Die 24-Stunden-Pfleger*innen ziehen gegen ihre Arbeitsverhältnisse vor Gericht. Anna Leder, von der Interessensgemeinschaft der Betreuer*innen, im Interview darüber, wie sie diesen Prozess gewinnen möchten.
Über 99 Prozent der 24-Stunden-Pfleger*innen arbeiten als Scheinselbstständige – sie sind laut Hausbetreuungsgesetz als Selbstständige tätig, doch ihre Arbeit hat in der Praxis wenig mit Selbstständigkeit zu tun. Die Interessengemeinschaft der 24-Stunden-Betreuer*innen (IG24) zieht jetzt gegen diese Situation vor Gericht. Momentan sammelt der Verein Geld für die Prozesskosten. Aktivistin Anna Leder erzählt im Interview mit mosaik-Redakteurin Sarah Yolanda Koss, warum dieser Prozess notwendig ist, was die Betreuer*innen damit erreichen wollen und was sich im Pflege-Aktivismus sonst noch tut.
Mosaik: Im April 2020 flog die österreichische Regierung 281 Pfleger*innen aus Rumänien und Bulgarien ins Land, um eine Pflegekrise während coronabedingten Grenzschließungen zu verhindern. Deine Kollegin Flavia Matei berichtete damals, dass so offensichtlich wurde, wie essenziell die Arbeit der 24h-Betreuer*innen sei. Gleichzeitig verschlechterte sich ihre Situation. Was hat sich seitdem getan?
Die Branche betreffend liegt alles so im Argen wie damals. Im Rahmen unserer Organisierung ist aber viel passiert. Rumänische und slowakische Kolleg*innen haben sich untereinander ausgetauscht und auf dieser Basis haben wir im November 2020 die IG24 gegründet. Die Kolleg*innen haben in der Vernetzung gelernt, einander zu beraten. Dadurch hat sich in Einzelfällen von Betreuer*innen einiges verbessert.
Mit unseren Anfragen um Finanzierung sind wir institutionell überall abgeblitzt, die Arbeiterkammer und die Gewerkschaft heißen Selbstorganisierung nicht sonderlich willkommen. Wir arbeiten deswegen mit Projektförderungen. Im Rahmen einer Förderung des Digitalisierunggsfonds der Arbeiterkammer entwickeln wir zum Beispiel ein Online-Beratungs- und Fortbildungstool. Und wir haben eine fünfsprachige Website erstellt.
Außerdem gibt es jetzt auch durch das Sozialministerium finanzierte und von der Volkshilfe getragene kostenfreie niederschwellige Beratungsstellen. Das war von Anfang an eine unserer Forderungen. Jetzt ist der Prozess natürlich ein Kernthema für uns.
Im Bereich der Beratung ist also viel weiter gegangen, die Arbeitsverhältnisse der Branche haben sich aber nicht gebessert. Um die zu verändern, wollt ihr jetzt vor Gericht ziehen. Warum dieser Schritt?
Der willkürliche Ausschluss von sozialer Sicherheit in dieser Branche war von Anfang an auf unserer Agenda. Die Forderung nach Beratungsstellen hat durchaus Zustimmung erfahren. Bei unserer Forderung, die Scheinselbstständigkeit abzuschaffen, hat es dagegen geheißen: Dafür gibt es keinen politischen Willen, dafür gibt es kein Geld. Und: Wenn man das in Frage stellt, ist der ganze Berufsstand bedroht. Da es keinen politischen Willen gibt, führt nichts daran vorbei, diesen Missstand juristisch feststellen zu lassen.
Der Vorwurf, der Berufsstand wäre durch derlei Forderungen bedroht, bezieht sich darauf, dass die 24-Stunden-Pflege durch andere Arbeitsverhältnisse teurer und deswegen für viele Familien nicht mehr leistbar werden könnte...
Der Staat sagt, 24-Stunden-Betreuung solle den Menschen zur Verfügung stehen, organisiert das aber unter juristisch fragwürdigen Vorzeichen. Damit ist es am Staat, sich zu überlegen, wie das korrekt zugehen kann. Wir beschäftigen uns auch damit, ein Angebot auszuarbeiten. In unserem Projekt „Care for Care“ geht es vor allem um die Entwicklung eines Anstellungsmodells. Aber rund um den Prozess sehen wir es nicht als notwendig, eine Antwort auf die Frage der Finanzierung zu geben. Der Staat muss eine Alternative für die Scheinselbstständigkeit finden.
In Deutschland haben Betreuer*innen im August einen ähnlichen Prozess gewonnen, ihnen steht nun offiziell der Mindestlohn zu. Und auch dort ist danach nicht alles in sich zusammengebrochen.
Ihr nennt das Arbeitsverhältnis der Betreuer*innen, wie du jetzt schon öfter erwähnt hast, „Scheinselbstständigkeit“. Was bedeutet das konkret?
In Österreich gilt für die 24-Stunden-Betreuung das Hausbetreuungsgesetz vom März 2007. Laut diesem Gesetz sind die Betreuten die Arbeitgeber*innen. Sie, beziehungsweise ihre Familien, können Betreuer*innen anstellen oder sie als Selbstständige auf Honorarbasis für sich arbeiten lassen.
Organisiert wird das aber von inzwischen über tausend Vermittlungsagenturen. Die kann man als die eigentlichen Dienstgeber*innen betrachten. Denn sie geben alles vor, was in diesem Arbeitsverhältnis zu regeln ist. Das Honorar, die Anfahrt, Arbeitsinhalte, Arbeitszeiten. Sie bestimmen das gesamte Vertragswerk zwischen Familien und Betreuer*innen. Was an diesem Verhältnis tatsächlich selbstständig sein soll, dafür gibt es kaum Anhaltspunkte. Die Kolleg*innen treibt die Situation in prekäre Bedingungen, sie sind beispielsweise nicht in der Lage, eine Pause oder Nachtruhe einzufordern. Und ihre Gehälter liegen weit unter dem Mindestlohn.
2011 gab es bereits ein OGH-Urteil, laut dem die Selbstständigkeit der Pfleger*innen tatsächlich „ein Schein“ ist. Das ist aber ein Einzelfallurteil geblieben.
Wenn diese Scheinselbstständigkeit ein Widerspruch in sich ist, wie konnte sie 2007 überhaupt so beschlossen werden?
Es war von Anfang an ein sehr umstrittenes Gesetz und eine Anlassgesetzgebung. Der Anlass war die sogenannte „Lex Schüssel“. Der damalige Kanzler der schwarz-roten Regierung wurde dabei ertappt, eine slowakische Betreuerin undokumentiert bei sich zu Hause arbeiten zu lassen. Der sozialdemokratische Sozialminister ist ihm damals zur Seite gestanden und die Regierung verabschiedete das Gesetz in kürzester Zeit. Von Anfang an hieß es, dieses Gesetz wäre eine vorübergehende Lösung. Inzwischen gibt es das seit 15 Jahren.
Was selten erzählt wird ist, dass bei der Verabschiedung eines solchen Gesetzes auch die Sozialpartner ihren Segen abgeben. Und bis heute wird das Hausbetreuungsgesetz von keiner Seite der Sozialpartner in Frage gestellt.
Du hast vorhin erwähnt, dass es bereits ein Einzelfallurteil zur Scheinselbstständigkeit gibt. Was wollt ihr mit einem weiteren Prozess also erreichen?
Wir wollen nicht wieder ein Einzelfallurteil erzeugen. Wir haben mehrere klagswillige Kolleg*innen, aber wir fangen mit einem Prozess an. Wenn alles so läuft wie wir uns das vorstellen, beginnt der Prozess im Herbst. Wir werfen der jeweiligen Agentur mittels einer Feststellungsklage vor, dass die klagende Person rechtswidriger Weise nicht angestellt wurde, es sich bei ihrem Arbeitsverhältnis also eigentlich um ein Anstellungsverhältnis handelt. Gewinnen wir die Klage, können wir bei ausreichenden Ressourcen mit der nächsten weitermachen. Schon die erste Klage gilt also für die gesamte Branche.
Uns geht es darum, dass die Politik einsieht, dass das Gesetz mangelhaft ist und repariert werden muss. Wenn wir ein OGH-Urteil haben, muss die Politik darauf reagieren.
Interview: Sarah Yolanda Koss