Wieder sind binnen Tagen mehr als tausend Menschen im Mittelmeer ertrunken. Frauen, Männer und Kinder sind tot. Menschen, die nichts anderes wollten, als ein Leben in Frieden und Freiheit – und vielleicht die klitzekleine Chance, nicht in Armut und Angst sterben zu müssen. Diesen Wunsch haben sie mit ihrem Leben bezahlt. Zerschellt an den Grenzen des europäischen Wohlstandes.
Fest einstudiert setzt sofort die Bestürzungsmaschinerie ein. Die PolitikerInnen versprechen sofortiges Handeln. Die Medien berichten groß auf Seite eins, und überall kommen die Menschen zu Schweigeminuten zusammen. Bei aller Wichtigkeit der Solidarität und Empörung muss die Debatte aber endlich darüber hinausgehen und die Gründe für die immer größeren Flüchtlingsströme an die Oberfläche bringen.
Warum fliehen Menschen nach Europa?
Menschen riskieren nicht all ihren Besitz und ihr Leben, weil sie gern den Eiffelturm sehen, bei McDonalds arbeiten, vor Supermarktfilialen betteln und am Rande der Gesellschaft ausgegrenzt werden wollen. Die meisten würden, genauso wie wir, nichts lieber machen, als mit den Menschen die sie lieben in ihrer Heimat zu leben und zu arbeiten. Doch diese Chance bekommen sie nicht. Es sind Menschen, deren Alltag von Krieg, Tod, Terror, Hunger, Umweltzerstörung und keiner Chance auf Besserung bestimmt ist. Sie sind verzweifelt und haben meist keine andere Wahl, als die lebensgefährliche Reise Richtung Europa anzutreten. Eine Beurteilung, wie groß Hoffnungslosigkeit dafür sein muss, brauchen wir uns nicht anmaßen. Vielmehr ist es unsere Pflicht, uns immer wieder vor Augen zu führen, was diese Menschen überhaupt in die Flucht zwingt.
Sie fliehen vor uns
Viele der Menschen, die wir im Mittelmeer bewusst haben sterben lassen, sind vor den Folgen eines Wirtschaftssystems geflohen, das wir hier in Europa als alternativlosen Wohlstandsgenerator feiern: dem Globalen Kapitalismus. Er bringt ihnen Tod und Zerstörung, weil sie das Pech haben, in Regionen und Ländern zu leben, in denen unsere Staaten und Firmen Wirtschaftsinteressen haben. So sind reiche Vorkommen an begehrten Rohstoffen einer der Hauptgründe für gewaltsame Konflikte und Kriege. Religiöse oder ethnische Motive werden meist nur als Begründung vorgeschoben. Ziel ist in Wahrheit immer die Kontrolle über Öl, Diamanten, Koltan usw. die für transnationale Konzerne, die Finanzindustrie und lokale MachthaberInnen Milliardengewinne bedeuten. Die Bevölkerungen kommen in der Rechnung nicht einmal mehr vor.
Aber auch wir persönlich nehmen mit unserem ressourcenintensiven Lebensstil bewusst in Kauf, dass Menschen auf Grund von Umweltzerstörung ihre Lebensgrundlage in der Landwirtschaft verlieren. Wortwörtlich schafft uns die Wirtschaft Müll und Verschmutzung aus den Augen und dem Sinn und exportiert beides in arme Länder. Wieder andere fliehen vor unmenschlichen Arbeitsbedingungen und Löhnen in Fabriken, die für unsere Konzerne produzieren. Damit Firmen wie Apple 200 Millionen Dollar Gewinn am Tag machen können.
Zeigen wir Menschlichkeit!
Die Menschen, die sich auf den Weg nach Europa machen, fliehen vor uns – aber sie fliehen auch zu uns. An ihrer Stelle würden wir genau dasselbe tun. Doch statt einmal aufzuschreien und wieder zu vergessen, können wir zumindest die Überlebenden dabei unterstützen, hier trotz allem ein neues Zuhause zu finden, um langsam ihre Wunden zu heilen. Schauen wir deshalb hin statt nur zu, wenn AsylwerberInnen in unsere Städte und Gemeinden kommen, reden wir mit ihnen und laden sie in unsere Leben ein. Wer wenn nicht wir, wird sie hier willkommen heißen?
Die mörderische Politik der Eliten im Mittelmeer und auf der Welt werden wir damit noch nicht ändern können. Wir haben uns dieses System nicht ausgesucht und diese Politik nicht gewählt. Aber solange wir nichts dagegen unternehmen, hängen wir mit drin und treiben täglich Menschen in die Flucht. Lassen wir nicht zu, dass dieses unmenschliche System auch uns unmenschlich macht. Schauen wir den Flüchtlingen nämlich auch noch ohnmächtig zu, wenn sie bei uns ankommen, hat der Kapitalismus wohl wirklich global gewonnen.
Fayad Mulla engagiert sich für internationale Entwicklungszusammenarbeit und ist Vorsitzender von Der Wandel. Seine inhaltlichen Schwerpunkte sind Verteilungsgerechtigkeit sowie Fragen zur Zukunft der Arbeit.