Was die Wogen hoch gehen lässt: Eine türkische Liste für Wien

Ein bis dato recht unbekannter Österreicher mit türkischen Wurzeln möchte gewählt werden – und in Wien gehen die Wogen hoch. Mihrican Topal analysiert die Debatte rund um den Antritt einer primär türkischen Liste bei den Wien-Wahlen und fragt sich: Was ist hier eigentlich das Problem?

Am 19. Februar 2015 kündigte das Wahlbündnis „Wien anders“ an, sich auf die Landtagswahl in Wien vorzubereiten. Am 22. Juli 2015 gab auch die Rumän_innen-Partei Österreichs ihre Ambitionen, in den Gemeinderat einziehen zu wollen, bekannt. Nur einen Tag später erfuhren wir, dass die „Demokratische Alternative“, die aus Mieter_innenvertretungen aus dem Wiener Gemeindebau bestehen soll, sich ebenfalls zur Wahl stellt. Es werden noch viele andere ihr Glück versuchen und um Stimmen kämpfen und das ist ja an und für sich auch nicht weiter aufregend. Wer schon einmal wählen war, weiß, dass immer auch andere Parteien, Bündnisse und Listen als die etablierten Parteien zur Wahl stehen. Selten gab es hierzu besondere Gefühlsregungen, zumindest keine, die eine größere Schlagzeile wert gewesen wären. Das gehört dazu – zu einer Demokratie.

Als jedoch Dr. Turgay Taşkıran am 16. Juli 2015 seine Absicht, mit einer eigenen Liste bei den Wien-Wahlen anzutreten, kundtat, konnte sich kaum jemand zurückhalten. „Das ist ja ein Skandal sondergleichen“ und ein „schäbiger Missbrauch unserer Gastfreundschaft“ hieß es von rechts. Ein klares Zeichen für die nicht „übermäßige Integrationswilligkeit der potenziellen Neopolitiker“ meint Juraczka von der ÖVP – Außenminister Kurz äußerte sich ähnlich. Außerdem sagte der ÖVP-Spitzenkandidat, dass am Ende eines erfolgreichen Integrationsprozesses Staatsbürgerschaft und Wahlrecht stehen müssten. Nun ja, Taşkıran ist österreichischer Staatsbürger und demnach hat er nicht nur das aktive, sondern eben auch das passive Wahlrecht. Also doch ein erfolgreicher Integrationsprozess? Gar ein Vorzeige-Integrierter?

Spaltung der Gesellschaft?

Die SPÖ meinte, dass „ethnische Listen“ die Gesellschaft spalten und „Ausländer-raus-Parteien“ stärken würden. Die Roten sind auch jene, die am stärksten gegen diese Liste auftreten. Aber auch Alev Korun von den Grünen hält eindeutig fest: „Migrant sein allein ist kein Programm.“ Warum nicht? Für die FPÖ ist eben dieses Thema seit Jahrzehnten das einzige Programm.

Erfahrene Politikwissenschaftler_innen sowie viele Meinungsforschungsinstitute prognostizieren, dass die Liste vor allem der SPÖ Stimmen kosten werde, zumal türkischstämmige Wähler_innen in Wien ihre Stimme traditionell den Roten geben. Ob Turgay Taşkıran, der seine Liste nun „GfW – Gemeinsam für Wien“ nennt, genau das erreichen wollte? Offiziell heißt es seit der ersten Stunde, dass die Liste den „Rechtsruck stoppen“ wolle.

Nun hat der Spitzenkandidat jedoch offenbart, dass er mit der FPÖ koalieren würde, denn „Strache hat zwar eine harte Schale, aber einen weichen Kern“. Auf Nachfrage, warum er das nicht ausschließe, meint Taşkıran auf Facebook, dass solch eine Koalition die FPÖ schwächen würde.

In diversen Interviews, bedauert der Allgemeinmediziner, dass die etablierten Parteien Menschen mit Migrationshintergrund lediglich als Köder missbrauchten und da wolle man nicht mehr mitmachen. Eine Meinung, die Taşkıran mit dem Präsidenten der ÖSG (Österreichisch-Serbischen Gesellschaft), Marko Stijaković, teilt. Dieser ruft aus genau diesem Grund die serbischstämmigen Wähler_innen zum Wahl-Boykott auf.

„Migrant_innen” als Stimmenbringer_innen

Und wenn wir uns die konkreten Zahlen anschauen, dann scheint das gar nicht so weit hergeholt zu sein. Bei einer Bevölkerung, die zu 50 Prozent einen sogenannten Migrationshintergrund hat, nur fünf von 100 Landtagsabgeordnete mit eben einem solchen Background zu haben, ist dann doch etwas dürftig. Oder eher mehr als das. Gülsüm Namaldı bekam bei den Wahlen 2010 in Wien sechs Mal so viele Stimmen wie der amtierende Wohnbaustadtrat und damalige Vizebürgermeister Dr. Michael Ludwig. Sie zog jedoch nicht in den Landtag ein. Für die Nationalratswahlen 2013 sammelte Resul Ekrem Gönültaş eifrig und erfolgreich Stimmen für die SPÖ als bundesweiter Kandidat auf Listenplatz 38. Österreichweit bekam er 12.715 Vorzugsstimmen, in Wien sogar mehr als der Bundeskanzler persönlich! Er zog nicht in den Nationalrat ein. Übrigens ist das der Kandidat, den Werner Faymann vor laufender Kamera fallen ließ wie eine heiße Semmel. Und genau das nimmt ihm Taşkıran wohl übel.

Der Eindruck vieler politisch Aktiver mit „Migrationshintergrund“, lediglich als Stimmenfänger_in zu dienen, ist nicht von der Hand zu weisen. Zwar laden Wiens Bürgermeister und Bundeskanzler Faymann auch Muslim_innen seit über einem Jahrzehnt zum alljährlichen Fastenbrechen ein, doch das wird der Öffentlichkeit nicht so gerne mitgeteilt. Als 2014 „50 Jahre türkische Gastarbeiter_innen“ gefeiert oder zumindest an ihre Leistungen erinnert wurde, wurde das auch nicht an die große Glocke gehängt. Türkischsprachige Medien haben sehr gerne davon berichtet, aber in deutschsprachigen Medien musste man danach suchen. So darf es nicht verwundern, dass innerhalb der türkischen Community Skepsis gegenüber den etablierten Parteien herrscht.

Und wofür steht die Liste?

Nun möchte man selbstverständlich auch wissen, was denn der Liste „Gemeinsam für Wien“ noch so am Herzen liegt. Immerhin möchte sie ja jeden und jede ansprechen – auch FPÖ-Wähler_innen. Taşkıran ist bemüht von Anfang an klarzustellen, dass dies keineswegs nur eine „türkische Liste“ sei, immerhin werden auch „Aleviten und Kurden“ mitmachen. Mittlerweile heißt es, dass auch einige autochthone Unterstützer_innen mit an Bord seien, auf Platz zwei werde jedenfalls eine Frau stehen. Wien-weit soll es 200 Kandidat_innen geben. Das Programm sei am Werden und auf Kritik reagiert Taşkıran bis jetzt recht selbstsicher. Er hat nicht Unrecht, wenn er betont, dass die etablierten, großen Parteien mit ihren Geldern, Medien und Beziehungen ja auch noch kein genaues Programm vorgestellt haben. Andererseits sind das etablierte Parteien und das Publikum weiß ungefähr, was es erwartet. Wenn man mit einer eigenen Liste antritt, weil man sich von den anderen nicht vertreten oder angesprochen fühlt, dann sollte man auch eine klare Vision, einen Wunsch, ein Ziel oder ein Bedürfnis formulieren können. Bisher heißt es, dass man gemeinsam die tatsächlichen Probleme – wie zum Beispiel im Bildungsbereich – lösen möchte. Daher auch der Name, der erst viel später entstand. Wie das jedoch konkret aussehen soll, bleibt uns der Spitzenkandidat noch schuldig. Per Facebook erklärt die Liste GfW nun mal den Rundfunkgebühren der GIS den Krieg, was bereits zu einer kleinen Diskussion führte.

Die Liste soll jedenfalls nicht als muslimische verstanden werden und Finanzierungen aus dem Ausland oder gar durch die AKP in der Türkei gibt es nach eigenen Angaben nicht. Und um ehrlich zu sein, erscheint es auch unwahrscheinlich, dass sich die AKP zurzeit für einen potenziellen Bezirksvorsteher-Stellvertreter in Wien-Favoriten interessiert. Mittlerweile kam es bereits zur Fusion mit der „Liste Volk – Robin Hood & Du“ und ein Zusammenschluss mit der Rumän_innenpartei sei im Gespräch.

Dürfen die das denn überhaupt?

Jedenfalls ist es nicht nur demokratisch legitim, sich selber zur Wahl aufzustellen, insbesondere wenn man sich von der zur Wahl stehenden Kandidat_innen überhaupt nicht angesprochen oder vertreten fühlt. Ich gehe sogar so weit, es als die demokratische Pflicht aller Bürger_innen zu betrachten, sich in demokratische Prozesse einzubringen. Und die Reaktionen auf die „türkische Liste“ sind wesentlich bedenklicher als die mögliche Kandidatur eines Allgemeinmediziners aus Mödling, der in Simmering ordiniert und halt auch „ethnisch-türkisch“ ist. Im Übrigen ist beispielsweise auch der aktuelle Bürgermeister Wiens ein Niederösterreicher. Dass auf die Nachricht der Kandidatur Taşkırans mit so viel Panik reagiert wird, sagt mehr über die Gesamtgesellschaft aus, als über den Kandidaten selbst. Wovor hat man so große Angst? Und ist sie berechtigt?

Wenn der SPÖ die Stimmen verloren gehen

Selbstverständlich macht sich die SPÖ Sorgen um ihre Wähler_innenstimmen, nur merkt sie offenbar nicht, dass sie der Liste mit genau dieser Sorge auch sehr viel Aufmerksamkeit schenkt – mehr als klug für sie wäre. Aber einer Liste, die noch nicht einmal steht, ernsthaft vorzuwerfen, die Gesellschaft zu spalten und der FPÖ zum Sieg zu verhelfen, ist dann doch sehr weit hergeholt.

Laut Umfragen verliert die SPÖ kontinuierlich an Stimmen, während die FPÖ stetig dazugewinnt, die laut Erhebung vom 01.08.2015 bei 31 Prozent liegt und somit für die Roten eine ernsthafte Konkurrenz darstellt. Zwei Tage nach der Medienberichterstattung über die „türkische Liste“ haben beide sogar je einen Prozentpunkt verloren. Angesicht dieser Tatsachen zu behaupten, dass Taşkıran der Wahlhelfer von Strache und Co wäre, gehört in die Reihe „Verdrehen von Tatsachen“. Es ist grundsätzlich nicht löblich, für das eigene Versagen andere verantwortlich zu machen, eine noch nicht einmal real existierende Liste zum Sündenbock hochzustilisieren, ist jedenfalls untragbar. Auch wenn für manche der Wahlkampf die „Zeit fokussierter Unintelligenz“ sein mag.

Braucht es das?

Was wir meiner Meinung nach jedenfalls nicht brauchen, ist eine weitere ÖVP. Und den ersten Interviews und Statements zufolge, scheint Taşkırans Liste eben das zu sein: eine „migrantische ÖVP“. Eine Partei oder Liste, die grundsätzlich für Diskriminierte, Ausgebeutete, Arme einsteht, ist von Nöten!

Mihrican Topal ist dipl. Wirtschaftstreuhand-Assistentin und aktiv im Netzwerk Muslimische Zivilgesellschaft.

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