Wie die Schweizer Volksabstimmung am 5. Juni exemplarisch verdeutlicht, ist die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens derzeit en vogue. Doch während in früheren Debatten die sozialdemokratische Linke eine zentrale Rolle spielte, steht sie aktuell nicht gerade in der vordersten Reihe. Warum das so ist und warum es anders sein sollte, erläutert Philippe van Parijs.
Bisher war das Grundeinkommen zwei Mal Gegenstand einer echten öffentlichen Debatte, wenn auch nur kurz und jeweils auf ein Land beschränkt. In beiden Episoden spielte die gemäßigte Linke eine zentrale Rolle.
Die erste Debatte fand in England in der Folge des Ersten Weltkrieges statt. Der Quäker und Ingenieur Dennis Milner schaffte es, dass sein „State Bonus“-Vorschlag auf der Konferenz der Labour Party 1920 diskutiert wurde. Dieser wurde zwar abgelehnt, aber prominente Mitglieder der Partei verteidigten es in den folgenden Jahren unter der Bezeichnung „Sozialdividende“. Unter ihnen waren George Cole, Ökonom und politischer Theoretiker in Oxford, und der spätere Nobelpreisträger James Meade.
Die zweite Debatte fand in den Vereinigten Staaten in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren statt. Ein weiterer späterer Nobelpreisträger, James Tobin, setzte sich für die Einführung eines „Demogrant“ ein und zwar zusammen mit Harvard-Ökonom und Bestsellerautor John Kenneth Galbraith, ebenfalls auf der linken Seite der Demokratischen Partei. Sie überzeugten damit Senator George McGovern, der den Vorschlag in sein Programm während seiner Kampagne für die Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Demokraten aufnahm. Er ließ die Forderung erst in den letzten Monaten vor der Wahl 1972 fallen, die er an Richard Nixon verlor.
Die derzeitige, länger andauernde und zunehmend globale Debatte nahm ihren Ausgang in Europa in den 1980er Jahren. Doch dieses Mal steht die sozialdemokratische Linke nicht gerade in der vordersten Reihe.
Häufige Missverständnisse
Was hat das Grundeinkommen, das bei SozialdemokratInnen Misstrauen hervorruft und was hat es, das Begeisterung auslösen sollte? Um solche Fragen zu beantworten ist es wichtig zu klären, was ein Grundeinkommen ist und was es nicht ist.
Die Bedingungslosigkeit des Grundeinkommens hat drei Dimensionen. Es ist individuell, das heißt unabhängig von der Haushaltssituation der Begünstigten. Es ist allgemein, das heißt nicht abhängig von der Höhe des Einkommens aus anderen Quellen. Und es ist frei von Verpflichtungen, das heißt nicht auf diejenigen beschränkt, die arbeiten oder bereit sind zu arbeiten.
Ist es nicht absurd, ein solches Grundeinkommen allen zu zahlen, einschließlich der Reichen? Es ist nicht absurd. Das Fehlen einer Einkommensprüfung ist nicht besser für die Reichen. Es ist besser für die Armen: Ein großer Vorteil von einem Einkommen, das automatisch an alle gezahlt wird, ist, dass es die Armen weit effektiver erreicht als an Bedingungen geknüpfte Leistungen und noch dazu nicht zu Stigmatisierung führt. Ein weiterer Vorteil ist, dass es ihnen einen Boden bietet, auf dem sie stehen können, weil es mit weiteren Einkommen kombiniert werden kann.
Ist es nicht inakzeptabel, das Recht auf Arbeit durch ein Recht auf ein Einkommen zu ersetzen? Ein Grundeinkommen tut nichts dergleichen. Im Gegenteil. Es ermöglicht eine flexible, kluge Form der Arbeitsplatzteilung. Es macht es einfacher für Menschen, die zu viel arbeiten, ihre Arbeitszeit zu reduzieren oder eine berufliche Auszeit zu machen. Es ermöglicht Erwerbsarbeitslosen, Beschäftigung anzunehmen, die dadurch frei wurde. Und die feste Basis, die das Grundeinkommen bereitstellt, ermöglicht ein flexibleres Hin und Her zwischen Beschäftigung, Ausbildung und Familie.
Wie SozialdemokratInnen zu recht betonen, ist der Zugang zu bezahlter Arbeit aus Gründen wichtig, die sich nicht auf das Einkommen reduzieren lassen. Diejenigen, die ein Grundeinkommen befürworten, das nicht an Arbeit geknüpft ist, brauchen dies nicht zu leugnen. Es wird von ihnen für selbstverständlich gehalten, dass trotz höherer Besteuerung und einer bequemeren Option nicht zu arbeiten, die Menschen genau deshalb weiter arbeiten werden, weil Arbeit für sie weit mehr bedeutet als nur ein Einkommen zu haben.
Das Ende des Wohlfahrtsstaates?
Bedroht die Einführung eines Grundeinkommens nicht die Existenz unserer Wohlfahrtsstaaten? Im Gegenteil, es kommt zu ihrer Rettung. Selbstverständlich ist ein Grundeinkommen keineswegs eine Alternative zu einem öffentlich finanzierten Bildungs- und Gesundheitswesen. Auch soll es kein kompletter Ersatz für einkommensbezogene Sozialversicherungsleistungen sein, und soziale Hilfsleistungen werden nicht vollständig verschwinden. Weil es sowohl individuell als auch universell ist, wird ein Grundeinkommen in vernünftiger Höhe es uns nicht ermöglichen, auf bedürftigkeitsgeprüfte Aufstockungen für Menschen in bestimmten Situationen zu verzichten. Eine bedingungslose Basis unter dem bestehenden Sozialstaat einzuführen, wird diesen nicht demontieren, sondern unsere so nachjustierten Sozialversicherungs- und Sozialhilfesysteme stärken.
Es ist nicht weit hergeholt zu vermuten, dass der Mangel an Begeisterung für das Grundeinkommen unter SozialdemokratInnen und in ArbeiterInnenorganisationen etwas mit der wichtigen Rolle zu tun hat, die sie bei der Einführung, Entwicklung und Verwaltung der Sozialversicherungssysteme spielten, die jetzt den Hauptteil der meisten unserer Wohlfahrtsstaaten bilden.
Dieser Widerstand ist durchaus verständlich, ja lobenswert. Aber das entbindet SozialdemokratInnen nicht davon, die eigene Lehre zu aktualisieren, um die Anforderungen unseres Jahrhunderts besser angehen zu können: ein Jahrhundert, in dem sowohl Erwünschtheit und Möglichkeit von unbegrenztem Wachstum die Selbstverständlichkeit verloren hat, auf die SozialdemokratInnen im vorigen Jahrhundert setzten; ein Jahrhundert, in dem lebenslange Vollzeitlohnarbeit nur für eine Minderheit möglich und wünschenswert sein wird; ein Jahrhundert, in dem die Linke das Thema der Freiheit nicht der Rechten überlassen darf.
Das dritte Modell
Die soziale Sicherung erfordert heute Raum für ein drittes Modell, das sich sowohl grundsätzlich vom alten Modell sozialer Unterstützung (öffentliche Wohltätigkeit) als auch vom Sozialversicherungsmodell (ArbeiterInnensolidarität) unterscheidet, mit dem die Sozialdemokratie eng verbunden war und das sie sich zu verteidigen verpflichtet fühlt.
Um in der Lage zu sein, gegenwärtigen Herausforderungen zu begegnen, muss sich die Linke vom „Laborismus“ zum „Sozialismus“ bewegen. Sie muss vollständig anerkennen, dass der Großteil unserer Realeinkommen nicht die Frucht des Einsatzes der heutigen ArbeiterInnen ist, sondern ein Geschenk der Natur, zunehmend verbunden mit aus der Vergangenheit ererbten Kapitalakkumulation, technologischen Innovationen und institutionellen Verbesserungen. Aus der Perspektive des „Laborismus“ ist die gegenwärtige Generation der ArbeiterInnen moralisch berechtigt, dieses Geschenk im Verhältnis zum Marktwert ihrer Fähigkeiten, zur Länge ihrer Arbeitszeit und zu ihrer Verhandlungsmacht in Anspruch zu nehmen. In einer wirklich „sozialistischen“ Perspektive haben alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen Anspruch auf dieses Geschenk.
Diese emanzipatorischere Perspektive spricht stark für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Es ist nicht etwas, vor dem sich die Linke fürchten muss. Es ist etwas, das sie mit Begeisterung annehmen sollte.
Philippe van Parijs ist Professor an der Fakultät für Wirtschafts-, Sozial- und Politikwissenschaften der Université catholique de Louvain (UCL), wo er den Hoover Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialethik seit seiner Gründung im Jahr 1991 leitet.
Das Original erschien unter dem Titel „Basic Income and Social Democracy“ am 11.04.2016 in Social Europe. Übersetzt und gekürzt von Christof Lammer (Netzwerk Grundeinkommen und sozialer Zusammenhalt – B.I.E.N. Austria).