Donald Tusk sah diesen Sommer ein Gespenst umgehen. Er fürchtete, Alexis Tsipras könnte die Jugendträume des Joschka Fischer erfüllen, sich mit einer linken Regierung auf den Marsch durch die Institutionen machen und damit ganz Europa anstecken. Und die europäische Linke war solidarisch mit ihrer eigenen griechischen Projektionsfläche, froh gestimmt von einem Summer of hope, weil die Angst – auch die vor dem eigenen Scheitern – wenigstens kurzfristig die Seiten gewechselt hatte: das Narrativ der Kürzungspolitik zeigte Risse und die Solidarität im neoliberalen Europa war zur Kenntlichkeit entstellt.
Doch was bleibt nun, da die Sonne wieder tiefer steht? Verstehen wir das dritte Memorandum als Niederlage, aus der wir den Sieg vorbereiten und einem neuen Morgenrot entgegengehen, oder wird es wieder Nacht über Europa?
Die Linken in Österreich, Deutschland etc. werden aufhören müssen, gebannt nach Griechenland, Spanien und Portugal zu schauen, in der Hoffnung, dass dort die Revolution zünde und auch hierzulande alles gut werde. Das wird nicht passieren. Wir werden schon selbst das bessere Leben (herbei-)führen müssen. Massendemonstrationen und der Wahlsieg eines linken Wahlbündnisses in nur einem europäischen Land können nicht strukturell verfestigte sozio-ökonomische und politische Kräfteverhältnisse in Europa verändern. Wir dürfen also grübeln, appellieren, analysieren, uns über Etappenschlappen hinwegtrösten und trotzig sein; was wir aber nicht dürfen, ist uns melancholisch an einen Sommer wie damals erinnern und jetzt demoralisiert das linke Projekt wieder in universitäre Diskurse verlagern oder uns gar in bewährtem linken Kannibalismus verlieren.
Wir haben mittlerweile genügend theoretisches Verständnis aufgebaut, um die herrschenden Verhältnisse nicht nur zu durchschauen, sondern auch ihre Veränderung zu betreiben. Wir wissen – zum Beispiel von Nicos Poulantzas, einem linken französisch-griechischen Staatstheoretiker – über die Bedeutung der politischen Machtergreifung für die radikale Transformation des Staates , den Stellenwert der Verbindung von repräsentativer Demokratie mit Formen direkter Demokratie und Selbstverwaltung, und das Verhältnis zwischen Regierung/Staat und sozialen Bewegungen. Es gilt demnach, die Machtfrage so zu stellen, dass man nicht naive Hoffnungen in einzelne Parteien oder Personen setzt, glaubt, Syriza oder nun Jeremy Corbyn könnten sozialistische Politik innerhalb eines neoliberalen Rahmens durchsetzen. Vielmehr befinden wir uns in einem langwierigen, umkämpften Prozess, in dem es um die Transformation der Kräfteverhältnisse innerhalb der Staatsapparate zugunsten der subalternen Klassen geht. Dieser Wandel basiert immer auf Auseinandersetzungen in der Zivilgesellschaft, in den Betrieben, der Familie, den Schulen und Universitäten, Medien, Gewerkschaften, Friedens-, Frauen-, sozialen und ökologischen Bewegungen, demokratischen Initiativen, politischen Parteien, etc.
Die politische Taktik kann daher nur sein, den Wandel so herbeizuführen, dass wir gemeinsam eine materielle Gegenmacht aufbauen – im Sinne einer wachsenden Zahl von Menschen, Basisorganisationen und Institutionen, die sich aktiv an der Entwicklung einer postkapitalistischen Alternative beteiligen und diese durch ihr konkretes Handeln im Alltag ins Leben rufen. Gleichzeitig muss es dabei immer auch um die Stärkung gegenhegemonialer Spielräume sowohl innerhalb als auch außerhalb der institutionellen Gegebenheiten des Staates gehen. Dabei wird auch der Kompromiss als revolutionäre Taktik eine wichtige Rolle spielen. Und wir werden ausprobieren müssen, wie wir die Lücke zwischen Horizontalität (direkte Demokratie) und Vertikalität (Parteiendemokratie) schließen, ja wie die gesellschaftliche Demokratisierung überhaupt vorantreiben.
Hierfür können wir von anderen und gemeinsam lernen: von Lateinamerika ebenso wie von den Ländern Südeuropas. Denn etwa die neue Linke in der „Jugosphäre“ (Tim Judah) analysiert die stattfindende Peripherialisierung durch die scharfe Linse unbestreitbarer sozialistischer Errungenschaften, die im Zuge der Europäischen Union und ihrer neoliberalen Restrukturierung verloren gegangen sind. In Slowenien, Kroatien, Serbien etc. versteht und sieht man viel deutlicher, dass „die Krise“ keine Anomalie ist. Dort lehrt die Tradition der Unterdrückten, dass der Ausnahmezustand die Regel (Walter Benjamin) und das Konzept der Transition ebenso ein ideologisches Konstrukt der Unterdrückung ist, wie etwa ein Fiskalpakt. Hiergegen regt sich Widerstand, der sich in zahlreichen sozialen, direktdemokratisch geführten Bewegungen Bahn bricht. In Lateinamerika wiederum können uns die sozial-ökologischen Kämpfe der indigen Basisorganisationen in Ecuador und Bolivien Vorbild sein, die mit ihrem Konzept des „guten Lebens“ (sumak kawsay, suma qamaña) die kapitalistische Wachstumslogik und westliche Konsumvorstellungen in Frage stellen. Oder auch die Erfahrungen der besetzten, selbstverwalteten Betriebe Argentiniens bzw. die sozialen und demokratischen Errungenschaften des „bolivarianischen Prozesses“ in Venezuela.
Hier wie dort hat sich gezeigt, dass der Kampf kein leichter sein wird. Doch angesichts der anhaltenden kapitalistischen Reproduktionskrise, des Erstarkens reaktionärer Kräfte und der Intensivierung sozialer Konflikte, die seitens der EU bloß mit noch mehr Autoritarismus beantwortet werden, ist eine Transnationalisierung des Widerstandes in Europa und auf internationaler Ebene nicht nur immer notwendiger, sondern mehr denn je möglich. Wir sollten in die Gänge kommen.
Tamara Ehs ist Politikwissenschafterin an den Universitäten Salzburg und Wien, forscht zu Demokratie(reform), Parlamentarismus und Verfassungsfragen.
Aaron Tauss ist Professor für Internationale Politik an der Nationaluniversität Kolumbiens in Medellín. Seine Forschungsschwerpunkte sind Internationale Politische Ökonomie, Krise des Kapitalismus und postkapitalistische Alternativen.