Keine Zeit zu wählen: Schlechte Arbeitsbedingungen beeinflussen politische Teilhabe

Leeres EU-Parlament

Wer viel arbeitet, hat wenig Zeit, sich politisch einzubringen. Das trifft insbesondere Frauen sowie Männer am unteren Ende der Berufshierarchie, wie eine Studie von Jianghong Li, Heiko Giebler, Rebecca Wetter, Hannah Kenyon Lair und Julia Ellingwood zeigt.

Politische Teilhabe, selbst in der einfachen und institutionalisierten Form der Wahlbeteiligung, braucht Zeit: Zeit, sich über das politische Geschehen und über Wahlprogramme zu informieren und dann eine informierte Entscheidung zu treffen. Neben zivilgesellschaftlichen Fähigkeiten und Geld ist Zeit eine wichtige Ressource für politische Beteiligung.

In ganz Europa beobachten wir in den letzten Jahren einen Trend zu längeren Arbeitszeiten und zu vermehrter Arbeit am Abend, in der Nacht und am Wochenende. Dieser Trend zu langen und sozialunverträglichen Arbeitszeiten vermindert unsere verfügbare Zeit für politische Beteiligung. Forschung aus Kanada konnte in einer Pionierstudie bereits einen negativen Effekt von langen Arbeitszeiten auf die grundlegendste Form von politischer Beteiligung nachweisen – auf die Wahlbeteiligung. Neben dem direkten Effekt mangelnder zeitlicher Ressourcen spielen auch negative Auswirkungen der fehlenden Zeit auf andere Lebensbereiche eine Rolle.

Studien haben festgestellt, dass lange und sozial unverträgliche Arbeitszeiten gesundheitsschädigend sein können – gerade für Frauen, die dann in Schwierigkeiten kommen, Beruf und Familie zu vereinbaren. Dabei wurden negative Auswirkungen auf den allgemeinen Gesundheitszustand bestätigt, vor allem aber auf die psychische Gesundheit. Eine schlechte gesundheitliche und mentale Verfassung kann eine Hürde für Wahlbeteiligung darstellen. Weitere Mechanismen könnten sein, dass lange und sozial unverträgliche Arbeitszeiten soziale Integration und politisches Interesse verringern. Diese beiden Faktoren aber wirken sich sonst positiv auf die Wahrscheinlichkeit der Wahlbeteiligung aus.

Erste vergleichende Studie für Europa

Wir haben außerdem erwartet, dass der negative Effekt langer und sozial unverträglicher Arbeitszeiten auf die Wahlbeteiligung je nach Geschlecht und Berufsstatus unterschiedlich ausfällt. Trotz hoher Arbeitsmarktbeteiligung übernehmen Frauen in den meisten europäischen Ländern weiterhin einen erheblich größeren Teil der Haushalts- und Erziehungsarbeit. Die Doppelbelastung durch ungleich verteilte Care-Arbeit führt zu weniger Freizeit für Frauen – Zeit, die sie für Erholung, aber auch für politische Beteiligung nutzen könnten. Zusätzlich haben Forscher*innen festgestellt, dass Männer risikofreudiger sind und auch bei vergleichsweise geringer politischer Informiertheit bereit zu politischer Beteiligung sind, während Frauen ein höheres politisches Wissen als Voraussetzung für diese Beteiligung sehen.

In einer ersten vergleichenden Studie für Europa haben wir diese theoretischen Erwartungen getestet. Die Ergebnisse der Analyse bestätigen unsere Vermutungen: Lange (mehr als 45 Wochenstunden) und sozial unverträgliche Arbeitszeiten (mindestens einmal pro Woche am Abend oder in der Nacht, oder mindestens einmal im Monat am Wochenende) wirken sich negativ auf die Wahlbeteiligung von Frauen aus. Dieser negative Effekt ist vor allem bei Managerinnen/Fachkräften/Technikerinnen und am stärksten für Frauen, die im Bereich Bürotätigkeiten/Service/Verkauf arbeiten, zu finden. Für Letztere verringern lange Arbeitszeiten die Wahrscheinlichkeit der Wahlbeteiligung um 12 Prozent. Die Arbeitszeiten haben demnach einen ähnlich hohen Einfluss auf die Wahlbeteiligung wie politisches Interesse oder Nähe zu einer politischen Partei. Hohe Werte bei diesen Faktoren steigern die Wahlwahrscheinlichkeit jeweils um 15 Prozent.

Unterschiede nach Geschlecht UND sozialem Status

Zudem ist Wahlbeteiligung ein sozialer Prozess: Der Austausch mit Kolleg*innen über das politische Zeitgeschehen verstärkt die Wahrscheinlichkeit, eine Stimme abzugeben. Das kann den negativen Effekt langer Arbeitszeiten abfedern, weil die Beschäftigung mit Politik nicht in der Freizeit stattfinden muss. Ein solcher Austausch ist in Berufen mit höherem sozialem Status (zum Beispiel bei Manager*innen oder hochqualifizierten Fachkräften) tendenziell weiterverbreitet als in Beschäftigungen am anderen Ende der beruflichen Hierarchie (etwa im Service, im Handwerk oder in der Landwirtschaft).

In der Gruppe der Männer finden wir nur bei jenen am unteren Ende der beruflichen Hierarchie – Männer, die als einfache und ungelernte Arbeiter tätig sind – einen negativen Effekt von langen Arbeitszeiten auf die Wahlbeteiligung. Für Männer scheint in Berufen mit höherem sozialem Status der negative Effekt von Zeitmangel durch andere Aspekte wie den Austausch mit Kolleg*innen, die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Fähigkeiten oder finanzielle Ressourcen abgefedert zu werden. Für Frauen wirken sich lange und sozial unverträgliche Arbeitszeiten allerdings auch in hochrangigen Berufen negativ auf die Wahlbeteiligung aus, vermutlich durch die gravierenden zeitlichen Einschränkungen aufgrund einer Doppelbelastung durch berufliche und familiäre Pflichten und Erwartungen.

Negative Aussichten

Vielleicht ist die Lage sogar noch schlechter, als wir in unserer Studie zeigen konnten. Denn erstens standen uns nur Querschnittsdaten zur Verfügung, also Momentaufnahmen, die vor mehr als zehn Jahren erhoben wurden. Wenn Personen langen Arbeitszeiten über einen langen Zeitraum hinweg ausgesetzt sind, könnte dies die Wahlbeteiligung stärker reduzieren, als wenn dies nur für einen kurzen Zeitraum der Fall ist. Zweitens sind die Trends zu langen, unvorhersehbaren und unsicheren Arbeitszeiten seit 2010 gestiegen, insbesondere während der COVID-19-Pandemie. Home-Office und sozial unverträgliche Arbeitszeiten (abends und nachts) sind für einen Großteil der Arbeitnehmer*innen, insbesondere für erwerbstätige Frauen mit Klein- und Schulkindern, zur Norm geworden. Außerdem hat die sogenannte Plattformökonomie seit 2010 einen Aufschwung erfahren, in der hauptsächlich gering qualifizierte Personen arbeiten, die nun in diesen Berufen prekären Arbeitsbedingungen und sozialunverträglichen Arbeitszeiten ausgesetzt sind.

So lässt sich zumindest vermuten, dass die durch Arbeitsbedingungen hervorgehobene Selektivität der Wahlteilnahme heute noch stärker ausfällt, als dies zum Zeitpunkt der Datenerhebung im Jahr 2010 der Fall war.

Gesellschaftspolitische Konsequenzen

Unsere Ergebnisse zeigen, dass lange und sozial unverträgliche Arbeitszeiten nicht nur der Gesundheit und dem Wohlbefinden der Arbeitnehmer*innen und ihren Familien schaden, wie dies bereits in zahlreichen Studien nachgewiesen wurde. Sie beeinträchtigen darüber hinaus auch die demokratische Gleichheit. Diese Arbeitszeiten sind ein Hindernis für Frauen und auch für Männer am unteren Ende der Berufshierarchie, sich an der Demokratie zu beteiligen – und zwar bereits mit Blick auf die Teilnahme an Wahlen, einer grundlegenden, aber nicht sehr anspruchsvollen Form der politischen Teilhabe. Lange und sozial unverträgliche Arbeitszeiten stellen also gerade für jene ein Hindernis dar, die ohnehin in anderen Bereichen ebenfalls zu benachteiligten Gruppen zählen.

Maßnahmen für mehr Teilhabe

Wann immer es um politische Teilhabe geht, sollte es das Ziel sein, dass sich möglichst alle Personen beteiligen können und eine Nichtteilnahme eine freiwillige und bewusste Entscheidung darstellt. Entsprechend sollten Hürden für die Teilnahme abgebaut werden. Im Kontext von Wahlen sind hier beispielsweise die Möglichkeit der Briefwahl, keine notwendige Registrierung ins Wahlregister, lange Öffnungszeiten von Wahllokalen und die Durchführung von Wahlen an „freien“ Tagen zu nennen. Zum anderen liegt es aber natürlich auch an den Parteien und Kandidierenden, entsprechende und ansprechende Programmvorschläge zu machen, um möglichst viele Personen zur Teilnahme zu motivieren. Kurz: Es gilt Kosten zu senken und den Nutzen zu erhöhen.

Mit Blick auf die Rolle der Arbeitsbedingungen liegen potenzielle Lösungsvorschläge auf der Hand, wenn man die Liste der Empfehlungen verschiedener Studien betrachtet – etwa die stärkere Kontrolle des Arbeitsschutzes, der maximalen Arbeitszeiten oder auch eine höhere Entlohnung von Überstunden und Nachts- bzw. Wochenendarbeit. Denkbar wären zudem auch andere Entlastungsmaßnahmen, wie frühe und kostenfreie Kinderbetreuung, um die Gesamtarbeitsbelastung zu verringern. Auch so ließen sich die angesprochenen Kosten der Teilnahme verringern, da benachteiligte Personen so über mehr Ressourcen verfügen würden.    

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