Seit Wochen toben wütende Proteste im Iran. Der iranische Innenminister spricht gar von einem Volksaufstand. Ramin Taghian erklärt die Hintergründe: Wer demonstriert warum gegen wen – und welche Chancen hat die Bewegung wirklich?
Interessant an den aktuellen Protesten ist zunächst, dass ihr Zentrum nicht die Hauptstadt Teheran war, wo sonst die allermeisten Demonstrationen stattfinden. Stattdessen wurde vor allem in Kleinstädten demonstriert, in Gegenden, in denen eigentlich die Konservativen ihre Basis haben. Es sind Orte, wo vor allem junge Menschen am stärksten von der wirtschaftlichen Misere und Arbeitslosigkeit betroffen sind.
Der erste Protest in der Stadt Maschhad wurde eigentlich von konservativen Gegnern des eher moderaten Präsidenten Hassan Rouhani organisiert. Die Organisatoren verloren aber schnell die Kontrolle darüber. Das Ergebnis war eine Protestdynamik, die sich in Windeseile über das gesamte Land ausbreitete. Das wichtigste Mittel dafür waren soziale Medien und Messenger-Dienste wie Telegram, das im Iran von 40 Millionen Menschen genutzt wird. Es brodelt an der Basis der Islamischen Republik.
Vorgeschichte der Proteste
Dabei sind Proteste im Iran eigentlich nichts Außergewöhnliches. Sie reichen vom alltäglichen Kampf von Frauen gegen Einschränkungen durch konservative Moralvorstellungen und Gesetze, über Engagement gegen ökologische Zerstörung, bis hin zu regelmäßig stattfindenden Protesten unterschiedlicher Teile der ArbeiterInnenklasse. Hinzu kommt ein bemerkenswerter Protestzyklus: Fast genau alle zehn Jahre erlebt der Iran massive Aufstände und Proteste.
Zuletzt gingen 2009/2010 Millionen IranerInnen für eine Demokratisierung und gesellschaftspolitische Lockerungen auf die Straßen. An der Spitze dieser sogenannten Grünen Bewegung standen die sogenannten Reformer. Diese waren eigentlich immer ein Teil des politischen Systems der Islamischen Republik, gerieten allerdings in den 1990er Jahren in Konflikt mit den konservativen Hardlinern und traten für zaghafte Reformen ein. In gewisser Weise war die Grüne Bewegung die letzte Chance für die Islamische Republik, einen inneren Reformprozess zu durchlaufen. Doch die Machthaber schlugen die Bewegung brutal und erbarmungslos nieder und drängten einen großen Teil der Reformer aus dem politischen System. Die damaligen Anführer der Grünen Bewegung, Mir Hossein Mussawi und Mehdi Karroubi, einst führende Figuren der Islamischen Republik, stehen bis heute unter Hausarrest. Damit hatte sich das Möglichkeitsfenster für grundlegende Reformen vorerst geschlossen.
Durch die autoritäre Natur der Islamischen Republik fehlt es im Iran an Räumen, in denen sich eine tatsächliche Opposition formieren könnte. Dieser Umstand prägt auch die aktuellen Proteste. Klare Organisation und Führung fehlen. Es findet sich ein Sammelsurium unterschiedlichster Ideen und Vorstellungen in den Protesten.
Wieso jetzt?
Die gegenwärtige Regierung unter Präsident Rouhani wurde letztes Jahr erneut gewählt. Sie versprach, die Lebensverhältnisse der Menschen zu verbessern und die wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Dies sollte durch den Abschluss des Atomdeals, die damit erhoffte Aufhebung der Sanktionen (insbesondere für Banktransaktionen ins Ausland) und die Öffnung der iranischen Wirtschaft für ausländische Investititionen geschehen.
Tatsächlich erlebte der Iran einen kleinen Wirtschaftsaufschwung. Doch davon profitierte nur eine ohnehin schon wohlhabende Elite. Der nach neoliberalem Wunschdenken erhoffte „trickle down effect“ ist ausgeblieben. Es entstanden keine neuen Jobs, die Löhne stagnieren weiter, zudem steigen die Preise für essenzielle Lebensmittel und Güter. Gleichzeitig existiert eine politische Elite im Land, die sich durch Korruption und Klientelismus massiv bereichern konnte. Der Hass auf die „Mullah-Milliardäre“ brodelt schon lange.
Der Zündfunke
Einer der letzten Zündfunken dürfte die Veröffentlichung des Budgets für das kommende Jahr gewesen sein. Erstmals wurde darin transparent gemacht, wie enorm die Budgetposten für diverse Sicherheitsapparate und religiöse Stiftungen sind, die keiner demokratischen Kontrolle unterstehen. Gleichzeitig wurde angekündigt, bisherige Unterstützungsleistungen für Millionen von IranerInnen zu kürzen und den Preis von Benzin zu erhöhen.
Angesichts der immer weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen Reich und Arm war diese Diskrepanz der Tropfen, der für viele das Fass zum Überlaufen brachte. Frustration und verratene Hoffnungen schlugen in Wut um.
Wieso so radikal?
Die Reformbewegung hatte versucht, im engen Rahmen der Islamischen Republik für eine langsame Veränderung des politischen Systems einzutreten. Diese Hoffnungen wurden mit der Zerschlagung der Grünen Bewegung begraben. Nun wenden sich immer mehr IranerInnen vom gesamten System ab. Der öffentliche Ruf „Tod der Islamischen Republik“ und „Tod [dem Revolutionsführer] Khamenei“ bedeuten im Iran einen beispiellosen Tabubruch.
Zugleich muss berücksichtigt werden, dass sich hier eine zwar wütende, aber dennoch verhältnismäßig kleine Minderheit auf die Straße traut. Die DemonstrantInnen kommen dabei aus allen Teilen der Gesellschaft, vor allem aus den unteren Schichten der Gesellschaft und aus der mit Arbeitslosigkeit und Perspektivenlosigkeit konfrontierten Jugend.
Die große Gefahr
Die Proteste drücken Widerstand aus: Gegen die Spaltung in arm und reich, aber auch gegen die rigiden Moralgesetze und das autoritäre politische System als Ganzes. Gerade weil die Bewegung spontan und wenig greifbar ist, wird sie auf die eine oder andere Weise weitergehen.
Die größte Gefahr ist, dass der Konflikt internationalisiert wird. Was das in einer geopolitisch so brisanten Weltgegend wie dem Mittleren Osten bedeuten kann, zeigt das syrische Beispiel. Auch in Syrien formierte sich zunächst eine Demokratiebewegung gegen die Diktatur, die sich dann durch den Angriff des Regimes militarisierte und schließlich zu einem Stellvertreterkrieg unterschiedlichster geopolitischer Akteure wurde.
Internationale Unterstützung und falsche Freunde
Die Protestbewegung kann durchaus auch von außen unterstützt werden. Sichtbare und hörbare Solidarität gibt den DemonstrantInnen im Iran das Gefühl, nicht alleine und isoliert zu sein. Doch diese Solidarität muss von unten kommen, von den Bewegungen und ehrlichen FreundInnen einer emanzipatorischen Entwicklung.
Wer glaubt, die Islamische Republik könne durch Druck von außen, gar im Bündnis mit den Regierungen der USA und Israels, fortschrittlich verändert werden, hat die Geschichte des Landes nicht verstanden. Einerseits geht es diesen Regierungen nicht um das Wohl und die Freiheit der IranerInnen, sondern um die Destabilisierung und damit Ausschaltung eines regionalen Kontrahenten. Diesen falschen Freunden der Freiheit ist es egal, ob dies per Aufstand von innen oder durch Bomben von außen geschieht.
Zudem hat sich die Islamische Republik gerade durch internationale Isolation zu ihrer heutigen Form entwickelt. Durch Krieg, Sanktionen und internationale Konfrontationen hat sie sich ein ideologisches Gerüst der Eigenständigkeit angeeignet. Das ist das Wasser, in dem die Hardliner wie Fische schwimmen und sich wohl fühlen. Auf diesem Terrain können sie nicht besiegt werden. Im besten Fall schafft man durch die Zuspitzung der internationalen Konflikte also nur eine Stärkung der konservativen Teile der Islamischen Republik, die wie Trump und Netanyahu immer schon zu wissen glaubten, dass jegliche Einigung im Atomkonflikt sinnlos ist.
Die große Chance
Das iranische Regime wird nicht morgen fallen. Der Gewaltapparat, der noch gar nicht mit voller Kraft gegen die Proteste eingesetzt wurde, funktioniert weiterhin. Die Opposition ist aufgrund der bisherigen Repression sehr schwach organisiert Es gibt keine Organisationen, die genügend Unterstützung hätten, um die Islamische Republik direkt herauszufordern.
Doch die aktuellen Proteste können neue Freiräume öffnen, in denen sich Menschen austauschen, organisieren und dann weiter kämpfen können. Das sind vor allem Forderungen nach Pressefreiheit, für das Recht sich zu versammeln und zu organisieren und für die Freiheit der tausenden politischen Gefangenen. Dies sind eigentlich verfassungsrechtlich verankerte Rechte im Iran, die das Regime jedoch nicht respektiert.
Risse im System
Diese Möglichkeit ist auch deshalb gegeben, weil das Regime selbst gerade in viele verschiedene Fraktionen und Interessengruppen gespalten ist. Die Hardliner singen ihr altes Lied von amerikanischen und israelischen Agenten, die hinter den Protesten stünden. Andere betonen die wirtschaftliche Misere als Hauptauslöser und kritisieren damit vor allem die Politik der Regierung. Präsident Rouhani selbst versucht einen Seiltanz zwischen der Verurteilung der gewaltvollen Proteste und gleichzeitiger Anerkennung der Legitimität ihrer Anliegen. Solche Konflikte sind Ausdruck einer Krise des politischen Systems im Iran. Die aktuellen Proteste können diese Krise noch vertiefen.
In einer Welt, in der derzeit vielfach die Rechte am Vormarsch ist, stellt der mutige Protest im Iran jedenfalls ein Symbol der Hoffnung und des Widerstandes dar, der weit über seinen eigenen Kontext hinausstrahlen kann. Denn Frustration über ein wirtschaftliches und politisches System, das immer weniger Hoffnung und Perspektive bietet, gibt es nicht nur im Iran.