20 Jahre gibt es den Carnaval de la Plaine nun schon. Der populäre Karneval stellt sich gegen die Gentrifizierung in Marseille. Ein Bericht von Katharina Fritsch.
Es ist der 10. März, so ungefähr 14 Uhr, ein sonniger Frühlingstag im Zentrum Marseilles. In Schale geworfen spaziere ich zusammen mit einer Freundin* zum Carnaval de la Plaine, einem populären Karneval, der heuer sein 20-jähriges Jubiläum feiert. Als Super(wo)man mit morbider Maske sowie verwahrlostes Madonna-Double verkleidet, fallen wir nicht länger auf. Bald treffen wir auf eine Brass-Band-Gruppe, die sich – ebenso schräg angezogen wie wir – swingend Richtung Konservatorium bewegt, dem Ausgangspunkt des Karnevals. Dort soll bald das populäre Tribunal stattfinden, bei dem jedes Jahr Akteur*innen der Marseiller Stadtpolitik zur Rechenschaft gezogen werden.
Marseille auf der Anklagebank
Heuer ist die Situation noch zugespitzter als in den letzten Jahren. Am 5. November stürzten im Viertel zwei Häuser ein, wodurch acht Menschen starben. Der seit Jahren schwelende Konflikt um die Gentrifizierung der Gegend rund um den Platz La Plaine, der dem Karneval seinen Namen verleiht, fand einen neuen Höhepunkt. Denn während die Mauern in der Rue d‘Aubagne bröckeln, werden auf La Plaine welche errichtet. Der Platz soll renoviert werden. Anwohner*innen und Aktivist*innen fürchten, dass sein Charakter sich dadurch ändern wird. Am Abend des Karnevals wird der Platz zur umkämpften Zone.
La Plaine, der eigentlich Place Jean-Jaurès heißt, liegt mitten in Marseilles Innenstadt. Der alte Hafen der Stadt ist keine fünfzehn Gehminuten entfernt. Bis zum Herbst 2018, als die Renovierungsarbeiten anfingen, fand hier drei Mal pro Woche ein großer Markt statt. Unzählige Lokale von Kulturvereinen sowie (linken) Bars umgeben den Platz weiterhin.
Bröckelnde Mauern
Vor dem Hintergrund von Renovierungsplänen finden seit 2015 auf La Plaine öffentliche Versammlungen von Aktivist*innen, Kunstschaffenden und Anrainer*innen statt. Im Herbst wurde den angehenden Arbeiten mit Protest begegnet, wie es Leïla, eine queer-feministische Aktivistin*, im Gespräch ausführt: „Die Arbeiten haben mit 15 Polizeiwägen angefangen und somit hat ein Kampf begonnen, der drei Wochen lang angedauert hat.“ Angesichts des starken Protests errichtete die SOLEAM, eine lokale und öffentliche Stadtentwicklungsgesellschaft und zuständig für die Renovierung, eine zweieinhalb Meter hohe Mauer um ca. 400.000 Euro. Doch anstatt den Protest zu ersticken, entfachte sie ihn noch mehr. „Sobald wir zuschauen konnten, wie die letzte Mauer auf La Plaine aufgestellt wurde, hatten wir zwei Tage um die Mauer abzumontieren und sie um sie wieder aufzustellen und wir um sie abzumontieren und sie um mehr Beton drauf zu tun“, so Leïla.
Dann, ein Monat nachdem die Mauer errichtet worden war, brachen nicht weit von La Plaine entfernt, in der Rue d’Aubagne, zwei Häuser zusammen. Zuerst Hausnummer 63, wenig später die benachbarte 65. Haus Nummer 63, Eigentum der Stadt, in dem Viertel von Noailles war baufällig und offiziell unbewohnt. Es lebten jedoch illegalisierte Migrant*innen darin. Der Zusammensturz riss das benachbarte Haus mit, das offiziell bewohnt war. Acht Menschen fanden dadurch den Tod. Etwaige Todesfälle illegalisierter Menschen scheinen in den offiziellen Statistiken nicht auf. Aufgrund von Baufälligkeit wurden seitdem weitere Häuser in der Straße evakuiert. Aktuell warten über 2.500 Personen auf eine neue Wohnung.
Politische Geschichte
Als Antwort auf die tragischen Ereignisse fanden im Herbst mehrere große Demonstrationen sowohl in Solidarität mit den Opfern der Rue d’Aubagne als auch gegen die Gentrifizierung auf La Plaine statt. Mit dem Aufkommen der Gilets-Jaunes-Bewegung in Frankreich erreichten die Mobilisierungen noch mehr Menschen. Viele der Demonstrationen waren dabei von einer enormen Polizeirepression betroffen, wie es sie laut Leïla seit den 1980ern nicht mehr gegeben hatte war.
Der Carnaval de la Plaine wurde 1999 ins Leben gerufen. Als Anfang der 2000er-Jahr Renovierungspläne für den Platz bekannt wurden, bekam der Karneval eine politische Dimension. Die Symbolfigur des Karnevals ist der caramatran, eine bunte aus Pappmaché angefertigte Figur – repräsentativ für den Karneval der französischen Region Provence –, die öffentlich verbrannt wird. In den letzten Jahren stellte der caramatran mal „Sarkozy“ dar, mal die „Videoüberwachung“. Dann war es einmal das „Stadterneuerungsprojekt Euroméditerrannée“, mal MP13, die Trägerinstitution von Marseille als Europäischer Kulturhauptstadt 2013.
Heuer steht der rechtskonservative Bürgermeister Jean-Claude Gaudin vor dem Karnevalstribunal. An seiner Seite ein kleiner Schoßhund, der Lokalabgeordnete der rechtskonservativen Partei Les Republicains und Präsident der SOLEAM. Leïla betont: „Aufgrund der dramatischen Ereignisse im letzten Jahr, die im Zuge der europäischen Gentrifizierung vorgefallen sind, mussten wir heuer den Karneval noch größer machen als in den vorherigen Jahren.“
Linke Allianzen
Vor dem Hintergrund einer eingemauerten Plaine sowie der gesperrten Rue d’Aubagne können wir heuer nicht die gewohnte Route verfolgen. Rund 3.000 Menschen folgen dem Aufruf zum Karneval samt Motto „Sie haben uns den Raum eingemauert, aber nicht den Geist“. Der Umzug findet auf der Place d’Aix, einem weiteren von Gentrifizierung betroffenen Platz im Zentrum seinen Endpunkt. Während dort am frühen Abend die Puppe von Gaudin unter einer ums Feuer tanzenden verkleideten Masse verbrennt, hat sich ein anderer Teil des Umzugs in Richtung La Plaine bewegt.
Ab dem späten Nachmittag kommt es dort zu einem Kräftemessen zwischen den Teilnehmer*innen des Karnevals und der Polizei sowie den Sicherheitskräften. Mehrmals schaffen es einige Teilnehmer*innen durch das Gitter des Eingangstors auf das ummauerte Gelände zu kommen, bevor sie wieder von zwischen den Mauern stationierten Polizeitruppen vertrieben werden. Zum Abend hin füllt sich der Platz rund um die Mauern. Immer mehr Leute kommen, Barrikaden werden errichten, Knaller und Feuerwerke explodieren zwischen den Mauern … bis der Platzbesetzung durch den Einsatz von Tränengas vonseiten der Polizei ein Ende gesetzt wird.
Doch „der Kampf geht weiter“, wie Leïla betont. Die Organisierung rund um La Plaine sei von verschiedenen Allianzen geprägt: „Auf der Plaine erleben wir verschiedene politische Tendenzen der radikalen Linken, jedoch unterschiedliche, unter anderem Feminist*innen, Autonome, Linke, Punks, Junkies, Fans von OM, denn La Plaine gehört uns.“