Wer in Belarus auf die Straße geht – und warum

Seit 26 Jahren regiert Alexander Lukaschenko in Belarus, aber seine Tage als Diktator könnten gezählt sein. Seit seiner gefälschten Wiederwahl am 9. August gehen die Menschen auf die Straße – und es werden fast täglich mehr.

Was ist von den Protesten zu halten? Geht es ihnen um Demokratie und soziale Rechte oder um neoliberale und nationalistische Ziele? Welche Rolle spielt die medial stark präsente Oppositionskandidatin Sviatlana Tikhanovskaya wirklich? Und wie konnte sich Lukaschenko überhaupt so lange an der Macht halten?

Diese Fragen beantworten die linken Journalist*innen Ksenia Kunitskaya und Vitaly Shkurin – beide Namen sind zu ihrem Schutz verändert – im Interview mit dem Soziologen Volodymyr Artiukh. Es erschien zuerst auf Englisch im Jacobin Magazine, wir haben es gekürzt und übersetzt. Die deutschsprachige Langfassung findet ihr bei Jacobin Deutschland.

Im Vorfeld der Präsidentenwahl in Belarus haben weder internationale Beobachter*innen noch die Behörden Unruhen dieses Ausmaßes erwartet. Wie kam es dennoch dazu?

Ksenia Kunitskaya: Der erste Grund ist der Überdruss, der sich in dem Vierteljahrhundert unter Lukaschenko aufgestaut hat, zuletzt durch den falschen Umgang mit der COVID-19-Epidemie.

Dazu kommt, dass das Regime den Wohlfahrtsstaat und die sozialen Rechte der Bürger*innen in Belarus seit Jahrzehnten konsequent abbaut. Das wurde zum Beispiel 2004 deutlich, als die Regierung Kollektivverträge durch Einzelverträge mit Arbeiter*innen ersetzt hat. 2017 wollte sie eine Steuer auf Arbeitslosigkeit einführen. Militärdienst-, Elternkarenz- und Studienzeiten werden nicht länger für die Pension angerechnet. In den letzten fünf Jahren hat außerdem die strikte Geldpolitik im Sinne des Internationalen Währungsfonds zu einem Einfrieren der Löhne geführt, während die Preise weiter stiegen.

Vitaly Shkurin: Die belarussische Wirtschaft besteht zu einem großen Teil aus Staatsbetrieben. Die „einfachen Leute“, die üblicherweise Lukaschenko wählten, sind also Arbeiter*innen in staatlichen Fabriken, Lehrer*innen und Ärzt*innen. Dieser öffentliche Sektor wurde in den letzten Jahren ausgehungert. Das hat zu fallenden Löhnen, weniger Arbeitskräften, unbezahltem Zwangsurlaub und einem steigenden Pensionsantrittsalter geführt. Das alles hat die „einfachen Leute“ zwar offensichtlich politisiert, aber bislang zu keiner starken, positiven Agenda geführt.

Wie konnte sich Lukaschenko überhaupt 26 Jahre lang an der Macht halten?

Kunitskaya: Bei seinem ersten Wahlsieg 1994 genoss Lukaschenko breite Zustimmung. In den 2000ern warb er mit konstanten Lohnsteigerungen um Unterstützung und versprach, den Durchschnittslohn auf 500 oder gar 1.000 Dollar zu heben. Daraus wurde wegen mehrerer Wirtschaftskrisen nichts.

Shkurin: Lukaschenkos Wirtschaftsmodell für Belarus basierte darauf, vergünstigtes Öl aus Russland einzukaufen und teurer weiterzuverkaufen. Das funktioniert nicht mehr, seit Russland mehr Geld verlangt und der internationale Ölpreis gefallen ist. Weil Lukaschenko das aktuelle Wohlstandsniveau offenkundig nicht mehr gewährleisten kann, scheint ihm der einzige Ausweg der Neoliberalismus zu sein.

Wer unterstützt Lukaschenko heute noch?

Shkurin: Das Regime nützt die Staatsbetriebe, um politische Kontrolle auszuüben. Die Arbeitslosigkeit beträgt 10 Prozent und das Arbeitslosengeld nur rund 10 Dollar im Monat. Um ihre Arbeitsplätze zu retten, müssen die Staatsbediensteten so einiges tun. Sie arbeiten am Samstag; sie wählen bei vorgezogenen Wahlterminen, wo die meisten Fälschungen passieren; und sie arbeiten in den Wahlkommissionen, die Ergebnisse fälschen. Das alles hat viele von ihnen irgendwann dazu gebracht, gegen Lukaschenko zu stimmen.

Eine zweite Säule von Lukaschenko sind Polizei und Geheimdienste. Sie bekommen besondere Sozialleistungen. Dazu gehören Zuschüsse beim Haus- oder Wohnungskauf, Frühpensionen, Zugang zu Spezialkliniken und Sanatorien. Die Sicherheitsdienste sind außerdem ein soziales Sprungbrett. Arbeitslose aus Kleinstädten können in die Großstädte ziehen, um bei der Polizei zu arbeiten. Im Gegenzug müssen sie ihren Befehlen blind gehorchen – was auch in den ersten Tagen der Proteste zu sehen war.

Wer sind die Leute, die auf die Straße gehen? Wie ist ihre soziale Zusammensetzung, welchen Ideologien folgen sie, welche Sorgen haben sie?

Kunitskaya: Da ist zum einen die traditionelle Opposition aus den 90er Jahren: Nationalist*innen, Liberale und die mit ihnen sympathisierenden Intellektuellen. Zum anderen gibt es viele städtische Jugendliche, Geschäftsleute oder IT-Fachleute, die sich selbst fortschrittlich, westlich und anti-sowjetisch nennen.

Im Wahlkampf hat die national-liberale Opposition bewusst nicht über ihr – unbeliebtes – Programm gesprochen, sondern vor allem faire Wahlen in Belarus verlangt. So ist es ihr gelungen, auch über die genannten Gruppen hinaus zu mobilisieren. Viele Menschen haben Lukaschenko zuvor zumindest passiv unterstützt, als „kleineres Übel“ im Vergleich zur Opposition. Nun sind große Teile der Bevölkerung auf den Straßen, schockiert von der Polizeigewalt und empört über den Wahlbetrug.

Shkurin: Viele orthodoxe Kommunist*innen bezeichnen die Proteste als eine „Revolution der Hipster und Programmierer“. Dabei sind viele der jungen Demonstrant*innen Fabriksarbeiter*innen, Taxifahrer*innen oder Student*innen.

Die Bewegung ist spontan entstanden und folgt keiner klaren Ideologie. Manche tragen die belarussische Fahne, andere die alte Fahne aus den 90er Jahren. Die Proteste gelten deshalb als nationalistisch. Aber die Führer*innen der traditionellen nationalistischen Opposition sind im Gefängnis.

Was ist das Neue an den aktuellen Protesten in Belarus?

Shkurin: Es gibt zwei Besonderheiten: Sie verfolgen keine politischen oder sozialen Ziele, außer der Ablehnung der Wahl. Und sie sind übers ganze Land verteilt. Lange Zeit fanden alle Proteste in Minsk statt und liefen so ab: Marsch durchs Stadtzentrum, dann Treffen auf einem Platz, dann Prügel von der Polizei. All das dauerte selten länger als einen Tag. Die jetzigen Proteste halten schon lange an – und das in vielen verschiedenen Städten.

Kunitskaya: Auch das Ausmaß der Gewalt ist neu und für viele nicht mehr nur ein abstraktes Bild in den Nachrichten. Eine große Zahl an Menschen hat persönlich Gewalt erlebt oder kennt Opfer.

Shkurin: Und die Gewalt geht vor allem von der Polizei aus. Niemals zuvor hat es in Belarus dieses Ausmaß an Blendgranaten, Tränengas und Gummigeschoßen gegeben. Es waren auch noch nie so viele Demonstrant*innen zugleich im Gefängnis. Ich denke, der Staat wollte die Menschen einschüchtern, hat aber das Gegenteil bewirkt.

Die Proteste werden oft mit den „Farbrevolutionen“ im postkommunistischen Raum verglichen, oder mit den Massenprotesten in der Ukraine 2014. Was haltet ihr davon?

Shkurin: Ich sehe wenig Ähnlichkeiten. Der Vergleich mit dem „Euromaidan“ 2014 in Kiew [in dessen Folge die ukrainische Krim von der Russischen Föderation annektiert wurde und Krieg im Osten des Landes ausbrach, Anm.] dient dazu, Lukaschenko für alternativlos zu erklären. Im Gegensatz zur dortigen Bewegung gibt es in Belarus keine rechtsextremen, gewalttätigen Gruppen in einer Führungsrolle. Unsere Proteste haben nicht einmal klare Anführer*innen: Die traditionellen Oppositionellen sind im Gefängnis, die Präsidentschaftskandidatin Sviatlana Tikhanovskaya ist in Litauen. Ich bin mir sicher, dass es zu keinem Krieg wie im Donbass in der Ost-Ukraine kommt. Es gibt in Belarus weder einen sprachlichen noch einen ideologischen Ost-West-Konflikt.

Wie ist die Lage der belarussischen Linken?

Kunitskaya: Die Linke ist seit langem in der Krise, weil Lukaschenko mit quasi-sozialistischen Slogans an die Macht gekommen ist. Wenn Rechte ihn als „sowjetisch“ oder „kommunistisch“ bezeichneten, schien ihn das nicht zu stören. Sowjetische Denkmäler, Straßennamen und Feiertage sind zur Gänze erhalten geblieben. Außerdem führte die Diktatur dazu, dass nur jene nicht-regimetreuen politischen Kräfte und Medien überleben konnten, die Unterstützung aus dem Ausland erhielten. Große amerikanische und europäische Stiftungen geben Geld – aber nur an nicht-kommunistische Kräfte. Deshalb haben wir keine großen linken Medien oder Parteien.

Es gibt die Kommunistische Partei von Belarus, die das Regime und selbst seine abscheulichsten unsozialen Maßnahmen unterstützt. Außerdem gibt es die Partei „Eine gerechte Welt“, welche die Forderungen der liberalen Opposition nach einem Regimewechsel unterstützt und sich weniger auf die Klassenfrage konzentriert. Und es gibt Basis-Initiativen: marxistische Zirkel, kleine Medien, Interessensgruppen und kleine anarchistische Vereinigungen.

Wie verhalten sich diese verschiedenen linken Gruppen zu den Protesten?

Kunitskaya: Ein Teil unterstützt die liberalen Proteste direkt, sie engagieren sich direkt oder und unterstützen mit Statements. Ein anderer Teil verteidigt das Recht der Menschen auf Protest, verdammt die Polizeigewalt und die gefälschten Wahlen – schließt sich aber nicht der liberalen Opposition an, weil diese Privatisierungen, Einschnitte bei der Gesundheitsversorgung und noch flexiblere Arbeitsverhältnisse will.

Einige Basis-Initiativen versuchen, wirtschaftliche und soziale Anliegen in die Proteste einzubringen. Denn im Moment gibt es nur breite politische Forderungen: Lukaschenkos Rücktritt, Freiheit für die politischen Gefangenen, Gerichtsverfahren gegen die Sicherheitskräfte, faire Wahlen.

Welche Rolle spielen Gewerkschaften?

Kunitskaya: Es gibt nur einen großen Gewerkschafts-Verband, und der ist Teil von Lukaschenkos bürokratischem Apparat. Seine Aktivitäten beschränken sich darauf, Feiertags-Feste zu organisieren und Gutscheine in Altersheimen auszuteilen. Diese „Gewerkschaft“ hat nichts mit dem Schutz von Arbeiter*innen-Rechten zu tun.

Shkurin: Die wenigen unabhängigen Gewerkschaften, die Anfang der 90er Jahre entstanden, wurden zerschlagen. Sie existieren nur mehr in wenigen Unternehmen. Diese unabhängigen Gewerkschaften ähneln eher NGOs und hängen mehr von ausländischen Spenden als Mitgliedsbeiträgen ab. Sie bieten vor allem rechtlichen Beistand für einzelne Arbeiter*innen.

Die Arbeiter*innen bringen sich immer stärker in die Proteste ein. Welche Ziele verfolgen sie? [Das Interview wurde vor Beginn der Massenstreiks diese Woche geführt, Anm.]

Shkurin: Wir erleben gerade die größte Protestbewegung von Arbeiter*innen in Belarus seit 1995. Damals wurde ein großer U-Bahn-Streik brutal niedergeschlagen. Bis jetzt haben die Arbeiter*innen aber keine sozialen, sondern nur allgemeine demokratische Forderungen gestellt, die mit den liberalen Protesten übereinstimmen.

Das ist auch wenig überraschend. Traditionelle politische Parteien, ob links oder rechts, spielen in den Protesten keine Rolle. Die ideologische und praktische Inspiration kommt aus den Medien, auch den sozialen Medien. Reichweitenstark sind vor allem diejenigen, die eine liberale und nationalistische Agenda verfolgen. Wenn die Arbeiter*innen so indoktriniert werden, wo soll dann eine klassenbewusste Arbeiter*innenbewegung herkommen?

Anmerkung: Seit Montag, 17. August, sind fast alle staatsnahen Betriebe von Streiks erfasst worden. An den Demonstrationen beteiligen sich über 100.000 Menschen, weit mehr als an den Kundgebungen des Regimes. Lukaschenko droht unterdessen mit einer weiteren Eskalation der Polizeigewalt.

 

Ksenia Kunitskaya arbeitet beim Online-Magazin Poligraf. Vitaly Shkurin schreibt für September, ein linkes Medium über den postsowjetischen Raum.

Volodymyr Artiukh ist Soziologe und Sozialanthropologe, spezialisiert auf die politische Ökonomie der postsojwetischen Gesellschaften. Er ist Mitherausgeber von Commons: Journal of Social Criticism.

Übersetzung: Valentin Schwarz

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