Privatisierungen im Menschenrechtsbereich sind auch in Österreich im Vormarsch. Doch was folgt, wenn Flüchtlingsbetreuung und öffentliche Aufgaben an profitorientierte Unternehmen vergeben werden wie etwa aktuell im Lager Traiskirchen oder im Schubhaftzentrum Vordernberg?
Ein Billeteur erklimmt die Bühne des Burgtheaters. Er arbeitet sonst im Zuschauerraum, reißt die Karten ab, geleitet zu den Plätzen, verteilt Programme. Jetzt steht er auf den Brettern, die – wie es heißt – die Welt bedeuten. Und er erzählt von seinem eigentlichen Arbeitgeber, an den das Burgtheater die BilleteurInnen verkauft hat: den Gefängniskonzern G4S. Dort sind die BilleteurInnen seit einigen Jahren „ausgesourct“.
G4S, Group 4 Securior, ist mit mehr als 600.000 MitarbeiterInnen der größte Arbeitgeber unter den an der englischen Börse notierenden Unternehmen. Das Unternehmen leitet und unterhält private Gefängnisse in England und den USA, organisiert Flüchtlingsheime, Abschiebegefängnisse und „Sozialhilfe-Zentren“ in Nordengland. Außerdem kümmert es sich um Minen seltener Erden in Südamerika und Afrika, fährt Sicherheitstransporte, sichert westliche Unternehmen in Afghanistan, bewacht Banken und Botschaften, Ölpipelines, Atomkraftwerke und Flughäfen weltweit. Im Zuge einer Abschiebung kam am 12. Oktober 2010 der Angolaner Jimmy Mubenga ums Leben. Drei G4S-Mitarbeiter hatten ihn im Flugzeug minutenlang zu Boden gedrückt, woraufhin der 46-Jährige erstickte. Eine Untersuchungskommission sprach von „unverhältnismäßiger Gewaltanwendung“. Der Fall Mubenga ist der schlimmste in einer ganzen Reihe von Zwischenfällen, in die G4S involviert war. Immer wieder wird von Menschenrechtsverletzungen berichtet. Kritisiert wird zudem die schlechte Bezahlung und Ausbildung der MitarbeiterInnen. Das britische Innenministerium löste inzwischen den Vertrag mit G4S.
Ein Job für G4S?
Das österreichische Innenministerium hingegen schloss 2013 einen Vertrag mit dem Konzern ab. Das Unternehmen wird in den nächsten 15 Jahren ein Abschiebegefängnis in Vordernberg in der Steiermark unterhalten und leiten. 68 Millionen Euro ist der Auftrag wert, verteilt auf die nächsten 15 Jahre. Eine Laufzeit, von der Initiativen im Menschenrechts- oder Sozialbereich nur träumen können. Rechtsberatung von NGOs wird beispielsweise vom Ministerium nur auf ein Jahr vergeben – und rückwirkend bezahlt. Der Zufall will es auch, dass der jetzige G4S-Chef Matthias Wechner als Vizekabinettschef unter Ex-Innenminister Platter diente und Ernst Strasser nach seinem Ministeramt jahrelang im Aufsichtsrat von G4S saß. Zudem suchte die Ausschreibung gezielt nach einem Wachdienst-Unternehmen, das mindestens 150 MitarbeiterInnen beschäftigt und im EWR-Raum bereits ein Gefängnis oder Schubhaftzentrum betreibt. Das konnte nur G4S schaffen, die Konzernmutter steuerte die Gefängnis-Referenz bei.
Aus der Privatisierung hoheitsrechtlicher Aufgaben ergeben sich noch andere Problemen: Verfassungsrechtlich höchst problematisch ist die faktische Ausgliederung von Hoheitsbefugnissen, analysiert die Volksanwaltschaft: „Dies geschieht insbesondere dadurch, dass der Schutz von Insassen gegen Übergriffe, welcher primär durch hoheitliches (erforderlichenfalls robustes) Einschreiten von Exekutivbediensteten zu bewerkstelligen wäre, de facto vermehrt durch Ausübung von Jedermannsrechten (insbesondere Notrechten) durch private Sicherheitskräfte ersetzt werden soll.“ Problematisch erachtet die Volksanwaltschaft auch das Fehlen gesetzlicher Regelungen über den Rechtsschutz gegen Übergriffe privater Wachebediensteter. Das heißt, dass es etwa bei Fällen von Folter keine direkte Möglichkeit mehr gibt, ein staatliches Organ verantwortlich zu machen.
Strukturelles Versagen von ORS in Traiskirchen
Dass Teile der Flüchtlingsbetreuung in Österreich von gewinnorientierten Privatunternehmen organisiert werden, geht auf die Zeit von Innenminister Ernst Strasser zurück. Anfang 2003 entschied die deutsche Organisation European Homecare die Ausschreibung über die Ausgliederung der Bundesbetreuungseinrichtungen für sich. Gemeinnützige Hilfsorganisationen hatten sich mit einem Konsortium vergeblich beworben. Als Zuschlagskriterien wurden zu 65 Prozent der Preis, zu 20 Prozent die Übernahme des Personals und zu 15 Prozent die Qualität berücksichtigt. Freilich lief es dann auch mit European Homecare nicht immer reibungslos. So kündigten die Deutschen ihre Verträge, da die Umsätze sich angesichts geringer Flüchtlingszahlen nicht nach ihren Vorstellungen entwickelt hatten. Das Land Niederösterreich rang dem Innenministerium den Beschluss ab, nicht mehr als 480 Menschen in Traiskirchen unterzubringen. Rolf-Dieter Korte, der Senior-Chef von European Homecare, warf den Auftrag hin: „Ohne Spitzenauslastung sah er sich nicht in der Lage, magere Phasen finanziell durchzustehen“.
Bei der Neuausschreibung im Jahr 2011 setzte sich letztlich die ORS durch, die sich in der Schweiz schon seit 1992 mit der Betreuung von Flüchtlingen beschäftigt. Die ORS Service GmbH gehört der Schweizer Ox Group, die im Sommer 2013 von der britischen Equistone Partners Europe (EPE) gekauft worden ist. Diese wiederum gehört laut Homepage rund 30 institutionellen Anlegern und der Barclays Bank. Die Qualität der Arbeit von ORS wird kritisch gesehen. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International war im Sommer 2015 mit sechs Leuten einen Tag lang im Flüchtlingslager Traiskirchen und berichtet von einem „strukturellen Versagen“. Die Unterkunft sei völlig überbelegt, die medizinische und soziale Versorgung unzureichend. Heinz Patzelt, Generalsekretär von Amnesty Österreich, sagte: „Als wir vor Ort waren, mussten rund 1.500 Menschen in Traiskirchen im Freien schlafen, dazu kommen noch jene, die außerhalb des Geländes übernachten. Ein unhaltbarer Zustand.“ Der Anstieg der Asylsuchenden in den letzten Monaten hat viele Akteure vor Versorgungsprobleme gestellt. Mit den vom Ministerium zur Verfügung gestellten Mitteln war die Verdreifachung der Menschen im Lager Traiskirchen kaum zu bewältigen. Andererseits hatte ORS keine Kapazitäten, Ehrenamtliche zu mobilisieren, sowie kein Interesse, mit zivilgesellschaftlichen Gruppen oder professionellen NGOs wie Ärzte ohne Grenzen zusammenzuarbeiten.
Denise Graf, Flüchtlingskoordinatorin von Amnesty Schweiz, sagt auf Anfrage, dass es in den Schweizer Zentren der ORS grundsätzlich mehr Probleme gebe als in denen von anderen Betreibern. Das zeige sich in jenen Fällen exemplarisch, in denen die ORS ein bestehendes Zentrum übernehme oder eines an eine andere Organisation abgebe. Amnesty International hat in seinen Berichten mehrmals Missstände in ORS geführten Einrichtungen beschrieben. Graf: „Wenn am Personal gespart wird, besteht die Gefahr, dass Asylsuchende nur mehr verwaltet werden und vor allem Effizienz und Fragen der Sicherheit im Vordergrund stehen“.
Flüchtlingsbetreuung als profitables Geschäft
Will man bezüglich Traiskirchen Kontakt mit ORS aufnehmen, werden JournalistInnen an das Innenministerium verwiesen. ORS hat sich vertraglich zum Schweigen verpflichtet. Anwaltschaftliche Arbeit kommt im Selbstverständnis und in der Praxis nicht vor. Menschenrechtliche Vorschläge hat ORS nicht.
Betriebswirtschaftlich weist die ORS Service GmbH für das Jahr 2014 bei einer Bilanzsumme von 12,1 Millionen einen Bilanzgewinn von einer Million aus. 500.000 Euro davon werden an die GesellschafterInnen ausgeschüttet. Öffentliche Gelder werden hier nicht in die Flüchtlingsarbeit reinvestiert, sondern in den privaten Finanzsektor umverteilt.
Wie soziale Leistungen an die Börse kommen
Diese Tendenz, dass sozial gewidmete Steuergelder über kommerzielle Profitunternehmen an private FondsbesitzerInnen fließen, findet sich mittlerweile auch in anderen Feldern sozialer Dienstleistungen. In der Pflege beispielsweise hat Senecura ihre 2008 erworbene Tochter Senevita, die in der Schweiz etwa 1.200 Betten in Alten- und Pflegeheimen führt, vor kurzem an die international tätige ORPEA Aktiengesellschaft verkauft. ORPEA ist in Westeuropa mit etwa 52.000 Betten vertreten und hat mit dem Zukauf der Senevita ihren Expansionskurs weiter verstärkt. Ebenfalls wurde die Silver Care Group aus Deutschland mit etwa 6.000 Betten geschluckt.
In der Presseaussendung von ORPEA hört sich das so an: „Nach den Übernahmen von Senevita in der Schweiz und Silver Care in Deutschland im Jahr 2014 beginnt ORPEA das Jahr 2015 erneut mit einer strategischen Operation mit hohem Entwicklungspotenzial. Diese Übernahme eines Vermögenswertes, der über eine in Österreich und der Tschechischen Republik einzigartige Wettbewerbsposition verfügt, bietet ORPEA eine neue Wachstums- und Rentabilitätsquelle sowie wertsteigernde Entwicklungschancen“. Was das an der Pariser Börse notierte Unternehmen optimistisch macht, ist der erhoffte Abbau der öffentlichen Daseinsvorsorge. In Österreich gebe es ein „massive Dominanz der öffentlichen Akteure und Verbänd […] und das vor dem Hintergrund sinkender öffentlicher Ausgaben“. Das heißt übersetzt, dass wenn Qualität und Zugangschancen durch Kürzungen bei der solidarisch finanzierten Pflege sinken, die Gewinnaussichten für kommerzielle Anbieter steigen. Mit der Pflege für alte Menschen in struktur- und einkommensschwachen Gebieten will man sich nicht aufhalten: Chancen gebe es für die „Entwicklung in den Gebieten mit hoher Kaufkraft“.
Vorhang
Zurück ins Theater nach Wien. Es ist gerade Pause. Auf der Bühne des Burgtheaters steht noch immer der Billeteur, er heißt Christian Diaz. Und er erzählt den staunenden Gästen vom Theater der Schubhaft und von der Schubhaft im Theater. Kurzerhand wird er von der Moderatorin des Abends unterbrochen und von der Bühne gewiesen. Auf den Brettern, die die Welt bedeuten, darf das nicht sein. Wir lernen: Das eigentliche Stück findet in der Pause statt. So gesehen könnte das Innenministerium gleich den ganzen Spielplan an den Gefängniskonzern verkaufen. Die werden da schon was auf die Bühne bringen. Mit der Pausendramaturgie wollen sie aber nichts zu tun haben. G4S hat den Billeteur mittlerweile gekündigt.
Die Vollversion des Beitrags ist im Debattenforum der Zeitschrift Kurswechsel zu „Privatisierungsentwicklungen in der Flüchtlingsbetreuung“ zu finden.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich, Mitbegründer der Armutskonferenz und Lehrbeauftragter an der FH Wien.