Israel ringt um seine demokratische Existenz

Blockade einer Autobahn in Tel Aviv, Israel

Seit 24 Wochen gehen hunderttausende Menschen regelmäßig auf die Straße: Es sind die größten und längsten Massenproteste, die Israel je gesehen hat. Ausgelöst durch den Justiz-Coup der extrem rechten Regierung unter Netanjahu, machen die Demonstrant_innen klar, dass es ihnen um weit mehr geht: nämlich um die demokratische Zukunft Israels. Eine Analyse von Veronica Lion aus Israel.

13. Februar: In einem Meer blau-weißer israelischer Fahnen ziehen mehr als 100.000 Menschen vor das israelischen Parlament und den Obersten Gerichtshof in Jerusalem, um ihren Widerstand gegen den „Justiz-Coup” zum Ausdruck zu bringen. Dieser beinhaltet die sogenannte „Außerkraftsetzungsklausel“, mit der künftig eine einfache Mehrheit im Parlament Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs aufheben kann. Das Parlament soll außerdem die Mehrheit im Ausschuss zur Auswahl aller Richter_innen bilden. Seither demonstrieren jeden Samstag Hunderttausende im ganzen Land.

Einen besonderen Motivationsschub erfuhren die Pro-Demokratie-Proteste vergangenen Samstag: Nachdem die regierende Koalition aufgrund interner Uneinigkeiten die geplante Wahl für den Richter_innenausschuss vertagte, stoppte die Opposition die Verhandlungen. Oppositionsführer Yair Lapid schloss sich den Samstagsprotesten an. 

Rechte Handlungsspielräume und persönliche Interessen

Die Justizreform, wie sie von Verfechter_innen verharmlosend genannt wird, ist Teil des anhaltenden Versuchs der aktuellen rechtsextremen Regierung, sich immer mehr Handlungsspielraum zu verschaffen und sich somit von der imaginierten linken Kontrolle zu befreien. Tatsächlich verkörperte der Oberste Gerichtshof in den letzten Jahren das einzige wirksame Aufsichtsorgan gegen undemokratische politische Akte und wurde daher zum Hauptziel der von rechter Paranoia geprägten Kritik am gesamten Rechtssystem. Die Sachlage widerspricht der rechten Propaganda allerdings: So hat der Oberste Gerichtshof in den letzten Jahren lediglich 10 bis 15 Prozent aller Berufungen angenommen. Und die Mehrheit der derzeitigen Richter_innen wurde sogar von rechten Regierungen unter Premierminister Netanjahu ausgewählt. In den Augen der aktuell rechtesten Regierung, die Israel je gesehen hat, reicht das allerdings noch nicht. 

Netanjahu selbst hat klare persönliche Beweggründe für die Justizreform. Um sich vor einer Verurteilung wegen Korruption zu schützen, verabschiedete er ein Gesetz, das aktive Politiker_innen vor rechtlicher Verfolgung schützt.

Demonstrant_innen vergleichen Netanjahu mit Drogenboss Pablo Escobar

Doch die Absichten und Auswirkungen der Reform gehen weit über Netanjahus Machtphantasien hinaus und drohen das Land grundlegend und für immer zu verändern.

Ein Kampf um die Identität Israels 

Die zweite Intifada Anfang 2000 brachte eine grundlegende Desillusionierung in Bezug auf die Möglichkeit für Frieden mit sich und führte zu einem Zusammenbruch der israelischen Linken, von dem sie sich bisher nicht erholen konnte. Die einst stimmenstärkste Arbeiter_innenpartei Avoda etwa hat es bei den letzten Wahlen kaum ins Parlament geschafft. Ersetzt wurde sie durch eine libertäre Mitte, die seither zunehmend nach rechts gezogen wird, von wachsenden rechten, zionistischen sowie extrem religiösen Kräften. Was entstanden ist, ist ein Kampf um die Identität Israels zwischen extrem religiösen und extrem rechten Gruppen und einer oppositionellen Koalition bestehend aus einem weiten Spektrum von einigen wenigen linken bis hin zu mitte-rechten Positionen. Es ist ein Kampf zwischen der alten Elite (aschkenasisches sekuläres Bildungsbürger_innentum) und der neuen Elite (aschkenasisch, religiös, zionistisch), der die bestehenden Gräben zwischen politischen, religiösen, ethnischen und sozialen Positionen weiter vergrößert. 

Die rechteste Koalition seit der Staatsgründung Israels beinhaltet nicht nur Ultraorthodoxe, die konservativste religiöse Gruppierung Israels, sondern auch ultrarechte, ultranationalistische und fundamentalistische Gruppen, die unter anderem für ihre Verbindungen zu rassistischen, dezidiert antimuslimischen Organisationen (wie etwa der verbotenen Kach Partei) bekannt sind. Sie treiben rechte Politik noch weiter ins Extrem und legen den Grundstein für eine theokratische Diktatur. 

So zielt der juristische Coup unter anderem auch darauf ab, den jüdisch-religiösen Charakter Israels durch die Ausweitung der Autorität von Rabbinergerichten zu stärken, die etwa alleinig über Eheschließungen und Scheidungen für die jüdische Bevölkerung bestimmen. Außerdem könnte die Trennung von Frauen und Männern im öffentlichen Raum ausgeweitet werden, die von religiösen Kräften eingefordert wird. 

Erste Erfolge und Politisierung des Mainstreams

Der anhaltende Druck der Proteste trägt bereits Früchte. Als Netanjahu seinen Verteidigungsminister aufgrund seiner regierungskritischen Äußerungen entließ, gingen noch in derselben Nacht tausende Menschen auf die Straße. Der Minister ist inzwischen wieder eingesetzt. Die Stimmung im Land brodelt. Ein landesweiter Streik am 27. März legte unter anderem den Flughafen lahm und zwang die Regierung, die Umsetzung der Reform zumindest für kurze Zeit auszusetzen. Wirksamen Rückenwind erhält die Bewegung von der High-Tech-Industrie, die Israels Start-up-Ökonomie und wirtschaftliche Zukunft repräsentiert, von den Militärreservisten, die den größten Teil des Militärs ausmachen, sowie von der Luftwaffe, der prestigeträchtigsten israelischen Militäreinheit. Dass sie alle sich politisch äußern und die Proteste aktiv unterstützen, untermauert die politische Dringlichkeit. Diese symbolischen und politischen Kräfte zeugen davon, dass der israelische Mainstream aus seinem politischen Koma erwacht ist.

Frauen im Widerstand

Besonders auffällig an den Protesten ist die hohe Beteiligung von und Führung durch Frauen. Die Organisation Bonot Alternativa protestiert in roten Umhängen und weißen Hüten, inspiriert von der Serie The Handmaid’s Tale nach Margaret Atwood. Sie warnen vor einer dystopischen Zukunft und der Verschlechterung der ohnehin ungleichen Stellung der Frauen. So fürchten Frauen vor allem die Ausweitung der Macht der konservativen Rabbinergerichte, da diese unter anderem die Ehe- und Scheidungsbestimmungen in Israel kontrollieren. Der Oberste Gerichtshof spielte bisher eine wichtige Rolle im Schutz der Rechte von Frauen und anderen politischen Minderheiten, was nun vor dem Aus steht. Die protestierenden Frauen schlagen auch eine Brücke zwischen dem Inhalt der Reform und ihren Auswirkungen auf den Alltag von Frauen in Israel, insbesondere angesichts der zunehmenden Femizide im Land.

Demokratie für alle?

Das Ausklammern der Verbindung zum palästinensischen Widerstand ist eine klassische Strategie politischer Kampagnen in Israel, um den jüdischen und aktuell vorrangig rechten Mainstream zu mobilisieren und dem linken Stigma zu entkommen. Bei den aktuellen Demonstrationen wird das durch die vielen israelischen Fahnen und andere zionistischen Symbole, wie die Unabhängigkeitserklärung, deutlich. Entsprechend gering ist die arabische und palästinensische Beteiligung an den Demonstrationen, die sich nie als Teil der israelischen Demokratie sahen bzw. nicht als gleichwertige Staatsbürger_innen verstanden werden. Die steigende Zahl der Homizide in der israelisch-palästinensischen Gesellschaft wird allerdings durch Schweigeminuten während der jüngsten Proteste anerkannt und das Fehlverhalten der israelischen Polizei im Umgang mit den Gewaltakten kritisiert.    

Kritik kommt auch von anderen politischen Minderheiten, beispielsweise von Mizrahi-Jüd_innen aus Nordafrika und dem Nahen Osten, die in Israel die eigentliche Mehrheit bilden, jedoch sozioökonomisch großteils benachteiligt sind. Die feministische mizrachische Organisation Shovrot Kirot sowie das Civic Mizrahi Collective argumentieren, dass die Proteste nicht eine bloße Rückkehr zum Status Quo vor der Reform fordern dürfen, und dass echte Demokratie von den Stimmen aller unterdrückter Perspektiven angeleitet werden muss. 

Jede_r fünfte Israeli an Protesten beteiligt

Es bleibt abzuwarten, ob sich die Bewegung über die mehrheitlich und typisch weiße, linke Mittelschicht ausweiten kann. Bisher ist es zumindest gelungen, Teile des bislang unpolitischen israelischen Mainstreams für die Massenproteste zu mobilisieren. Umfragen zufolge hat jede_r fünfte Israeli bereits an den Protesten teilgenommen. Wie sehr die Proteste den Alltag aufrütteln, zeigte sich auch daran, dass trauernde Familien beim diesjährigen Gedenktag an Kriegsgefallene keine Regierungsvertreter_innen dabei haben wollten. Nicht einmal dieser nationalistische Trauertag, der sonst als unpolitisch und einigend gilt, konnte diesmal die politischen Kämpfe vergessen lassen. Zeitgleich hatten die zunehmende Gewalt innerhalb Israels sowie an seinen Grenzen, und sogar das kürzliche Aufflammen des Gaza-Konflikts (9. bis 13.5.2023) keinen Einfluss auf die hohe Beteiligung an den Protesten. 

Es bleibt zu hoffen, dass die massenhafte Mobilisierung es schafft, zumindest den demokratischen Status Quo Israels zu retten. Aktuellen Umfragen zufolge könnten die nächsten Wahlen ein Ende Netanjahus bedeuten. Aber es ist wohl nicht realistisch zu erwarten, dass das den jahrzehntelangen Rechtsruck innerhalb der israelischen Gesellschaft aufhalten kann.

Foto: Oren Rozen/Wikimedia Commons

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