausgeschlossen sind, zu demokratisieren oder braucht es ganz andere Formen der Demokratie?
Es geht nicht mehr um eine Minderheit, die von einer Mehrheit „integriert“ werden muss. Wir erleben einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel. Fast 40 Prozent der Bevölkerung haben einen sogenannten Migrationshintergrund, rund ein Drittel der Eheschließungen und eingetragenen Partnerschaften sind binational. Diese Zahlen sind allerdings nur Versuche, zu erfassen, was passiert. Sie versetzen uns nicht in die Lage, die Vielschichtigkeit, Widersprüche der Lebensrealitäten in Einwanderungsgesellschaften zu verstehen.
Zürich ist auf den ersten Blick eine sehr internationale Stadt. Während auf den Servern der Großbanken im Stadtzentrum täglich Milliarden Schweizer Franken ihre Besitzer wechseln und gut ausgebildete Expats in den Glasbetontürmen im Westen der Stadt arbeiten und wohnen, kümmern sich Portugiesinnen ohne gültigen Aufenthaltstitel um deren Kinder. Der Weg zu einem grundlegenden Verstehen der Realität einer Einwanderungsgesellschaft ist von einem Diskurs der Panik und von einer obsessiven Beschäftigung mit „Migration“ verstellt. Wir müssen daher den Fokus verschieben und eine andere Frage stellen, nämlich: Wie gestalten wir demokratische Teilhabe und soziale Gerechtigkeit im Zeitalter von Globalisierung und Migration? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir eines hinter uns lassen: die Vorstellung von „Wir“ und „Sie“.
Katharina Morawek war bis 2017 künstlerische Leiterin der Shedhalle Zürich, wo sie „Die ganze Welt in Zürich“, ein Projekt zu Urban Citizenship, realisierte. Sie ist Vorstandsmitglied bei INES – Institut Neue Schweiz, einem postmigrantischen Think und Act Tank, der sich für Demokratisierung in der Schweizer Einwanderungsgesellschaft Schweiz einsetzt.
Veranstaltungshinweis
Katharina Morawek wird neben sieben anderen Referent*innen Teil von Demokratie. Konferenz für praktische Kritik sein. Die zum zweiten Mal im Forum Stadtpark Graz, bei freiem Eintritt, stattfindende Konferenzreihe nimmt sich zum Ziel große politische Konzepte einer kritischen Reflexion aus verschiedenen Blickwinkeln zu unterziehen. 2019 beschäftigt sich die Konferenz mit der von Kämpfen und Widersprüchen gekennzeichneten Entstehung der bürgerlichen Demokratie und der Kritik an eben dieser. In sechs Vorträgen werden aktuelle und historische, radikal demokratische Ansätze und deren Potentiale für die Gegenwart diskutiert.