Sei es nun das gekippte Adoptionsverbot für gleichgeschlechtliche Partner_innen oder die erlaubte Beschlagnahme von Glücksspielgeräten: Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) werden stets mit Spannung erwartet, vor allem wenn sie gesellschaftspolitische Relevanz aufweisen. Doch wie verhält es sich zur Demokratie, wenn der VfGH anstelle des Parlaments Wertungs- und Richtungsentscheidungen trifft?
Von seiner Entstehung im Jahr 1919 an, fungierte der Verfassungsgerichtshof (VfGH) als Mittler und Schiedsrichter zwischen Rot und Schwarz. Besonders in der Zweiten Republik kam ihm eine Rolle zu, die sich durchaus „als spezifische Ausgliederung“ strittiger Fragen (so meint Demokratieforscher Manfried Welan) deuten lässt. Wie die Leitungsebenen etwa der verstaatlichten Industrie wurde auch der VfGH (bis 1973 weitestgehend und von da an exakt) paritätisch zwischen SPÖ und ÖVP verteilt, sodass man darauf vertrauen konnte, dass eine für beide Seiten akzeptable Lösung gefunden würde.
Die Konfliktauslagerung an den VfGH führte dazu, dass es aus parteipolitischer Sicht über die Maßen wichtig wurde, wer dort Recht spricht. Gerade weil das politische Moment der Verfassungsgerichtsbarkeit erkannt wurde, versuchten die beiden Großparteien ihren Einfluss am VfGH sicherzustellen. Die VfGH-Richter_innenbestellung war und ist stets ein Politikum.
Bis heute werden vor allem weltanschauliche Streitpunkte gerne an den VfGH ausgelagert, wie zum Beispiel jüngst die Entscheidung über das Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Partner_innen. Der VfGH agiert dann als Pufferzone zwischen SPÖ und ÖVP und stabilisiert deren Koalition. Beide Parteien schieben ideologische Grundsatzfragen gerne vor sich her und nach Möglichkeit dem VfGH zu. Entweder indem sie einen Anlassfall abwarten oder die Entscheidung durch unklare (oder ungenaue) Gesetzgebung indirekt an den VfGH delegieren. Der Rechtswissenschafter Bernd-Christian Funk spricht in diesem Zusammenhang von „vorsatznahen legistischen Unfällen“.
Vergerichtlichung sozialer Konflikte
Dieser Umgang mit dem VfGH als Ausgliederungsort strittiger Fragen bereitete historisch gesehen zwar der Aussöhnung nach 1945 zwischen den ehemals verfeindeten Lagern den Boden. Er stellt aber auch einen spezifischen und nun nicht mehr zeitgemäßen Umgang mit sozialen Konflikten dar. Aufgrund der Scheu vor ihrer öffentlichen Austragung wurden weltanschauliche Streitpunkte in der Zweiten Republik einer Vergerichtlichung zugeführt, um sozialen Frieden zu gewährleisten. Doch dieser Friede hatte einen demokratischen Preis: Die österreichische Besonderheit des Proporz- und Kompromissdenkens führte zu einem repressiven Krisenmanagement, das bis heute jede Diskussion als Streit wertet und jeglichen Wunsch nach demokratischer Mitsprache als staatsgefährdendes Aufbegehren ansehen muss – sowohl bei SPÖ als auch bei ÖVP.
Angesichts der steten Verrechtlichung und Zunahme von Normen ist diese in Kauf genommene Justizialisierung demokratiepolitisch mittlerweile höchst bedenklich. Da sich SPÖ und ÖVP angesichts stetig sinkenden Zuspruchs bei Wahlen und Meinungsumfragen weltanschaulich kaum mehr bekennen (wollen), überlassen sie gerade diese Fragen dem VfGH, der dann eine ideologische Wertentscheidung in das Gewand des Rechts kleiden muss. Es gibt aber kein unpolitisches Recht und somit auch keinen unpolitischen Richter_innenspruch gibt, schon gar nicht bei Grundrechtsfragen. Deshalb entscheiden VfGH-Richter_innen in solchen Fällen einen Wertestreit. Mittlerweile stützt sich der VfGH gerade in seiner grundrechtlichen Spruchpraxis auch nicht mehr bloß auf den Verfassungstext (v.a. das Staatsgrundgesetz) sondern immer öfter auf die eigene Vorjudikatur (vorhergegangene Urteile) – die dadurch zur faktischen Rechtsquelle wird.
Ende der Politik?
Das Wesen der Demokratie bleibt auf der Strecke, weil Grundrechtsentscheidungen einem nicht öffentlich beratenden Gremium überantwortet sind, das nach außen hin zudem mit einer Stimme spricht. Durch (den Anschein von) Einstimmigkeit soll so die Richtigkeit der Entscheidung zum Ausdruck gebracht werden. Die Politikwissenschafterin Chantal Mouffe spricht in diesem Zusammenhang bereits vom „Ende der Politik“, weil wir nicht mehr „in den Begrifflichkeiten von ‚rechts’ und ‚links’ denken, sondern von ‚richtig’ und ‚falsch’“. Der VfGH hat „das Richtige“ zu erkennen, wo Parteienvertreter_innen keinen Kompromiss mehr finden (wollen). Parlamentarische oder gar öffentliche Debatten kommen bei weltanschaulich heiklen Fragen zu kurz. Gesellschaftlichen Wandel nachzuvollziehen oder gar einzuleiten, ist dann immer weniger Sache von Parlament und Regierung, sondern von den „Modernisierern im Talar“.
Der VfGH diente aber nicht nur zwischen den beiden Großparteien als Pufferzone, sondern angesichts der seit den 1980ern und 1990ern erstarkenden parlamentarischen Minderheiten instrumentalisierten ihn SPÖ und ÖVP auch als Abgrenzung gegenüber den Oppositionsparteien. Wollten die kleineren Parteien ein Thema auf die Agenda setzen, das der großen Koalition unlieb war, drohte diese oft mit dem VfGH, verbarg ihre politische Meinung also hinter dem Mantel des Rechts – und wähnte sich sicher, dass der (ja von ihnen beiden besetzte) VfGH in ihrem Sinne urteilen würde. Der mit ihren Vertrauenspersonen besetzte VfGH diente als (rechts-)politische „Vogelscheuche“ (Manfried Welan), um politische Gegner_innen zu entmutigen und abzuschrecken.
Besonders im Bereich der Grundrechte ist der VfGH heute aktiver denn je; durch die ihm übertragenen und von ihm in Anspruch genommenen Gestaltungsbefugnisse ist er damit auch ein politisches Organ. Vor allem bei weltanschaulich kontroversen und politisch weitreichenden Urteilen sollte unsere Diskussion deshalb über das konkret in Frage stehende Urteil hinausgehen und grundsätzlicher sein: Was wollen wir demokratisch (im Parlament) entscheiden? Was nehmen wir als rechtliche Notwendigkeit hin? Ist Recht nicht bloß in Gesetzesform gegossene Politik und damit veränderbar? Steckt nicht hinter jedem Gesetz und damit auch hinter jedem Urteil im Grunde eine politische Entscheidung? Und, sofern wir nicht die Institution eines Verfassungsgerichts per se in Frage stellen: Sollten wir über andere, demokratischere, transparentere Formen der Auswahl und Bestellung von VfGH-Richter_innen nachdenken, die nicht nur die Regierungsparteien bedienen? Immerhin sind mittlerweile bereits sechs politische Parteien im österreichischen Parlament vertreten, die aktuellen VfGH-Richter_innen aber nur von zwei Parteien ausgewählt.
Tamara Ehs ist Politikwissenschafterin an den Universitäten Salzburg und Wien, forscht zu Demokratie(reform), Parlamentarismus und Verfassungsfragen.