Ecuador: „Wir weigern uns, in Angst zu leben“

Yasuni, Amazonas in Ecuador

Ecuador zwischen Gewaltwellen, Präsidentschaftswahlen und dem Schutz des Amazonas-Regenwaldes.

Am Abend des 9. August um 18.20 Uhr wurde der ecuadorianische Präsidentschaftskandidat Fernando Villavicencio nach einer Wahlkampfveranstaltung in Quito durch mehrere Schüsse getötet. Es handelt sich um den jüngsten Vorfall einer Serie von Gewalt in dem südamerikanischen Land. Der noch amtierende rechts-konservative Präsident Guillermo Lasso erließ am Abend des Mordanschlags zwei Dekrete: drei Tage Staatstrauer und die Verhängung des Ausnahmezustands in ganz Ecuador für 60 Tage.

Die anstehenden Präsidentschaftswahlen haben jedoch wie geplant am 20. August 2023 stattgefunden. Dabei gewann in diesem ersten Wahldurchgang, wie die Umfragen voraussagten, die dem Ex-Präsidenten Rafael Correa nahestehende Kandidatin Luisa González mit über 33 Prozent der Stimmen. Für eine Überraschung sorgte der zweitplatzierte Kandidat Daniel Noboa, Sohn des bekanntesten Unternehmers des Bananensektors und mehrmaligen Präsidentschaftskandidaten Álvaro Noboa. Ihm wurde ein Wahlergebnis im einstelligen Bereich vorausgesagt, nun kam er auf über 23 Prozent der Stimmen. Am 15. Oktober wird Ecuador in der Stichwahl zwischen diesen beiden Optionen entscheiden.

Neben den Präsidentschaftswahlen fanden am Sonntag außerdem zwei historische Volksabstimmungen rund um die Rohstoffausbeutung in zwei Naturschutzgebieten statt: dem Amazonas-Gebiet Yasuní und dem nordwestlich von Quito liegendem Chocó Andino. Überschattet von der Ermordung von Fernando Villavicencio und der Eskalation der Gewalt, spiegeln die aktuellen Vorkommnisse die sozial, politisch, wirtschaftlich und ökologisch angespannte Situation in Ecuador wider.

Die Entwicklung der Gewalt

Schon seit der vorangegangenen Regierung von Lenin Moreno (2017-2021) verschärfte sich die Sicherheitslage in Ecuador dramatisch, nun spitzte sie sich noch mehr zu. In den überfüllten Gefängnissen starben bei Massakern in den letzten zwei Jahren über 400 Menschen. Bombendrohungen, Attentate gegen Polizeistationen und Ermordungen auf offener Straße füllen regelmäßig die Nachrichten. Diese neuen Dimensionen der Gewalt stehen in Zusammenhang mit der Rolle Ecuadors als Transitland für Drogen aus Kolumbien. Besonders die Küstenregion mit wichtigen Häfen und internationaler Anbindung ist zentral. Von hier aus werden die Drogen nach Nordamerika und Europa werden. Verschiedene Gruppen des organisierten Verbrechens rivalisieren (zu den bekanntesten zählen „Los Lobos“ und die „Choneros“). Diese wiederum stehen in direkter Verbindung zu internationalen Strukturen des organisierten Verbrechens. Außerdem bestehen enge Verstrickungen mit Polizei, Militär sowie politischen und wirtschaftlichen Eliten, beispielsweise im Exportsektor.

Die Antwort der Regierung von Lasso auf die Gewaltwelle war eine Lockerung der Waffengesetze. Bürger*innen dürfen nun Waffen tragen, bewaffnete private Sicherheitskräfte sollen die Polizei unterstützen. Die Morde nahmen indes weiter zu, allein in den letzten Monaten wurden bekannte indigene Umweltschützer, Politiker und Anwälte getötet. Die aktuelle Mordrate ist die höchste in der Geschichte des Landes. Im Rahmen der Gewaltwelle nehmen auch Femizide stark zu. In einigen Fällen deckte die Polizei die Mörder.  

Vor allem jüngere Menschen versuchen jedoch gegen die Einschüchterung vorzugehen. Sie nehmen aktiv am gesellschaftlichen Leben außerhalb der eigenen vier Wände teil und „weigern sich in Angst zu leben“, so die in Quito lebende politische Künstlerin Sozapato.

Die Neuwahlen

Nachdem Präsident Lasso am 17. Mai dieses Jahres das Parlament auflöste und somit auch seiner eigenen Regierung ein Ende setzte, fanden vergangenes Wochenende Wahlen statt. Lasso machte diesen Schritt, um einem Amtsenthebungsverfahren zuvorzukommen, nachdem es Beweise für die Unterschlagung von Geldern gab. In den letzten drei Monaten konnte Lasso noch per Dekret regieren, er kandidierte jedoch nicht nochmals als Präsident. Generell steht der ehemalige Bankier aus Guayaquil für die Fortsetzung des neoliberalen Kurses seines Vorgängers Lenin Moreno. Spätestens seit der Covid-Pandemie befindet sich Ecuador in einer tiefen Wirtschaftskrise mit hoher Arbeitslosigkeit. Die Bekämpfung erfolgte mit neoliberalen Maßnahmen. Darunter die Flexibilisierung von Arbeitsrechten, der Abbau der Sozialleistungen, die Ausweitung von extraktiven Projekten, wie Bergbau, die zunehmend stärkeren Bewaffnung und mehr Präsenz von Militär und Polizei in den Straßen. Armut, Arbeitslosigkeit, Ungleichheit, Korruption und die massive Umweltzerstörung verschärften sich damit allerdings zusätzlich.

Wegweisende Volksabstimmungen

Ecuadors Wirtschaft ist abhängig vom Export von Rohstoffen in den globalen Norden. Allen voran Erdöl, Garnelen aus Zuchtbecken und Bananen und zunehmend nun auch Erze und seltene Erden. Für den Tag der Präsidentschaftswahlen waren zwei Volksabstimmungen zur Zukunft von zwei bedeutenden Naturschutzgebieten angesetzt. Die Bevölkerung des Distrikts Quito wurde befragt, ob der Bergbau im Chocó Andino, nahe der Hauptstadt Quito, verboten wird und die gesamte wahlberechtigte Bevölkerung Ecuadors durfte darüber entscheiden, ob Erdöl aus einem Teil des Yasuní-Gebiets im Amazonas-Regenwald gefördert oder im Boden belassen werden soll. Dass bei beiden Abstimmungen das „Ja“ zum Umweltschutz und zum Ende der Rohstoffausbeutung in diesen sensiblen Zonen gewonnen hat, ist angesichts von Klimakatastrophe, Biodiversitätsverlust und der Zerstörung des Lebensraums indigener Gruppen sowohl für Ecuador als auch auf globaler Ebene ein wegweisendes Ergebnis.

Aufgeladen sind die Themen jedoch auch dadurch, dass der Staat die Rohstoffförderung oftmals subventioniert und nationale Eliten hier besondere Interessen hegen. Die Regierung argumentierte, dass die Ausbeutung der Rohstoffe notwendig für die Entwicklung des Landes sei. Dabei werden weder die hohen Subventionen einberechnet noch die Tatsache, dass die Gewinne großteils an einzelne internationale und nationale Unternehmen gehen und nicht an die ecuadorianische Bevölkerung. Hinzu kommt, dass Projekte zur Rohstoffextraktion oftmals in Netze der Korruption verwoben oder gar in kriminelle Strukturen verwickelt sind und mit Gewaltanwendung gegen lokale Bevölkerungsgruppen in Verbindung gebracht werden. Der ermordete Villavicencio hatte eine Untersuchung von Beamten des Ölsektors der letzten drei Regierungen gefordert. Als Journalist setzte er sich vor seiner Kandidatur bekanntermaßen für die Korruptionsbekämpfung ein und etablierte sich dementsprechend als Anti-Korruptionskandidat.

Unterschiedliche Positionen in der Stichwahl

Die beiden in die Stichwahl eingegangenen Kandidat*innen vertreten unterschiedliche Positionen in Bezug auf die Volksabstimmungen. Luisa González hat sich in der Vergangenheit gegen den Schutz des Yasuní ausgesprochen. Sie argumentiert dies mit der Notwendigkeit der Rohstoffausbeutung für die wirtschaftliche Entwicklung Ecuadors. Damit bleibt sie der Linie ihres Parteikollegen Rafael Correa treu. Daniel Noboa hingegen positionierte sich für den Schutz der Gebiete. Allerdings ebenfalls aus wirtschaftlichen Gründen, mit dem Verweis auf die geringe Rentabilität der Erdölförderung aus dem Yasuní. Generell beinhaltet sein Regierungsprogramm den Plan einer Ausweitung der Erdölförderung auf nationaler Ebene.

Diesen Positionen stehen nun die Abstimmungsergebnisse gegenüber, in denen sich die Bevölkerung eindeutig für den Schutz des Yasuní und des Chocó Andino ausgesprochen hat. Nun werden politische, ökonomische und juristische Aushandlungen darüber folgen, wie mit dem Abstimmungsergebnis umgegangen wird. Viele offene Fragen müssen in diesem Zusammenhang geklärt werden. Beispielsweise, ob bereits erteilte Konzessionen zur Erzförderung im Chocó Andino zurückgenommen werden müssen. Darüber hinaus muss mit der Rolle von ausländischen Unternehmen, Krediten und internationalen Handelsverträgen umgegangen werden.

Die Rolle des Correísmo

Ambivalent ist in diesem Zusammenhang auch die Einschätzung bezüglich der möglichen Rückkehr des Correísmo, also der progressiven politischen Linie des Ex-Präsidenten Rafael Correa. Die Umverteilungspolitik dieser Regierung verhalf zwischen 2007 und 2017 einem großen Bevölkerungsanteil zum Aufstieg in die Mittelschicht. Gleichzeitig wurde aber die massive Naturausbeutung für den Export ausgebaut und intensiviert. Ebenso wurden andere Infrastruktur-Megaprojekte des Correísmo wie eine geplante Raffinerie und Wasserkraftwerke durch Korruptionsskandale bekannt. Correa selbst wurde in Ecuador wegen Teilhabe an Korruptionsnetzwerken zu acht Jahren Haft verurteilt. Um der Festnahme zu entgehen lebt er seither in Belgien im Exil. Seine politische Bewegung findet aber weiterhin breite Unterstützung in der Bevölkerung, wie auch der Wahlerfolg der Präsidentschaftskandidatin des Correísmo, Luisa González, am letzten Sonntag zeigt.

Ecuadors Aussichten

Zur Lösung des komplexen Gewaltproblems können nur strukturelle Veränderungen beitragen, die allerdings ihre Zeit brauchen. In Anbetracht der Tatsache, dass Sicherheitssektor, Banden und Kartelle, paramilitärische Gruppen und politische und ökonomische Eliten miteinander verstrickt sind, werden mehr Waffen und eine zunehmende Militarisierung keine Lösung bringen. Ecuador benötigt dringend eine De-Eskalation der Situation, damit Frieden für alle im Land aufgebaut und die Angst wieder aus dem täglichen Leben der Menschen verschwinden kann. In Bezug auf den weltweit historischen Sieg des Naturschutzes und Schutzes indigener Gruppen („Sí al Yasuní“, „Sí al Chocó Andino“) eröffnet sich die Möglichkeit, konkrete Alternativen zur Rohstoffausbeutung auszuarbeiten. Das könnte ein entscheidender Schritt für Ecuador werden, um sich von der Rolle als Rohstofflieferant und entsprechenden Abhängigkeiten zu lösen.

Foto: CTFS

Autoren

  • Valerie Lenikus

    Valerie Lenikus ist Doktorandin am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien und forscht zu (Agrar-)Extraktivismus und sozial-ökologischen Konflikten in Ecuador und in Bolivien. Sie ist Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und arbeitet in einem Team-Projekt zum Thema der sozial-ökologischen Krise in der Anden-Amazonas-Region.

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  • Tamara Artacker

    Tamara Artacker ist Doktorandin am Institut für Soziale Ökologie an der Universität für Bodenkultur und forscht zu Landnutzungsänderungen, Agrobusiness und kleinbäuerlicher Landwirtschaft in Ecuador. Sie ist Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und arbeitet in einem Team-Projekt zum Thema der sozial-ökologischen Krise in der Anden-Amazonas-Region.

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