Wie kann Widerstand wirken? Sollen Menschen sich mit Sitzstreiks, Blockaden, Besetzungen über geltende Gesetze hinwegsetzen? Darum ging es beim „Disobedience – Kongress für zivilen Ungehorsam“ in Graz. Benjamin Opratko sprach dort mit den Eröffnungsrednerinnen Emily Laquer und Fanny-Müller Uri. Emily ist Aktivistin der Interventionistischen Linken und war Pressesprecherin des Bündnisses, das zum Protest gegen den G20-Gipfel in Hamburg aufgerufen hat. Fanny ist Sozialwissenschafterin, antirassistische Aktivistin und unterstützt seit Jahren Kämpfe von Geflüchteten in ganz Europa.
Emily, in deiner Eröffnungsrede zum Disobedience-Kongress hast du gesagt, dass die Welt ein großes „Nein“ braucht. Warum ist ziviler Ungehorsam für dich die richtige Art, dieses „Nein“ in die Welt zu tragen?
Emily: Emily: Die Welt hat genug Ja-Sager. Es gibt diejenigen, die Grenzen dichtmachen wollen, deshalb braucht es Menschen, die Grenzen öffnen, die Geflüchtete aus dem Mittelmeer retten oder hier mit ihnen für ihre politischen Rechte kämpfen. Es gibt die Klimaleugner, also braucht es Leute die sich den Kohlebaggern in den Weg stellen. Wenn in Graz das Murkraftwerk gebaut werden soll gibt es Leute, die das verhindern werden.
Es braucht das entschiedene Nein in dieser Welt. Ziviler Ungehorsam ist eine Antwort – nicht die einzige – auf die Frage, wie wir die Welt verändern. Sie ist auch für Leute attraktiv, die zum ersten Mal aktiv werden, weil sie nicht auf die größtmögliche Straßenmilitanz setzt, sondern Möglichkeiten bietet, kollektiv Nein zu sagen – und dabei mehr zu tun, als mit einem Schild in der Hand zu demonstrieren. Ziviler Ungehorsam heißt, die staatlich vorgegebenen Spielregeln für Protest zurückzuweisen und eigene zu finden.
Viele jüngere Beispiele für zivilen Ungehorsam kommen aus Deutschland: Von den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 über Blockupy in Frankfurt, G20 in Hamburg bis zu den „Ende Gelände“-Aktionen gegen den Braunkohle-Abbau. Fanny, sind das Praxen, die auch in Österreich relevant sind?
Fanny: Auch in Österreich haben die Bewegungen von diesen Protestformen gelernt. In Deutschland ist es gelungen, Protest breitenwirksam zu gestalten. Schon bei der Uni-Bewegung 2009 wurden Anleihen genommen, als Besetzungen und Sitzblockaden als Mittel des Protests eingesetzt wurden. Etwas später hat die antifaschistische Bewegung davon gelernt, als sie die Proteste gegen den FPÖ-Burschenschafter-Ball organisiert hat. Da hat man gesehen, dass ziviler Ungehorsam praktiziert werden kann, um eine größere Öffentlichkeit zu erreichen.
Emily, du warst Pressesprecherin des Bündnisses, das gegen den G20-Gipfel nach Hamburg mobilisiert hat. In einem Beitrag nach dem Gipfel meintest du: „Die kollektive Erfahrung von Zehntausenden, die wir waren, kann man nicht löschen“. Nun sind Erfahrungen aber etwas sehr Subjektives – niemand kann sie für einen anderen machen. Wie können solche Erfahrungen weitergegeben werden, ohne dass jeder und jede einzelne an einer Sitzblockade teilnehmen muss?
Emily: Wir haben bei der G20-Mobilisierung sehr offensive Medienarbeit gemacht. Jedes Mal, wenn die Polizei eine Pressekonferenz gemacht hat, haben wir es öffentlich kommentiert, um ihnen nicht die Deutungshoheit über die Ereignisse zu überlassen. Auf den Straßen von Hamburg haben die Protestierenden intensive, ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Polizeigewalt, Ohnmacht, aber auch kollektiven Mut und Selbstermächtigung: Wir haben trotz des größten Polizeieinsatzes der Hamburger Geschichte Donald Trump blockiert.
Wieder zuhause mussten wir uns schließlich für alles rechtfertigen, was in Hamburg passiert ist, auch wenn wir selbst gar nicht Teil davon waren. Deshalb ist es so wichtig, auch danach den Menschen zu sagen: Eure Erfahrungen sind eure Erfahrungen. Die kann euch niemand nehmen. Eure Wahrheit ist eure Wahrheit. Die gilt, egal welchen Spin die Medien im Nachhinein draufsetzen.
Die Erfahrungen, die Menschen machen, sind wichtig: Auf der Straße zu merken, dass alle Wasserwerfer Hamburgs nichts dagegen ausrichten können, wenn es Menschen gibt, die zusammenhalten. Die sich mit ihren FreundInnen auf die Straße setzen und sich ihnen in den Weg stellen. Und dass sie zu Hause ihren FreundInnen, MitbewohnerInnen, KollegInnen davon erzählen. Dass man das Glitzern in ihren Augen sieht und sie das nächste Mal diese FreundInnen mitnehmen. Das ist durch nichts zu ersetzen.
Viele fragen sich wohl auch: Traue ich mich, an Aktionen des zivilen Ungehorsams teilzunehmen? Welches Risiko gehe ich damit ein?
Emily: Die Angst ist sicherlich da. Das hören wir auch oft, wenn wir Mobilisierungsveranstaltungen machen. Aber es ist wichtig, dass wir als Linke eine Kultur des Muts entwickeln, nicht der Angst. Oft heißt es: Werden wir dann nicht alle eingesperrt, wenn wir uns zum Beispiel über ein Demonstrationsverbot hinwegsetzen? Tatsächlich ist diese Angst oft viel größer als das, was dann wirklich passiert.
In Hamburg haben sich zehntausende Menschen an Protesten teilgenommen, nur wenige Hundert wurden festgenommen, die meisten nur kurz. Und diejenigen, die jetzt in U-Haft sitzen und denen der Prozess gemacht wird, können sich auf unsere Solidarität verlassen. Die Polizei war überfordert, weil so viele von uns auf der Straße waren. In der Türkei werden tausende Oppositionelle eingesperrt – und dennoch hören die Menschen nicht auf zu kämpfen. Viel mehr Angst als vor der Repression sollten wir vor der Welt des globalen Kapitalismus, des Klimakollaps, der rechten Offensive haben.
Fanny: Das Beispiel Türkei zeigt auch: Aus welcher Perspektive stellen wir die Frage nach dem Risiko? Die Migrationsbewegungen, die seit 2015 ständig Grenzen überschreiten, und damit ja auch so etwas wie zivilen Ungehorsam leisten und die Festung Europa in Frage stellen – die gehen ein ganz anderes Risiko ein. Da haben sich wahnsinnig viele Menschen beteiligt, von jung bis alt, in Gruppen, die aufeinander aufgepasst haben.
Zugleich müssen wir schon berücksichtigen: Als wir europäischen AktivistInnen 2016 entlang der Balkanroute Leute auf der Flucht begleitet haben, konnten wir das tun, weil wir finanzielle Mittel hatten, weil wir europaweit gut vernetzt sind und zumeist über die staatlichen und polizeilichen Praktiken informiert sind. Ich kann mich unter Umständen an konkreten Protesten beteiligen und mutig sein, weil ich eine bestimmte politische Erfahrung und Netzwerke habe, um Situationen einzuschätzen. Ich muss mich vielfach nicht vor der Wiener Polizei fürchten. Aber vor dem mazedonischen Militär im Grenzgebiet zu Griechenland vielleicht schon.
Emily: Es gibt die falsche Vorstellung, radikale Linke in Deutschland oder Österreich sind die Mutigen, während Geflüchtete bloß passive Opfer sind. Als wir 2015 in der Interventionistischen Linken noch darüber diskutiert haben, ob man eine symbolische Aktion gegen die europäischen Mauern organisieren soll, haben die Refugees auf der Balkanroute die Mauern einfach eingerissen. Von diesen Kämpfen können wir Linke viel lernen.
In Österreich sind wir mitten in einer autoritären Wende. Schon jetzt wurde das Demonstrationsrecht eingeschränkt, Überwachung und Repression verstärkt. Sehr wahrscheinlich wird die nächste Bundesregierung das noch verstärken. Werden die Mittel des zivilen Ungehorsams dadurch noch wichtiger? Oder brauchen wir vielleicht andere Formen des Protests, wenn die Risiken für Einzelne, sich daran zu beteiligen, vom Staat immer höher geschraubt werden?
Fanny: Ich glaube, kurzfristig kann eine rechte Regierung eine größere Öffentlichkeit und mehr Unterstützung für zivilen Ungehorsam bedeuten. Zugleich gibt es aber natürlich Risiken. Auch zum Beispiel durch Soziale Medien. Wenn die Polizei über Twitter Falschmeldungen rausschickt oder bestimmte Bilder reproduziert, müssen wir das eben genau verfolgen und dagegen arbeiten.
Aber dieselben Medien ermöglichen es uns auch, von anderen Bewegungen in aller Welt zu lernen, wo die Autoritarisierung vielleicht schon weiter fortgeschritten ist. Welche Mittel werden dort eingesetzt? Was funktioniert anderswo und was nicht? Da gibt es noch sehr viel Potenzial, um voneinander zu lernen. Wenn die Repression stärker wir, dann müssen wir schlauer werden. Wenn Refugees es schaffen, auch jetzt noch über das Mittelmeer zu kommen, dann können wir auch lernen, Überwachung und Repression zu umgehen.
Emily: Es stimmt, dass die Rechte in ganz Europa in der Offensive ist. Dahinter steht: Der Kapitalismus hat kein Versprechen mehr. Niemand glaubt mehr, dass es den eigenen Kindern einmal besser gehen wird. Viele haben Angst vor Abstieg und halten am Status Quo fest. Diese Angst übersetzt sich in den Ruf nach Repression, Kontrolle und Überwachung, aber auch in Rassismus. Wir erleben überall einen Trend zum autoritären Sicherheitsstaat.
Das sehen wir gerade in Katalonien, aber das haben wir auch beim G20-Gipfel in Hamburg erlebt. Aber wir dürfen uns von den Verhältnissen, die tatsächlich autoritärer werden, nicht den Grad unserer Militanz diktieren lassen. Gegen Repression hilft immer noch: Zusammenhalten, und Proteste gesellschaftlich verankern.
Ziviler Ungehorsam heißt ja auch, zu sagen: Was wir machen ist legitim. Wir wollen die breite Öffentlichkeit gewinnen. Als uns in Hamburg verboten wurde, Camps aufzubauen, hat das Schauspielhaus seine Türen geöffnet, damit wir dort übernachten konnten, die Kirchen haben ihre Wiesen bereitgestellt, der Fußballklub St. Pauli hat uns ins Stadion gelassen. Die politischen Freundschaften sind eine Waffe gegen Repression.