Erst kürzlich hat „The Economist“ Wien als lebenswerteste Stadt der Welt ausgezeichnet, eine Auszeichnung, die Wien sehr oft bekommt. Doch diese Rankings nehmen kaum Rücksicht auf die Lebensrealität der Menschen, die hier leben. Dass Rassismus das Leben in Wien zur Hölle machen kann, gerät aus dem Blickfeld, schreibt Anna-Maria Apata in ihrem persönlichen Kommentar.
Ich fühle mich machtlos und wütend, während ich in dem Haus eines südasiatischen Botschafters in Wien sitze. Die Tochter ist eine Freundin, die mich im Zuge meines undiplomatischen Wienbesuchs freundlicherweise beherbergt. Hier lässt es sich leben. Mit Panoramablick. Da kommt mir mein Wien echt wie das wahre Paradies vor. Doch die landschaftliche Idylle trügt. Erst vor wenigen Tagen wurde eine Gruppe Jugendlicher vor einem Club von Securities verprügelt. Einer von ihnen wurde dabei, noch während sie ihn am Boden traten, als „Sklave, der es verdient habe“ beschimpft. In dem Video, das ich mir unter Schock anschaue, wird er als „farbig“ bezeichnet. Mein Magen verkrampft sich, ich verbringe die halbe Nacht am WC der Diplomatenfamilie, wo ich meine Tränen unterdrücke, um den Großvater nebenan nicht aufzuwecken. Mir reicht’s. Ich möchte meine Trauer und Wut nicht mehr verstecken.
Dass schon seit zehn Jahren jährlich ein Loblied auf mein zutiefst rassistisches, heterosexistisches, antisemitisches, islamophobes und unfreundliches Wien gesungen wird, ärgert mich. Es macht mich wütend. Nach der Mercer-Studie hat nun auch ein Beratungsunternehmen, das dem Magazin „The Economist“ nahesteht, Wien zur lebenswertesten Stadt der Welt erklärt. Doch für wen ist sie das? Und für wen ist sie das nicht?
Wessen Lebensqualität die Studie erhebt
Die Studie, die für das Städteranking am häufigsten herangezogen wird, ist die Mercer Quality of Living Study. Mercer ist ein Beratungsunternehmen, das speziell im Bereich der Auslandsentsendungen tätig ist. Das ist deshalb so essenziell für den Aussagegehalt der Studie, weil darin nur sogenannte Expatriates befragt werden. Doch Expats sind definitionsgemäß „Fach- oder Führungskräfte, die im Rahmen einer Auslandsentsendung vorübergehend an eine ausländische Zweigstelle entsandt werden“, wobei der Ausdruck in der Alltagssprache weiter gefasst wird.
Es geht also darum, dass Wien für Expats besonders lebenswert ist. Doch was sind Expats, wenn nicht Migrant*innen mit gewissen Privilegien, die meist sogar nur kurzfristig bleiben? Wie aussagekräftig können deren Einschätzung für die breite Bevölkerung sein? Und abgesehen von der breiten Bevölkerung, können sie das Lebensgefühl von Einwander*innen und deren Nachkommen realistisch widerspiegeln?
Wenig verallgemeinerbar
Nehmen wir das Thema Bildung: In der Mercer-Studie geht es nur um das Angebot und den Standard von internationalen Schulen – da ist Wien natürlich top. Es gibt die Vienna International School, die American International School, die Danube International School, das Lycée français usw. Keine Schulen, in die Durchschnittswiener*innen ihre Kinder schicken können.
Neben der Mercer-Studie ist Wien seit zwei Jahren auf dem ersten Platz der Rangliste des Economist Intelligence Unit, einem Prognose- und Beratungsunternehmen, das eng mit der Wochenzeitung The Economist verbunden ist. Zweifel bezüglich der Repräsentativität in diesem Ranking kann allerdings nur prüfen, wer dafür 640 US-Dollar zahlt.
Bewusst keine Wiener*innen befragt
Ich bin zurzeit nur auf Besuch in Wien, doch das freudige Wiedersehen mit meinen Bekannten ist von einem grundsätzlichen Gefühl des Unwohlseins in dieser Stadt überschattet. So sehr ich auch die guten Seiten an Wien sehen möchte, so wenig können mich selbst die besten Studien überzeugen. Mercer etwa behauptet, Objektivität dadurch zu erzeugen, dass nur Expats befragt werden. Mir ist diese verkehrte Logik nur allzu gut bekannt.
Betroffene, in diesem Fall die festen Einwohner*innen der Stadt Wien, gelten meist als voreingenommen und subjektiv. Deren Aussagen können kein Ranking, keine Fakten, kein Wissen erzeugen. Nur persönliche Erfahrungsberichte.
Unsere Wut ist berechtigt
„Menschen mit Migrationshintergrund“ ist eine Bezeichnung, die man weder ins Englische, Französische noch Spanische so richtig übersetzen kann. Nur im deutschsprachigen Raum pocht man so stark auf unsere Abgrenzung. Der bereits eingedeutschte Begriff „People of Color“, kurz PoC, ist zwar gewöhnungsbedürftig, doch zumindest eine Selbstbezeichnung. Ethnische Minderheiten, die in weißen Mehrheitsgesellschaften leben, schließen sich unter diesem Begriff solidarisch zusammen und machen aus ihrer Perspektive Rassismus sichtbar.
Dieser Ausdruck sollte allerdings nicht mit der Bezeichnung „Farbige“ verwechselt werden, der sehr wohl rassistische Untertöne hat, denn „Nicht-Farbige“ haben ihn erfunden. Genauso wie „Nicht-Farbige“ die Rassenideologie erfunden haben, um den Sklavenhandel zu legitimieren.
Kaum jemand hört zu
Wenn sich ein Mensch mir gegenüber als „farbenblind“ deklariert, ist das für mich immer ein großes Warnsignal. Meistens bedeutet das nämlich nicht, dass diese Person all ihren internalisierten Rassismus überwunden hat, sondern einfach gelernt hat wegzuschauen, wenn es um Rassismus geht. Rassismus gibt es überall in Europa. Das ist mir klar. Es geht darum, dass in einer Stadt, die Jahr um Jahr zur Weltbesten ernannt wird, kaum jemand zuhört, wenn man von seinen negativen Erfahrungen als PoC spricht. Ich bin Wienerin, aber Wien ist nicht besonders lebenswert für mich, denn nichts ist so schmerzhaft wie in der eigenen Heimat diskriminiert zu werden.
Im deutschsprachigen Raum gibt es noch viel Bedarf an PoC-Power. Ich bin Journalist*innen wie Vanessa Spanbauer, Tori Reichel, Imoan Kinshasa, Malcolm Ohanwe, Aminata Belli, Alice Hasters und Anna Dushime sehr dankbar für ihre Arbeit. Doch es gibt noch mehr und es geht noch mehr, davon bin ich mittlerweile überzeugt. Vorerst bleibe ich trotzdem nicht hier. Ich kaufe mir möglichst bald ein Ticket nach Lagos, der angeblich zweitschlechtesten Stadt der Welt. Or so they say.