Walesa in Graz: Totalausfall kritischer Reflexion

Am 8. Mai 2015 jährt sich die Befreiung vom Nationalsozialismus zum 70. Mal. In ganz Österreich finden zu diesem Anlass Gedenkveranstaltungen statt. Nicht immer sind diese auch gelungen, wie die Stadt Graz am kommenden 7. Mai unter Beweis stellt. Von Bürgermeister Siegfried Nagl (ÖVP) zur Sondergemeinderatssitzung eingeladen wurde der polnische Politiker und Friedensnobelpreisträger Lech Wałęsa*.

Schon rechnerisch ist Wałęsa eine seltsame Wahl, war er doch zur Zeit der Befreiung vom Nationalsozialismus noch keine zwei Jahre alt. Auch sonst ist er nicht für ein ausgeprägtes antifaschistisches Engagement bekannt. Wałęsas historische Mission war laut bescheidener Selbstauskunft eine andere: „Ich wurde auserkoren, den Kommunismus zu zerschlagen“. Was aber hat das mit dem Tag der Befreiung zu tun?

Die Befreiung, die wir meinen

Dem offiziellen Sitzungsablauf zufolge wird sich Lech Wałęsa „mit einer Botschaft an die Jugend in Europa“ wenden. Zur Befreiung vom Nationalsozialismus kann er der Jugend wenig erzählen. Wohl aber zur Befreiung von einem anderen Regime, für dessen „Zerschlagung“ er berühmt geworden ist. Es ist zu befürchten, dass bei dieser Sitzung erbärmlicher Geschichtsrevisionismus betrieben wird: Anlässlich des Tages der Befreiung stellt die Stadt Graz den Kampf gegen den Nationalsozialismus und den Kampf gegen den Stalinismus symbolisch auf eine Stufe und vergleicht damit implizit die Sowjetunion mit dem Nazi-Regime.
Das ist besonders infam an einem Gedenktag, der mit der Dankbarkeit gegenüber den Alliierten auch die Dankbarkeit gegenüber den Befreier_innen der Roten Armee einschließen muss. Gerade in Österreich wird so das Nazi-Regime verharmlost und der Kampf dagegen als einer von vielen Befreiungskämpfen abgetan.

Alle gegen Russland

Dabei hat Österreich eine besondere historische Verantwortung, das Gedenken an die Befreiung nicht zur geopolitischen Spielmünze verkommen zu lassen. Das geschieht heuer unter dem Eindruck des Ukraine-Konflikts leider nicht das erste Mal: Geht es etwa nach dem polnischen Außenminister, haben nicht Rotarmist_innen unterschiedlicher Nationalitäten Auschwitz befreit, sondern schlichtweg „Ukrainer“. 70 Jahre nach der Befreiung wird der russische Beitrag aus machtpolitischem Interesse systematisch kleingeredet. Dieser Politik des Vergessens bietet man in Person von Wałęsa nun leider auch in Graz eine Bühne, zu allem Überfluss verkleidet als Gedenkveranstaltung.

Der Putin des Westens

Wałęsa gilt allgemein als Vorkämpfer des „freien Westens“ und seiner Werte, ein Image, das er nach Kräften pflegt und das ihm auch den Auftritt in Graz verschafft haben dürfte. Damals wie heute verteidigt er diese Werte vor allem gegen Russland. So wurde etwa der Lech Wałęsa Award seiner Stiftung 2014 an die Euromaidan-Bewegung vergeben; namentlich genannt wurde dabei auch Oleh Tjahnybok, Vorsitzender der rechtsextremen Swoboda-Partei.
Dabei ist die Unterstützung Rechtsextremer nicht die einzige Gemeinsamkeit von Putin und Wałęsa: So ist Wałęsa 2013 mit der Forderung aufgefallen, dass homosexuelle Abgeordnete im polnischen Parlament “nahe der Mauer oder hinter der Mauer” sitzen sollen und offenbart so ein zweifelhaftes Demokratieverständnis, in welchem Minderheitenschutz keine Rolle spielt. Neben seiner rabiaten Homophobie ist er außerdem verantwortlich für eines der schärfsten Abtreibungsgesetze Europas. Nicht zuletzt pflegte Wałęsa gute Kontakte zum „Solidarność-Priester“ Henryk Jankowski, der 1995 während einer Predigt, an der auch Wałęsa teilnahm, polnische Regierungsmitglieder dazu aufforderte, „offen zu bekennen, ob sie aus Moskau oder Israel” kämen. Eine Haltung, die an die dunkelsten Zeiten antisemitischer Repression im sowjetischen Polen erinnert und von der sich Wałęsa erst auf internationalen Druck hin halbherzig distanziert hatte.

Gut angelegtes Geld?

Es handelt sich bei der Einladung Wałęsas auf ganzer Linie um einen Totalausfall kritischer Reflexion. Mit dieser Veranstaltung besudelt die ÖVP das Gedenken an die Befreiung. Die 25.000 Euro schwere Spende an Wałęsas Stiftung hätte die selbsternannte Menschenrechtsstadt besser sinnvoll investiert, beispielsweise in Programme gegen Homophobie oder zur Unterstützung von Abtreibungsbefürworter_innen in Polen. Fest steht: Wenn sich das Gedenken an die Befreiung vom Nationalsozialismus zwar zu einem „Thank you” und „Merci”, nicht aber zu einem kompromisslosen „Spasibo” durchringen kann, dann ist es nicht viel wert.

*Das ist die korrekte Schreibweise, leider hat unsere Schriftart in der Überschrift nicht alle Buchstaben auf Lager. Wir entschuldigen uns dafür. 

Marcel Andreu ist politischer Geschäftsführer der Jungen Grünen. Er studiert Informatik und Philosophie an der Uni Wien.

Autor

 
Nach oben scrollen