Wahlen in Bulgarien – und niemand ging hin

Gebäude in Sofia

Tania Orbova analysiert, wie es in Bulgarien vergangenen Sonntag zur niedrigsten Wahlbeteiligung seit über 30 Jahren gekommen ist.

Am zweiten Oktober fanden in Bulgarien zum vierten Mal seit April 2021 Parlamentswahlen statt. Nur 39 Prozent der Bulgarischen Bürger*innen fanden den Weg zur Wahlurne – die niedrigste Wahlbeteiligung der letzten 32 Jahre. In den 1990er-Jahren lag die Wahlbeteiligung hingegen noch bei 90 Prozent. Was ist mit der bulgarischen Demokratie passiert und warum ist mehr als die Hälfte der Bürger*innen so stark vom politischen Prozess enttäuscht?   

Die tiefe politische Krise ist vor allem durch langjährige Probleme in der bulgarischen Parteienlandschaft bedingt. Im Kern manifestiert sich diese gegenwärtig in einem Patt zwischen politischen Kräften des Mitte-Rechts Spektrums, die sich stark im Stil ihrer Selbstdarstellung, jedoch kaum in ihren neoliberalen politischen Inhalten unterscheiden. Ein kurzer Rückblick auf die maßgeblichen politischen Ereignisse der letzten Jahre verdeutlicht, dass die scheinbare „Passivität“ bulgarischer Wähler*innen keineswegs Zeichen mangelnder demokratischer Reife, sondern Ausdruck fehlender politischer Alternativen ist.

Zwölf Jahre neoliberale Reformen

Seit 2009 regierte die konservative Partei „Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens“ (GERB) mit strammer, neoliberaler Ausrichtung. GERBs politischer Kurs machte Bulgarien durch Sparmaßnahmen, Kürzungen der Sozialleistungen, wirtschaftsfreundliche Initiativen und neoliberale Reformen im Gesundheits- und Bildungssystem zur europäischen Spitzenreiterin in Sachen Ungleichheit und Armut. In Österreich und Deutschland wurde die GERB von ihren Parteifreund*innen als verlässliche Partnerin hofiert. Ihre Amtszeit war indes von heftigen Korruptionsskandalen begleitet.

Diese Korruptionsskandale erreichten 2020 ihren Höhepunkt. Aus dem Schlafzimmer von Premierminister Borissow wurden Fotos veröffentlicht, die ihn nackt schlafend neben einem Nachttisch voller Goldbarren, Geldbündel und einer Pistole zeigten. Die Fotos wurden zu einem Synonym für die korrumpierte Staatsführung GERBs und lösten eine breite Protestwelle aus. Den Oppositionsparteien gelang es daraufhin bei den Wahlen im Jahr 2021, eine Mehrheit zu erringen. Sie scheiterten jedoch daran, eine stabile Regierung zu bilden, was dem Land vier kurz aufeinander folgende Wahlen bescherte.

Foto: Schlafzimmer Borissow, Dnevnik

Machtwechsel ohne politischen Wandel

Die letzte Koalition zerfiel am 22. Juni 2022 und bestand aus einer breiten Koalition zwischen den Parteien „Wir setzen den Wandel fort“ (Prodalschawame promjanata, PP), „Es gibt ein solches Volk” (Ima takav narod, ITN), der „Bulgarischen Sozialistischen Partei“ (BSP) und „Demokratisches Bulgarien“ (DB). Die führende Partei PP wurde erst im vergangenen Jahr von einigen Ministern*innen der amtierenden Regierungen gegründet. PP präsentierte sich als moderne, moralisch erhabene Partei des Wandels. Sie versprach, die in der Privatwirtschaft erworbenen unternehmerischen Fähigkeiten ihres Führungspersonals zum Wohle der Nation einzubringen. Diesen Diskurs hört man in Bulgarien jedoch seit mehr als 20 Jahren von fast allen Parteien. Der Großteil liberaler Intellektueller hat nichtsdestotrotz PP als neue Fahnenträgerin für gewissenhafte Geschäftsführung auserkoren.

Die zweite neue Partei, ITN, ist von derselben neoliberalen Ausrichtung geprägt. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass PP die Wahlen am Sonntag verlor und GERB wieder die erste politische Kraft ist. ITN blieb unter der Vier-Prozent-Hürde, während die Neofaschisten von „Vazrazhdane“ ihre Stimmen verdoppelten.

Sinnloses Hickhack statt Ideendebatten

Ebenfalls ident sind die Absichtserklärungen der Parteien, die Korruption zu bekämpfen. Der Kampf gegen die Korruption richtet sich nur auf den öffentlichen Sektor. Der private Sektor soll hingegen durch niedrigere Steuern, Zuschüsse und billige Arbeitskraft unterstützt werden. Fehlende inhaltliche Unterschiede in politischer Ausrichtung und Schwerpunktsetzung führt die etablierten politischen Eliten dazu, Mitbewerber*innen als Teil der „Mafia“, als zutiefst unmoralisch und korrupt anzugreifen, um das eigene Profil zu schärfen. Es ist somit schwer, einen wesentlichen Unterschied zwischen der Politik der „Parteien des Wandels“ und der Parteien des Status quo zu erkennen. Beide Lager kehren dem Thema soziale Gerechtigkeit den Rücken. Stattdessen bieten sie den Bürger*innen bereits vertraute und inhaltsleere Mantras an: Digitalisierung, Innovation und Optimierung. Trotz ihrer Ähnlichkeit scheint eine Koalition jetzt, da die Wahlen vorbei sind, paradoxerweise fast unmöglich.

Kein sozialer Wandel in Sicht

Welche Rolle spielen linke Kräfte in dieser Parteienlandschaft, die von einem vehementen Antikommunismus geprägt ist? Während linke Akteur*innen mit progressivem sozioökonomischen Profil darum kämpfen, über den Status von Splittergruppen hinauszukommen, befindet sich die vormals stolze Volkspartei BSP – zumindest nominal sozialdemokratisch – auf dem Weg zur Kleinpartei. In den 90er und 2000ern Jahren noch regelmäßig (zweit-)stärkste Kraft, landete BSP am Sonntag mit neun Prozent auf dem fünften Platz. 

Im vergangenen Jahr hat sich der Schwerpunkt des politischen Diskurses von der Covid-Krise (über die bulgarische Politiker*innen oftmals geflissentlich hinwegsahen, obwohl Bulgarien eine der höchsten Pro-Kopf-Todesraten der Welt erreichte) auf den Krieg in der Ukraine verschoben. Die politischen Eliten machen jedoch keine Anstalten, die durch den Krieg verursachten sozioökonomischen Probleme zu bekämpfen. Ihre Agenden und die Anliegen der Gesellschaft gehen völlig auseinander. Wie Umfragen zeigen, ist die Mehrheit der bulgarischen Bevölkerung vor allem über den rasanten Anstieg der Lebensmittel- und Heizmittelpreise beunruhigt. Die Inflation liegt in Bulgarien bei 17 Prozent. Angesichts dieser Herausforderungen sind die Auswirkungen des politischen Stillstandes im Land verheerend. Alternative politische Kräfte müssen für die Forderungen der Massen nach ausreichendem Einkommen, kostenlosen Sozialleistungen und progressiver Besteuerung eintreten. Der Weg aus der Sackgasse der bulgarischen Politik kann nur ein sozialer sein.

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