Erdbeben: Nachrichten aus dem Epizentrum

Zerstörtes Haus in Hatay/Antakya

Wie ist die Situation nach den Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet? mosaik-Redakteurin İpek Yüksek stammt aus Antakya, ihre Angehörigen sind von den Erdbeben betroffen. Am Samstag ist sie in die Türkei aufgebrochen, um vor Ort zu helfen. Hier findet ihr ihre Berichte aus dem Krisengebiet.

Meldungen, weitergeleitet von İpek Yüksek: ++ Ein Bauunternehmer versucht, aus dem Land zu flüchten und wird am Istanbuler Flughafen verhaftet ++ Polizeigewalt gegen Helfer*innen mehrt sich ++ Versagen der Bauaufsicht soll vertuscht werden ++ Inhaftierte fordern Verlegung in sichere Gebiete ++

Erneute Nachbeben, 21.2.2023

Gestern gab es drei weitere Nachbeben, Stärken 4.0, 5.3 und 6.4, in der Region Hatay. Abends postet Ipek auf Instagram:

„Ich bin dabei, meine Familie und meine Nachbarn nach Ankara umzusiedeln. Wir sind sicher, aber ich kann meine anderen Verwandten nicht erreichen. Nun sind auch die festen Gebäude eingestürzt. Die Menschen, die unter den Trümmern gefangen sind, versuchen, sich Gehör zu verschaffen. Wie am ersten Tag.“

Die Melodie der Stadt, 19.2.2023

İpek ist mittlerweile im Hotel. Sie hat dank solidarischer Netzwerke ein Haus für ihre Familie gefunden. Die Familie hat Möbel und Teppiche bekommen. Als nächstes müssen sie neue Arbeit finden. Generell ist die Bereitschaft zur Hilfe sehr groß. Ipeks Familie wird gemeinsam mit einer weiteren Familie und einer jungen Frau wohnen, die viele ihrer Angehörigen verloren hat.

In jedem Tag dieser Stadt steckt eine Idee und eine Melodie. Die Straßen sind nicht einfach nur Straßen, sondern fröhliche Passagen erfüllt von Volksliedern. Von Armut und Großzügigkeit, Vielfalt und Einigkeit, Unterdrückung und Ali, Arbeit und Teilen. Die Stadt war in einer Art von Schönheit ausgeglichen.

Was wir fürchten, ist der Verlust unserer sozialen Identität und die Veränderung. Sich zu verändern, bedeutet zu verschwinden, wir verschwinden! Ich weiß jetzt, wie wertvoll die Erinnerung ist. Die Stadt ist verschwunden, aber in unseren Köpfen existiert sie weiter. Unsere Bekannten sind verschwunden, aber sie leben in unseren Köpfen weiter. Die Bilder der Stadt sind für uns Wegweiser, die uns in unserer Obdachlosigkeit begleiten. Wir müssen uns erinnern.

Zuerst werden wir uns von jenen verabschieden, die wir verloren haben und unser Herz wird vor unerträglichem Schmerz brennen. Das ist Trauer. Wir werden betrauert werden.

Es wird uns nichts anderes übrig bleiben als zu „leben”. Wir werden mit dem „Leben” weitermachen, das uns geblieben ist und mit dem, was in unseren Bäuchen fortdauert. Und dann werden wir uns langsam an diese Stadt erinnern. Jede Melodie auf der Straße. Wir werden wieder geeint sein. Wir werden uns selbst aufbauen – nicht den Beton.

Antakya nach den Erdbeben, 16.2.2023

Bei der Familie, 15.2.2023

Ipek ist inzwischen von ihrem Vater abgeholt- und zu dem Ort gebracht worden, an dem ihre Familie gerade untergebracht ist. Sie beschreibt die Umgebung:

„Es gibt Zelte, Feuer und Essen. Ein paar Häuser sind nicht eingestürzt und vermutlich sicher. Wenn sich das bestätigen sollte, ist der Plan, sie zu besetzen und zur Unterbringung von Frauen und Kindern zu nutzen. Die Organisation „Lila Solidarität” betreibt eine Essensausgabe. Auch die Polizei kommt dort vorbei, um zu essen. Die Situation hier ist viel schlimmer, als die Videos zeigen. Es fehlen mir die Worte. Das Risiko von Epidemien ist besonders hoch. Dieser Ort braucht dringend Toiletten und Hygieneartikel.”

Ipek: Dieses Foto habe ich unter den Trümmern unseres Hauses gefunden, mein Vater und ich…

Ankunft in Antakya, 14.2.2023

Ipek ist am Dienstag nach Antakya, in der türkischen Provinz Hatay, weitergereist. 200 Kilometer vom Epizentrum entfernt schickt sie Fotos ihrer ersten Nacht in der Stadt.

Die Toilette am Flughafen von Hatay
Der Schlafplatz

Erste Eindrücke aus Istanbul, vom 13.2.2023

Zwischen Solidarität und Chaos

Im Angesicht der Verwüstung zeigen die Menschen hier eine unglaubliche Stärke. Mit Solidarität und Zusammenhalt trotzen sie den zerstörerischen Kräften. Die Regierung Erdogan lässt sie nicht nur im Stich, sondern versucht auch noch, die eigene Unfähigkeit mit Hetze und Gewalt zu überspielen. Dass sich die Leute hier ihre Hilfe selbst organisieren, scheinen die Machthabenden als Bedrohung zu sehen. Sie antworten mit Rassismus und Faschismus, um die Schuld von sich zu weisen.

Die Institutionen der Regierung und große Medien machen momentan Stimmung gegen Geflüchtete. Menschen, die wegen der Kriegs- und Besatzungspolitik der Regierung Erdogans schon gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen, werden erneut instrumentalisiert. Schutzbedürftige Menschen werden als vermeintliches „Sicherheitsproblem” inszeniert. Menschen aus Syrien sollen als Feindbild herhalten und werden als „Plünderer”, „Diebe” und „Bedrohung für Frauen” dargestellt. Die vom Erdbeben betroffenen Menschen haben Angst, was angesichts ihrer Lage mehr als verständlich ist. Eben diese Angst soll gegen sie verwendet werden. Die türkische Regierung verstärkt die gefährliche Situation, indem sie den Ausnahmezustand ausruft.

Die Zustände hier würden es rechtfertigen, dass die Menschen Supermarktketten und andere Unternehmen, die Geld mit den Grundbedürfnissen der Leute verdienen, unter ihre Kontrolle bringen, um die Geflüchteten und Opfer des Erdbebens mit dem Nötigsten zu versorgen. Denn wie sollen die Menschen sonst überleben? Die eigentliche Plünderung erfolgt indes durch andere. Noch immer ist unklar, was mit den sogenannten „Erdbebensteuern”, die der Verhinderung so viel vermeidbaren Leid dienen hätten sollen, passiert ist. Während dieses Geld verschwunden scheint, kommt ans Licht, was die mit der Regierung verfilzte Bauindustrie an minderwertigen Betonkonstruktionen verdient hat. Und bereits wenige Stunden nach dem Erdbeben wird bei der Eröffnung der Börse am sechsten Februar klar, dass die hiesigen Zement- und Betonunternehmen nicht zu den Leidtragenden gehören. Sie konnten exorbitante Umsatzsteigerungen verbuchen. Von wem gehen also der eigentliche „Diebstahl”, die wirkliche „Plünderung” aus?

Der Artikel wird laufend aktualisiert

Autor

 
Nach oben scrollen