Der Quirinalsvertrag zwischen Frankreich und Italien ist ein Indiz für das wankende Machtgefüge in der Eurozone, schreibt Thanos Liapas.
Am 26. November unterschrieben der französische Präsident Emmanuel Macron und der italienische Premierminister Mario Draghi den Quirinalsvertrag in Rom. Die Vereinbarung ist der Höhepunkt jahrelanger Verhandlungen. Die Schwerpunkte liegen in der Stärkung der Europäischen Union, außenpolitische Vorhaben, Wirtschaft, Umwelt, Sicherheit und Verteidigung sowie Kultur und Bildung. Ganz konkret heißt das, dass die beiden Staaten „einander regelmäßig und auf allen Ebenen [konsultieren], um vor wichtigen europäischen Ereignissen gemeinsame Standpunkte zu Politiken und Fragen von gemeinsamem Interesse zu erreichen“, wie es im Vertragswerk heißt. Er könnte Bewegung in die EU bringen. Und für die kommenden Verhandlungen bezüglich der Reform des Stabilitäts- und Wirtschaftspakts (SWP) entscheidend sein.
Bereits in der Eurokrise vertraten die Regierungen von Matteo Renzi und François Hollande ähnliche Positionen bezüglich der Europäischen Fiskalpolitik. Italien und Frankreich schafften es nicht, einen koordinierten Gegenstandpunkt zu formen. Obwohl sie immer wieder die deutsche Regierung und deren Diktat einer überwachten Sparpolitik kritisierten. Könnte der bilaterale Vertrag eine neue, koordiniertere Haltung gegenüber Deutschland bedeuten?
Beschwichtigende Worte nach Berlin
Zumindest nicht auf den ersten Blick. Macron sandte schon kurz nach der Unterschrift beruhigende Signale Richtung Berlin. Er stellte bei einer Pressekonferenz klar: Die engere Kooperation zwischen Paris und Rom sei keine Konkurrenz zur eingeübten Zusammenarbeit zwischen Paris und Berlin. „Sie ergänzen sich, sie sind unterschiedlich“, sagte Macron. „So wie Deutschland auch eine spezielle Beziehung zu Rom hat. Man muss hier nicht nach Ersatzwegen suchen“. Der Sprecher der deutschen Regierung, Steffen Seibert, erklärte: „Europa heißt auch nicht, dass man eifersüchtig schaut, ob ein Land, mit dem man wie Deutschland und Frankreich die engstmöglichen freundschaftlichen Beziehungen hat, vielleicht auch noch zu anderen Ländern engstmögliche freundschaftliche Beziehungen hat“. Trotz der großmütigen Erklärungen und schönen Worte sollte sich Berlin vielleicht doch Sorgen machen.
Zu hohe Staatsverschuldung
Die gemeinsame Haltung ist keine große Überraschung, wenn man sich die Kennzahlen der italienischen und französischen Volkswirtschaft ansieht. Die durchschnittliche Wachstumsrate Italiens lag von 2008 bis 2019 bei zirka null Prozent; die von Frankreich lag bei etwa 1.5 Prozent des BIP. Hingegen häuften sich die Staatsschulden. Im Gegensatz zu Deutschland, wo die Neuverschuldung 2020 nur 4.2 Prozent betrug, ist das französische und das italienische Defizit um 9.5 Prozent bzw. 9.2 Prozent gestiegen. Die ökonomischen Nebenwirkung der fortwährenden Lockdowns haben die durchschnittliche Staatverschuldung in der Eurozone auf 98 Prozent hochgetrieben. Die strikten Regeln der SWP (das Rahmenwerk erlaubt 60 Prozent des BIP Staats- bzw. drei Prozent Neuverschuldung) erlauben das eigentlich nicht. Sie sind deswegen bis Ende 2022 deaktiviert.
Veränderte Voraussetzungen durch Pandemie
Die Verhandlungen um die Neugestaltung des Regelwerks sind vor diesem Hintergrund besonders brisant. Auch weil Italien und Frankreich bereits angekündigt haben, dass sie mit dem SWP in seiner jetzigen Form nicht glücklich sein. Draghi stellte vor kurzem fest: „As for the budgetary rules that were in force until before the pandemic, they had already proved to be insufficient since the [global] financial crisis…Today the revision [of the rules] is inevitable“. Ähnlich drückte es der französische Finanzminister, Bruno Le Maire im März 2021 aus. Er forderte: „to start from the new reality in which all eurozone countries are […] I am simply saying that we need rules adapted to this new reality“.
Die Koalitionspartner der neuen deutschen Bundesregierung erkennen die Flexibilität an, die der SWP schon bewiesen hat. Doch eine grundlegende Reform lehnen sie ab. Bei seinem jüngsten Treffen mit dem deutschen Finanzminister, Christian Lindner, relativierte Le Maire seine früheren Forderungen nach mehr Flexibilität und sagte, dass neue Regeln „nicht dringend“ seien und beide Seiten sich so viel Zeit wie möglich nehmen sollten, um einen Kompromiss zu finden.
Quirinalsvertrag offenbart Reformbedarf
Wahrscheinlich führt der Quirinalsvertrag nicht zu einer nachhaltigen Veränderung des innereuropäischen Gleichgewichts. Dennoch ist er ein weiteres Indiz für die kleinen Erschütterungen, die die Machtkonfiguration der EU seit Jahren immer wieder aufs Neue erlebt. Der Achse Berlin-Paris, einst das stabile Rückgrat der Union, wurde während der Eurokrise durch eine Koalition von reichen Überschussländern unter deutscher Führung ersetzt. Die ungleiche Entwicklung in der Eurozone, die die Pandemie weiter verschärft, macht immer deutlicher, dass es vor allem für die Staaten in der südlichen Peripherie eine radikale institutionelle Reform braucht. Das verstehen Frankreich und Italien zusehends. Jetzt bleibt es abzuwarten, ob beide Länder das politische Kapital und die ökonomische Kraft besitzen, um eine feste und koordinierte Haltung gegenüber den frugalen Ländern in den kommenden Verhandlungen einzunehmen.