Willkommenskultur 2.0: Warum 2020 ein zweites 2015 werden kann

An den EU-Außengrenzen eskaliert die Gewalt. Wie schon 2015 versagt die Politik und wie damals liegt die Kraft gegen die Krise in der Zivilgesellschaft, schreibt Nationalrätin und Aktivistin Faika El-Nagashi.

„2015“ ist in aller Munde. Das Jahr dürfe sich nicht wiederholen, wir würden uns immer noch daran abarbeiten – so die repetitiven Wordings der ÖVP angesichts der eskalierenden Gewalt gegenüber Flüchtenden an den EU-Außengrenzen und Kriegsschauplätzen und Forderungen nach Menschlichkeit und Menschenrechten und, letztendlich, der gesteuerten Aufnahme von Schutzsuchenden auch in Österreich.

Dabei war die zentrale Akteurin 2015 keinesfalls die Politik, sondern die engagierte Zivilgesellschaft, die zu einer politischen Kraft wurde.

Wer 2015 versagte

2015 begann mit dem absichtlich herbeigeführten und inszenierten staatlichen Versagen in der Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten in Traiskirchen.

Erst durch die Veröffentlichung des Monatsmagazin Datum von Bildern und Videos aus dem Lager – von Geflüchteten selbst mit Handys aufgenommen; für die Medien war der Zugang bis dahin nahezu unmöglich – entstand Druck: Menschen schliefen in völlig überfüllten Sälen, auf Gängen, draußen auf dem Boden, in Bussen. Die Duschen waren zu wenig und kaputt. Frauen waren nicht sicher, unbegleitete Minderjährige blieben alleine. Stundenlanges Anstehen für medizinische Versorgung, Asylanträge wurden nicht bearbeitet, es fehlte überall an Informationen.

Ein Bild des völligen Versagens. Und menschlicher Not.

Die Politik diskutierte in einem eigens anberaumten Asylgipfel Bundesländerquoten in der Verteilung von Schutzsuchenden – und versagte weiterhin. Auf dem Nachbargelände des völlig überfüllten Flüchtlingslagers errichteten Polizeischüler 60 Bundesheerzelte für 480 Asylsuchende. Der Notstand sollte kommuniziert werden. Alles andere könnte ja ein „Pull-Faktor“ sein.

Überall Solidarität

Und es wurde tatsächlich einer. Für die Zivilgesellschaft. „Die Zivilgesellschaft“. Studierende und Pensionist*innen, Handwerker, Lehrerinnen, Sozialarbeiter, Journalistinnen, Nonnen, Landwirte, katholisch, kommunistisch, muslimisch, atheistisch, Migrant*innen und Mehrheitsangehörige, Einzelpersonen, kleine Freundesgruppen, politische Kollektive.

Sie fuhren jeden Tag mit Bahn, Bus, Rad oder Auto nach Traiskirchen, um Geflüchtete zu versorgen: Essen, Windeln, Hygyieneartikel, Schlafsäcke, Zelte, Zigaretten. WLAN-Hotspots, Spielenachmittage, Dolmetschen, Rechtsberatung. Seite an Seite sammelten, schlichteten und verteilten wir Kleidung.

Die Zivilgesellschaft übernahm

Es folgten Tage und Nächte auf den Bahnhöfen. Der Refugee Convoy Schienenersatzverkehr und Train of Hope. Deutschkurse, Patenschaftsprojekte, Wohnbuddies. Gemeinsames Kochen, Tanzen, Radfahren. An Unis, in Pfarren, Gemeinden, Betrieben, Vereinen. In zahlreichen Initiativen – etliche von ihnen neu gegründet wie die Plattform für eine menschliche Asylpolitik.

Integrationsministerin Susanne Raab hat 2015 kürzlich einen „Kraftakt“ genannt (Integrationsminister damals war übrigens Sebastian Kurz). Ja, es war ein Kraftakt. Ein Kraftakt der Zivilgesellschaft.

2015 war das Jahr, in dem die Zivilgesellschaft übernahm. Das Jahr, zu dem alle einen Bezug und die meisten einen Bezugsmenschen haben. Das Jahr, bevor die Stimmung kippte. Bevor „Willkommenskultur“ ein Schimpfwort und „schreckliche Bilder“ selbstverständlich wurden. Vor der Türkisfärbung der ÖVP und der Regierungsbeteiligung der FPÖ.

1, 2, viele 2015

Wenn sich etwas wiederholen muss, dann ist es genau das. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Zivilgesellschaft eingesprungen ist, wo der Staat versagt hat. Die gelebte solidarische Praxis – und das bereichernde Erleben von Gemeinschaft. Der Druck auf die Politik: 100.000 Menschen gingen am 3. Oktober 2015 in Solidarität mit Geflüchteten in Wien auf die Straße. Das war 2015.

Zivilgesellschaftliche Solidarität. Ohne Kosten-Nutzen-Rechnung. Ohne Budget. Und ohne Ablaufdatum. Auch 2020 meldet sich die Zivilgesellschaft zu Wort. Vom Pfarrnetzwerk Asyl über die Omas gegen Rechts, von der Volkshilfe über die Diakonie. Am 21. März 2020 ruft die Plattform für eine menschliche Asylpolitik zur (Corona-bedingt online stattfindenden) Demo auf: Asyl ist Menschenrecht. Es werden Zehntausende Teilnehmer*innen erwartet.

Es brodelt in den Parteien

Und auch innerhalb der Parteien brodelt es. Hunderte Quartiere stehen in den Bundesländern leer, die Mieten sind zum Teil bereits auf Jahre bezahlt, Gemeinden und Städte wollen helfen. Die Erfahrung von 2015 ist für viele präsent – und positiv. Die Integrationsminister*innen der letzten Jahre hießen Kurz, Kneissl und Schallenberg. Doch die Integrationsarbeit wird von der Zivilgesellschaft geleistet. Kontakte vermitteln, Orientierung geben, das Leben hier erklären, Türen öffnen. Miteinander bangen, lachen, lernen und lieben. Beziehungen herstellen. Beziehungen leben. So entsteht eine – globale – Wertegemeinschaft.

Deswegen ist 2015 so wichtig. Der Moment, in dem wir miteinander in Beziehung treten und einander auf dieser Welt willkommen heißen.

 

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