Ecuadors Staatszerfall: Die Hintergründe

Quito, Hauptstadt von Ecuador

Die Krise von Ecuador kann den Noch-Demokratien Mitteleuropas Lehrreiches vermitteln, findet Johannes M. Waldmüller. Eine Analyse.

Es ist der 19. Jänner und hellichter Tag, als Auftragskiller den Staatsanwalt César Suarez auf offener Straße in Guayaquil ermorden. Guayaquil ist eine wichtige Hafenstadt Ecuadors, aus der tonnenweisen Drogen verschifft werden. Suarez war mit der Aufklärung der Erstürmung einer der größten TV-Anstalten (TC Televisión) während einer Live-Sendung durch Narco-Drogenbanden wenige Tage zuvor beauftragt.

Die ausufernde Gewalt und Unsicherheit in Ecuador mit über 8000 Toten, allein im Jahr 2023, nimmt überhand. Sie übertrifft mittlerweile die Mordraten Venezuelas und Mexikos und betrifft auch Europa längst direkt. In den Niederlanden wurde im Zuge von Recherchen zu Drogenschmuggel in den großen Häfen des Landes 2021 der Aufdeckungsjournalist Peter de Vries erschossen; bis dato ein unaufgeklärter Fall. Auch Spanien erreichen seit einiger Zeit ungeahnte Mengen von Drogen via Schiffstransporten, dazu werden die Häfen am Balkan überschwemmt. Weniger bekannt ist die Investitionsmacht der Kartelle, die sich längst auch in legalem und illegalem Bergbau (insbesondere Gold), Plantagenwirtschaft, Hochseefischerei, Immobilien und zahlreichen anderen Wirtschaftssektoren breit machen.

Das Narrativ der „harten Hand“

Kurz nach seiner Wahl im Oktober 2023 hat der ecuadorianische Präsident, Daniel Noboa, jüngster seiner Zunft und Spross der wichtigsten Bananendynastie des Landes, den Kartellen den Krieg erklärt. Diese wurden dadurch auf die Stufe eines bellizistischen Gegners gestellt. Nunmehr hat die Armee im Land freie Hand und übernimmt zusehend die Agenden der ausgehungerten Polizei. In den sozialen Medien häufen sich Berichte, Fotos und Videos zu willkürlichen Vergehen (inkl. Folter und Verhaftungen) gegen die Ärmsten des Landes.

Noboas Vorgänger im Amt, Guillermo Lasso, ist Direktor der zweitgrößten Bank des dollarisierten Landes, Banco Guayaquil. Er hat nachweislich private Verbindungen zur albanischen Mafia, die sich im Land seit gut zehn Jahren breit gemacht hatte. Lasso scheint nicht nur prominent in den Paradise Papers mit nicht-deklariertem Vermögen in Panama und den USA auf, seine Bank schrieb ebenfalls über mehrere Jahre große Gewinne innerhalb des Bankensektors. Der zentrale Verdacht: Narco-Geldwäsche.

In den österreichischen und internationalen Medien überschlagen sich seit 2019 unfassbare Katastrophenmeldungen aus Ecuador. Etwa über grausame Massen-Hinrichtungen mit 413 Toten in den notorisch überfüllten ecuadorianischen Gefängnissen seit dem Jahre 2021, aber auch die Freilassung hochrangiger Krimineller. Straffreiheit und eine von der Kriminalität beeinflusste Justiz sind in Ecuador heute allgegenwärtig. Dazu kommt die Unterwanderung von Polizei und Armee. Das bezeugt eine bereits im Juli 2020 erfolgte, kaum verhohlene Erklärung des US-Botschafters im Lande in Bezug auf ecuadorianische Generäle, welche in Drogenkartellen aktiv wären. Er entzog ihnen infolge ihre US-Visa. Doch was war passiert und was wird bei dem gängigen medialen Narrativ des offiziellen Landes im „Kampf“ gegen die Kartelle übersehen?

Politische und ökonomische Hintergründe

Da wäre zum einen das schlimmste Erdbeben in der jüngeren Geschichte des Landes. 2016 verwüstete es die Küste der Provinzen Manabí und Esmeraldas weitgehend und nachhaltig. Beim gescheiterten Versuch des staatlichen Wiederaufbaus waren über drei Milliarden US-Dollar, darunter auch internationale Hilfsgelder, versickert. Bald darauf brachte der Einbruch des internationalen Tourismus während der Covid-Pandemie insbesondere die Küste zum wirtschaftlichen Erliegen. Die Pandemie traf Ecuador mit seinem kaputt gesparten und korrumpierten Gesundheitssektor besonders hart – die Bilder der Toten auf den Straßen gingen um die Welt. Dies war der Nährboden der Narco-Kartelle Kolumbiens und Mexikos. Sie rekrutierten die hoffnungs- und visionslose Jugend.

Gleichzeitig stiegen lokale Gangs in den Ring um die Nachfolge der größten Schmuggler des Landes. Diese waren im Zuge des Wiederaufbaus nach dem Erdbeben gefasst worden. Zusätzlich unterzeichneten Ecuador und die EU 2016 ein Freihandelsabkommen. Dieses öffnet den Markt seitdem schrittweise für europäische Landwirtschaftsprodukte und verzerrt damit den lokalen Markt. Mit anderen Worten: Immer mehr Landbevölkerung wurde und wird arbeitslos bzw. fand bei den Kartellen neue Verdienstmöglichkeiten.

Bereits unter den Vorgängerpräsidenten Moreno und Lasso wurde weiters ein intransparentes Freihandelsabkommen mit China ausgehandelt, welches der Zivilbevölkerung nie vollständig publik gemacht wurde. Unter Noboa kam dieses Abkommen vor Weihnachten zur Abstimmung ins erst kürzlich neuformierte ecuadorianische Parlament. Was bekannt wurde, sind jene Passagen, die darauf abzielen, dass China in Zukunft Müll nach Ecuador exportieren und dort ablagern darf. In einem Land, in dem es bis heute so gut wie keine Kläranlagen oder systematisches Müllrecycling gibt. Gleichzeitig sollen die Exporte von Palmöl, Garnelen (dem heute wichtigsten Wirtschaftszweig des Landes) und anderen Primärgütern weiter verstärkt werden. Also insbesondere von jenen Wirtschaftssektoren, in welche auch die Kartelle investieren.

Öffnung gegenüber den USA

Zum anderen hat sich das Land dem US-Militär geöffnet. So wurde bereits 2019 auf den Galapagos-Inseln, entgegen des UNESCO-Status der Inseln, ein Militärlandeplatz für US-Überwachungsflüge eingerichtet. Das geschah als Antwort auf die Aufstände der indigenen Zivilbevölkerung gegen die Sparpakete der Regierung, die zuvor bereits blutig niedergeschlagen wurden. Zur Erinnerung: im Jahr 2019, als die Pandemieopfer auf den Straßen verstarben, hatte Ecuadors rechte Regierung über 3,5 Milliarden Dollar Kreditzinsen – so viel wie das gesamte Gesundheitsbudgets des Landes für etwa ein Jahr – an den Internationalen Währungsfonds zurück überwiesen.   

Doch damit nicht genug: Ebenso wurde 2023 unter Lasso ein für die Region einzigartig vertiefendes „Freundschaftsabkommen“ mit den USA unterzeichnet. Dieses sichert US-Agenten im vermeintlichen Kampf gegen die Kartelle Straf- und Importfreiheit ihrer Waffen, Autos und Gerätschaften zu. Wie so oft sind auch in Ecuador nun zusätzlich zu militärischen Interessen auch die Entwicklungsagenturen USAID und Plan International wieder im Lande aktiv. Auch Europa ist mit seiner Global Gateway-Initiative angekommen. Ecuador verlässt damit seine gutgepflegte neutrale Position des letzten Jahrzehnts in der internationalen Politik. Gemäß durchgesickerter Audio-Aufzeichnungen des Präsidenten Noboa von Anfang 2024 soll nun auch militärisches Material russischer Herkunft an die USA übergeben und in der Ukraine zur Anwendung gebracht werden; im Gegenzug zu präferenziellem Zugang zu weiteren Währungsfonds-Krediten, nebst Kriegsgerät im Wert von 200 Millionen Dollar.

Ein neues Modell als Antwort auf nördliche Interessen

Wir sehen also in Ecuador als Antwort auf die Konflikte um fossile oder „grüne“ Entwicklungsmodelle des globalen Nordens das Erstarken eines feudal-korporatistischen Modells auf Basis militärischer Macht, gestützt durch die Interessen des Auslands, welches Krieg gegen die Bevölkerung und die eigene Verfassung führt. Finanziert werden soll dieser Krieg durch die angekündigte Anhebung der Mehrwertsteuer um drei Prozent (von 12 Prozent auf 15 Prozent). Dieses Modell, dessen Kehrseite die illegalen Ökonomien der Massenverarmung darstellen, breitet sich immer weiter im globalen Süden aus.  Durch seine internationalen Verflechtungen begrenzt es sich schon lange nicht mehr nur auf Mittel- und Südamerika.

Auch die EU hat es bislang nicht weiter als relevant empfunden, das Freihandelsabkommen auszusetzen oder Sanktionen anzudrohen. Dabei enthält das Abkommen mehr als rein wirtschaftliche Komponenten. So ist Ecuador etwa auch mit dem europäischen Forschungs- und Innovationsrahmenprogramm Horizon Europe assoziiert. Die bisher einzige Sanktion betraf die „gelbe Karte“ für die Thunfischfangflotte, also die Eindämmung des Hai-Beifangs und von Exporten. Letztlich wenig mehr als eine Maßnahme zur Gewissensberuhigung der europäischen Konsument:innen.

Am Beispiel Ecuadors sehen wir, was in Gesellschaften mit anhaltender politischer Polarisierung zwischen Rechts und Links, straffreier Korruption und Gewalt, sowie populistischer Politik auf dem Rücken der Schwachen geschehen kann, wenn diese Bedingungen anhalten und durch äußere Schocks (Pandemie, Katastrophen, ausländische Interessen) verstärkt werden. In der Hinsicht kann Ecuadors Zerfall den Noch-Demokratien Mitteleuropas Lehrreiches vermitteln.

Johannes M. Waldmüller ist Assistenzprofessor und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsverbunds Lateinamerika der Universität Wien. Klimawandelberater für Brot für die Welt/Diakonie-ACT Österreich. Zwischen 2010 und 2021 in Ecuador, Professur für Internationale und Umweltpolitik an der Universidad de Las Américas (UDLA), Quito, Gastprofessuren an FLACSO Ecuador und ULEAM Manabí, seit 2017 aufrechtes Mitglied der Doktoratskommission der Fakultät für Managementstudien, Nationale Polytechnische Universität, Ecuador.

Foto: Mauricio Munoz

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