Die neue österreichische Bundesregierung steht in den Startlöchern und sieht sehr anders aus, als noch vor Kurzem befürchtet. Das sollte jedoch mehr ein Grund zum Durchschnaufen als zum Ausruhen sein. mosaik-Redakteur Luca Niederdorfer mit Gedanken zur kommenden Legislaturperiode.
Jetzt ist es dann doch schnell gegangen. Als hätten sie sich nie zerstritten, stehen ÖVP, SPÖ und NEOS vor einer Regierungsbildung. Wie genau es zu diesem Sinneswandel kam, darüber diskutiert die Öffentlichkeit aktuell wenig. Es scheint eher ein Aufatmen nach den Wochen des Polittheaters zu geben. Ein Polittheater, das bereits mit riesigen Schritten auf das schlimmst mögliche Ergebnis zugesteuert war. Insofern können auch soziale Kräfte kurz durchatmen. Wir sind noch einmal mit einem blauen Auge statt einem blauen Kanzler davongekommen. Ausruhen sollten wir uns allerdings nicht zu lange. Wir haben im Endeffekt nur Zeit gewonnen. Zeit, die wir zwar ohnehin nicht haben aber deswegen umso mehr nutzen müssen.
Hinter verschlossenen Türen
Über die konkreten Inhalte der kommenden Regierung kam lange nichts nach außen. Ironischerweise waren es wieder Posten und Ministerien, über die öffentlich diskutiert wurde. Hier dürften SPÖ und NEOS durchaus zufrieden sein. Der SPÖ fallen Kultur-, Umwelt-, Sozial- und Justizministerium zu. Auch das Finanzministerium ist erstmals seit 25 Jahren nicht in schwarzer oder blauer Hand. Es wirkt, als hätten die Roten ihre Verhandlungsposition bestmöglich ausgenutzt. Was das in der Praxis bedeutet und ob die SPÖ tatsächlich ihre sozialen Themen aus dem Wahlkampf durchbringen wird, bleibt abzuwarten. Die NEOS haben mit Bildung und Äußeres jene Ministerien bekommen, deren Themen seit Jahren ihre Steckenpferde sind. Regierungsbeteiligung auf Bundesebene ist allerdings Neuland für sie. Und die alteingesessenen Parteien ÖVP und SPÖ sind vielleicht nicht die besten Partner, um ihre im Wahlkampf angekündigte Reformpolitik durchzusetzen. Auch hier bleibt also unklar, ob Raum für progressive Ideen bleibt.
Für linke Kräfte bleiben also viele Fragen offen. Die akute Ausgangslage ist besser als unter Blau-Schwarz, aber wir stehen dennoch an einem anderen Punkt als noch vor einigen Jahren. Es mag vorerst wie das Ende des Stillstands in einem politischen Tauziehen wirken. Das Ringen um die Mitte der Gesellschaft. Doch dieses Ringen wurde im Prozess der letzten Monate womöglich dennoch verloren. Vielleicht sogar darüber hinaus, die letzten Jahre, das letzte Jahrzehnt. Die rote Linie ist schon lange nicht mehr da, wo sie einmal war. SPÖ und Grüne mögen zwar noch versuchen, einen totalen Kontrollverlust zu verhindern, ihr Plan dafür sind jedoch scheinbar kleine Trippelschritte zur sich ständig nach rechts verschiebenden Mitte. Auf der anderen Seite stehen FPÖ und ÖVP, die ihr Seilende inzwischen am Thema der Migration festgebunden haben.
Diskurs oder Gewalt?
Die Reaktionen auf den tragischen islamistischen Anschlag in Villach zeigen, wie sich der Diskurs zu diesem Thema verschoben hat. SPÖ-Landeshauptmann Peter Kaiser sprach von schärfsten Konsequenzen und Abschiebung. Außerdem kam eine sofortige Forderung nach mehr Polizei und Überwachung von SPÖ und ÖVP. Innenminister Gerhard Karner lässt nach eigenen Angaben Möglichkeiten für „anlasslose Massenkontrollen“ von Asylwerber*innen prüfen. Dies sei momentan in Asylunterkünften möglich, jedoch nicht in Privatunterkünften. Übersetzt heißt das, dass die ÖVP syrische und afghanische Asylwerber*innen öffentlich unter Generalverdacht stellt und ohne konkreten Grund die privaten Wohnungen dieser Personen kontrollieren möchte. Jener Personen, die im Katastrophenfall ohne Zögern anpacken oder sich mit Demos gegen Terror aussprechen, um sich abzugrenzen, während unsere Regierung sie in eine Schublade steckt.
Auch die grüne Generalsekretärin Olga Voglauer meinte nach dem Anschlag, Gewalt habe in Österreich keinen Platz und dass der Täter mit der „vollen Härte des Rechtsstaats zur Rechenschaft gezogen werden muss“. Was ist diese volle Härte? Sollte der Rechtsstaat nicht ohne solche Superlative funktionieren? Stattdessen wird gewaltvolle Sprache verwendet, um über Gewalt zu sprechen. Gerade von – im Selbstverständnis – linken Parteien würde man sich ein Ende der Doppelmoral wünschen. Islamistische Anschläge sind genauso wie die Ideologie dahinter zu verurteilen. Den Hinterbliebenen – im engen wie im weiten Sinn – muss Empathie und Unterstützung zuteil werden. Und es braucht Strategien abseits von Law-and-Order-Rhetorik, wie solche Anschläge in Zukunft zu verhindern sind.
Dabei darf aber nicht nur von islamistischen Anschlägen gesprochen werden. Gewalt ist in unserer Gesellschaft tief verankert und kein importiertes Problem, wie es so gerne dargestellt wird. Doch wo sind die Trauerbekundungen und Rechtsstaatsbekenntnisse der Parteien bei jedem einzelnen Femizid? Bereits drei davon gab es dieses Jahr. Politische Zugeständnisse und eine generelle Verurteilung eines Systems der patriarchalen Gewalt blieben aus. Es tut sich etwas in der öffentlichen Wahrnehmung des Themas. Wichtige Präventivmaßnahmen konnten jedoch nur durch unermüdlichen zivilgesellschaftlichen Einsatz erkämpft werden. Es braucht aber mehr und Lippenbekenntnisse und gewaltvolle Rhetorik können keine Antwort sein.
Leere Floskeln statt Antworten
Politiker*innen sprechen gerne davon, dass wir die Radikalisierung in der Gesellschaft bekämpfen müssen. Dabei tun sie selbst tagtäglich das Gegenteil. Sie radikalisieren die Gesellschaft im Ganzen. Auf der einen Seite radikalisieren sie Menschen, die vor Krieg und Unterdrückung flüchten, indem sie sie von Anfang an an den Rand der Gesellschaft stellen. Kaum in Österreich angekommen, müssen sich geflüchtete Menschen offenbar Tag für Tag ihr Recht, hier zu sein, erarbeiten. Und wenn sie sich dann durch diese Prozesse gekämpft haben, werden sie von der Politik als Beispiel verwendet, um ihr Narrativ der guten und bösen Migrant*innen zu füttern. Gleichzeitig radikalisieren sie Menschen genau dadurch, diese Trennung zu internalisieren. Uns wird beigebracht, Menschen einzuordnen, anstatt ihnen offen zu begegnen. Die Gesellschaft wird dadurch verroht und vergiftet. Sie wartet nur auf die nächste Möglichkeit, ihre rassistischen Fantasien ausleben zu können.
Während die Antwort auf Gewalt in diesem Fall noch mehr Gewalt ist, gibt es bei anderen Herausforderungen gar keine Antworten. Die Klimakatastrophe steht nicht mehr kurz bevor, sondern ist da. Klimaziele werden nach hinten verschoben, anstatt radikale Maßnahmen zu setzen. Wohnkosten steigen nach wie vor schneller als Löhne und dennoch schaffen es progressive Ideen nicht über Gemeindegrenzen hinaus. Es gibt einen Equal-Pay-Day und er ist nicht am 1. Jänner. Care-Berufe, die mehrheitlich von FLINTA*-Personen ausgeübt werden, sind noch immer unterbezahlt. Dazu kommt eine Doppelbelastung mit privater, unbezahlter Care-Arbeit. Antworten darauf, wie von der KPÖ in Graz, sind von der Bundespolitik nicht zu erwarten. Sie hat keine Lösungen für die Krisen unserer Zeit. Und die Antworten werden auch nicht von der geplanten Regierung kommen. Sie müssen in Bewegungen erstritten werden. Sie müssen von jenen formuliert werden, die ohne politische Angst sagen können, dass nichts so bleiben kann, wie es ist.
Unbedingte Veränderung
Klar ist also, die Linke kann sich jetzt nicht darauf ausruhen, dass zumindest vorerst kein Kanzler Kickl kommt. Verhindert hat das nämlich nur die FPÖ durch ihre eigene Machtgier – nicht die politische Mitte oder ein starkes zivilgesellschaftliches Engagement. Die größten Donnerstagsdemos waren zwar nicht schlecht besucht, doch den Ernst der Lage spürte man nur selten. Keine Brandreden, kein ständiger Call to Action, dafür viele Floskeln und ein generelles Gefühl eines Szene-Happenings. „Es ist wieder Donnerstag“ als Slogan, der mancherorts fast freudige Gefühle auslöst. Dabei sollten wir daran arbeiten, dass wir sagen können „endlich nicht mehr Donnerstag“. Diesmal sind wir also hauchdünn an der Katastrophe vorbeigeschrammt.
Wie das bisschen mehr Zeit also nutzen? Wir müssen Alternativen aufbauen, in unserem sozialen Netzwerk, in unserem Arbeitsumfeld. Wir müssen eine klare antirassistische Politik fordern, migrantische Selbstorganisierung unterstützen und Formen gemeinsamer Praxis finden. Wir müssen die Klimakatastrophe mit allen Mitteln bekämpfen und uns gemeinsam auf den Kollaps vorbereiten. Wir müssen Arbeitskämpfe unterstützen und Solidarität nicht nur als Floskel, sondern als gelebte Praxis sehen. Wir müssen Netzwerke aufbauen, in denen wir Care-Arbeit gerecht verteilen können.
Und dennoch brauchen wir bei all diesen Themen eine parlamentarische Kraft, die diese Interessen vertritt. In Deutschland hat es die LINKE mit einem Comeback in den Bundestag geschafft. Bei aller Kritik an der Partei gibt es dort die nächsten Jahre zumindest eine Kraft, die soziale Probleme vehement thematisiert. Wir haben diese Kraft derzeit nicht. Deswegen müssen wir auch die SPÖ von links vor uns hertreiben. Wir müssen die Logik der Großparteien brechen, dass gegen rechte Politik nur rechte Politik hilft und SPÖ und Grüne vor die Entscheidung stellen, auf welcher Seite der verschobenen Mitte sie stehen wollen.
Realistisch bleiben
Linke Themen müssen wieder mehrheitsfähig werden und das über Miteinander, Organisierung und Austausch. Diese Alternativen müssen wir nachhaltig aufbauen. Sie dürfen nicht an einen Rhythmus der Legislaturperioden angepasst sein. Wir können nicht mehr oder weniger aktiv sein, je nachdem wer gerade regiert. Es braucht Alternativen, die sich von dieser periodischen Logik losreißen und unabhängig davon Ziele verfolgen. Mit kleinen Schritten und kurz- bis mittelfristigen Erfolgen können wir aus der Handlungsunfähigkeit kommen. Gemeinsam können wir die Müdigkeit ablegen, die es uns oft so schwer macht.
Dafür braucht es kurzfristigen und langfristigen Einsatz, aber auch Kompromissbereitschaft. Wir müssen wieder lernen, mit Dissens umzugehen und Menschen mit abweichenden Meinungen nicht kategorisch abzulehnen. Um linke Themen mehrheitsfähig zu machen, müssen wir mehr werden. Und dafür müssen wir verstehen, dass wir alle zwar in derselben Welt, aber auch in unserer eigenen Realität leben. Denn die Welt, in der wir gemeinsam leben, ist weit von der Utopie entfernt, die in manchen Köpfen bereits existiert. Wir werden sie nicht von heute auf morgen dorthin bringen. Und auch nicht in fünf Jahren.