Was hinter der Krise in Tunesien steckt

Am 25. Juli suspendierte der tunesische Präsident Kais Saied das Parlament aus. Während westliche Medien Vergleiche zu Ägypten anstellen, ist die Situation wesentlich komplexer. Hinter der anhaltenden Krise steckt kein ideologischer Konflikt zwischen Säkularismus und Islamismus in Tunesien, sondern die nicht eingelösten Forderungen nach einer wirtschaftlichen Revolution, schreibt Ines Mahmoud. 

Jubel sowie Rufe nach „Freiheit“ und das Singen der Nationalhymne erfüllten die Innenstadt von Tunis, während Militärfahrzeuge nahe der Avenue Habib Bourguiba passierten. Wenige Minuten zuvor hatte der tunesische Präsident Kais Saied erklärt, den Artikel 80 der neuen tunesischen Verfassung in Kraft zu setzen und damit den Regierungschef und das Parlament vorübergehend auszuschalten, sowie die Immunität für Abgeordnete aufzuheben. Der Verfassungsjurist Kais Saied wurde 2019 als parteiloser Kandidat und mit großer Mehrheit demokratisch zum Präsidenten gewählt. Ist das ein Putsch? Darüber wird in Tunesien ebenso diskutiert, wie darüber wie es weitergehen soll, während in westlichen Medien mit vorschnellen Urteilen und verzerrten Vergleichen teils das Ende der Demokratie und Chaos prophezeit wird.

Kais Saieds Entscheidung ging ein Aufruf in den sozialen Medien voraus, am 25. Juli, dem Tag der Republik, Politiker*innen, vorrangig die Regierung, in einer neuen Revolution,  zur Rechenschaft zu ziehen. Bereits im Vorfeld wurde die Auflösung des Parlaments und der Rücktritt der Regierung gefordert.
Austeritätspolitik, die Missstände und der Zusammenbruch des Gesundheitssystems in der COVID-Krise sowie heftige, teils physische Auseinandersetzungen im Parlament, haben in den vergangenen Monaten die Wut auf die Regierung der moderat islamistischen Ennahda-Partei angefacht. 

Bilder, die den Regierungschef Hichem Mechichi beim Tennisspielen und im Urlaub mit weiteren Ministern im Luxusresort zeigten, brachten das Fass schließlich zum Überlaufen.

Hohe Todesrate

Erst zwei Tage zuvor hatte Tunesien die höchste an der Bevölkerung gemessene COVID-bezogene Todesrate der Welt gemeldet.  Während sich in überlasteten Krankenhäusern an COVID verstorbene Menschen sammeln, ist Tunesien mittlerweile auf gespendete Impfstoffe und Ausrüstung wie Sauerstoffgeräte angewiesen. Allein in Kairouan, einer der betroffenen Regionen mit fast 600.000 Einwohner*innen gibt es lediglich 45 Intensivbetten und 250 Sauerstoffgeräte. Zudem fehlt es an Personal. Der Kollaps des tunesischen Gesundheitssystems ist das Resultat der Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahrzehnte.

Zerstörerische Wirtschaftspolitik

Während die Pandemie wütet, steigen die Preise von alltäglichen Konsumgütern und Lebensmitteln im Rahmen geplanter Verhandlungen der Regierung für einen IWF-Kredit. Fremdwährungsschulden, die Durchführung von Strukturanpassungsprogramme, Liberalisierung der Handels- und Währungspolitik, Privatisierung staatlicher Unternehmen, die Erleichterung ausländischer Investitionen und Kapitalflüsse blieben auch nach der Revolution das Ziel der Wirtschaftspolitik. Tunesiens Wirtschaft ist weiterhin geprägt von hohre Arbeitslosigkeit und stark abhängig von einem geschädigten Tourismussektor und dem Export von Produkten mit geringer Wertschöpfung. Nach wie vor befindet sich die Regierung in – aktuell pausierten – Verhandlungen für ein Freihandelsabkommen mit der EU, das den tunesischen Agrar- sowie Dienstleistungssektor liberalisieren soll. Das würde die Ernährungssouveränität, Wassersouveränität, und Energiesouveränität zusätzlich gefähreden. Die Auswirkungen des Klimawandels werden diese Probleme in Zukunft verstärken. Dazu kommen immer neue Korruptionsskandale.  

Diese Wirtschaftspolitik hat sich seit der vorrevolutionären Diktatur kaum verändert. Die Forderung der Revolution 2011 nach Brot, Freiheit und Würde wurde nicht ausreichend erfüllt. Tunesien mag eine politische Wende erlebt haben, ist jedoch weit von einer ökonomischen Revolution entfernt. Es waren die sozialen Verhältnisse und Korruption, die die Menschen 2011 auf die Straße trieben. Sie führen auch weiterhin zu anhaltenden Protesten.

Krise des politischen Systems

Präsident Saied, Jus-Professor ohne klassische Wahlkampagne, hat seinem Wahlsieg dem angekündigten Kampf gegen das „korrupte System“ zu verdanken. Nun gibt es gegen die moderat islamistische Ennahda und zwei weitere Parteien Untersuchungen wegen irregulärer Wahlfinanzierung. Vor allem die Aufhebung der Immunität der Abgeordneten wird von vielen als positives Signal gesehen.

Einige Abgeordnete haben bereits nicht exekutierte Verurteilungen wegen Steuerflucht, Geldwäsche, Bestechung, Veruntreuung, Sexuelle Belästigung und Korruption erhalten. Dennoch ist stark zu bezweifeln, dass Saied seinen Kampf gegen die zentralen Kreise der tunesischen Oligarchie richten wird, von denen die Ennahda nur einen Bruchteil repräsentiert. Hier gilt es kritisch abzuwarten, ob tatsächlich gegen zentrale Netzwerke vorgegangen wird. Im öffentlichen Diskurs hat sich die Suspendierung des Parlaments und die Aufhebung der Immunität vor allem auch in der Opposition zur Ennahda niedergeschlagen. Das kann darauf zurückgeführt werden, dass sie als einzige Partei seit der Revolution durchgängig in der Regierung war, und für die Situation Tunesiens verantwortlich gemacht wird. Bisher hat es aber keine der großen Parteien geschafft, ein ökonomisches Programm vorzuschlagen, das eine wirtschaftspolitische Alternative darstellt und auf die Stärkung von ökonomischer, monetärer Souveränität, sowie der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit setzt. 

Entsprechend desillusioniert sehen die Tunesier*innen die Lage. Vergangenen Herbst gaben 72 Prozent der Befragten an, dass ihre Bedürfnisse nicht ausreichend von Parteien bearbeitet werden. 87 Prozent gaben an, dass Tunesien ihrer Meinung nach in die falsche Richtung steuert. 

Die Suspendierung des Parlaments

Der von Saied angewendete Artikel 80 der neuen tunesischen Verfassung besagt, dass „im Falle einer unmittelbaren Gefahr für die Existenz des Vaterlandes und die Sicherheit oder die Unabhängigkeit des Staates, die die normale Arbeitsweise der staatlichen Institutionen unmöglich macht“ der Präsident „nach Konsultation des Regierungschefs und des Präsidenten der Abgeordnetenkammer sowie Unterrichtung des Verfassungsgerichtshofes alle Maßnahmen ergreifen [ kann,] die die außergewöhnlichen Umstände erfordern.“

Der Artikel legt weiters fest, dass es Ziel der Maßnahmen sein sollte, „so rasch wie möglich, die Rückkehr zur normalen Arbeitsweise der staatlichen Institutionen und Dienstleistungen zu gewährleisten.“ Nach 30 Tagen kann der Präsident der Abgeordnetenkammer oder 30 ihrer Mitglieder „beim Verfassungsgericht prüfen, ob die außergewöhnlichen Umstände weiterhin bestehen oder nicht.“

Das Verfassungsgericht sollte laut der tunesischen Verfassung von 2014 ab 2015 existieren. Sechs Jahre später besteht es immer noch nicht. Das macht die im Gesetz vorgeschriebene Möglichkeit einer Prüfung unmöglich. Die Unterrichtung des Verfassungsgerichtshofes durch Saied konnte ebenfalls nicht stattfinden und es ist fraglich, in welcher Form die Konsultationen des Regierungschefs und Präsident der Abgeordnetenkammer stattgefunden haben.  

Hinkende Vergleiche

Fakt ist, dass Saied neben der Suspendierung des Parlaments die Immunität der Abgeordneten aufgehoben hat, und Regierungsschef Hichem Mechichi abberufen hat. Die Positionen unterschiedlicher Parteien dazu variieren.

Selbst intern sind sich die Parteien uneins. Ein Teil der Ennahda kritisiert die Parteiführung, unterstützt Präsident Saied und droht mit einer Abspaltung.

Westliche Medien sprechen teils von einem „Putsch“ in Tunesien, der Chaos und den Zusammenbruch der tunesischen „Demokratie“ bedeutet. Viele vergleichen die Geschehnisse in Tunesien mit anderen Ländern der Region, vorrangig Ägypten.

Zwischen Tunesien und Ägypten gibt es jedoch unter anderem zwei zentrale Unterschiede: das Militär und die Gewerkschaften. Während das ägyptische Militär eine mächtige und ökonomisch signifikante Rolle in einnimmt, ist das in Tunesien keineswegs der Fall. Gleichzeitig spielen Gewerkschaften in Tunesien eine zentrale politische Rolle und sind im Gegensatz zu Ägypten nicht unter direkter staatlicher Kontrolle.

Wie es in Tunesien weitergeht, lässt sich nicht mit oberflächlichen und orientalistischen Vergleichen beantworten. Ebenso wenig hilft es die Krise als eine Auseinandersetzung zwischen Islamismus und Säkularismus zu begreifen. 

Breite Diskussion und unklare Zukunft

Seit dem 25. Juli hat sich Saied mit Gewerkschaften, Journalist*innen, Jourist*innen, Menschenrechts- und Frauenrechtsorganisationen und Bewegungen getroffen. Er betont, dass die Maßnahmen nur vorübergehend sind.

Nicht nur die Parteien diskutieren die Bewertung der Entwicklungen: Auch in der tunesischen Linken, in Medien, auf der Straße gibt es darüber sehr geteilte Meinungen. War es ein Putsch oder nicht? Sicher ist, dass Saied mit mehr Stimmen zum Präsidenten (74 Prozent der Stimmen) gewählt wurde als alle Parlamentsparteien zusammen. Saieds Entscheidung am 25. Juli wurde zudem laut Umfragen von der Mehrheit der Tunesier*innen unterstützt. 

Klare Prognosen sind in dieser Situation dennoch schwierig. Sicher ist, missbraucht Saied das Vertrauen, hat er schon bald mit massiven Protesten und Widerstand zu rechnen. 

Dauerkrise ohne ökonomische Revolution 

Tunesiens Revolte 2011 war eine politische Revolution. Die zentralen Forderungen der Tunesier*innen waren jedoch ökonomisch. Solange sie wegen fehlender Alternativen zu Austerität, IWF-Schulden und Marktliberalisierung nicht erfüllt werden, wird die tunesische Politik auch in Zukunft durch Krisen und Widerstand geprägt sein. Eine Eskalation vor Ablauf der 30 Tage-Frist ist vorerst jedoch unwahrscheinlich. 

Wie es konkret weitergeht, wird sich danach zeigen. Kritische tunesische Politikwissenschaftler*innen und Aktivist*innen lassen sich Zeit mit vorschnellen Positionierungen und Analysen. Die Anwendung simpler Schemata und Vergleiche ermöglichen es jedenfalls nicht, die Komplexität der Situation zu verstehen. 

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