Warum es ein Wahlrecht für alle braucht

Am 29. September waren rund 6,4 Millionen StaatsbürgerInnen aufgerufen einen neuen Nationalrat in Österreich zu wählen. 1,2 Millionen Mitmenschen ohne österreichischer Staatsbürgerschaft hatten dabei aber kein Wahlrecht. Das müssen wir ändern, schreibt Oliver Piller.

Schauen wir uns die Situation kurz im Detail an. In Österreich leben derzeit rund 8,9 Millionen Menschen. Davon haben 7,4 Millionen die österreichische Staatsbürgerschaft. Die restlichen 1,5 Millionen Personen setzen sich zu einer Hälfte aus EU-BürgerInnen, allen voran aus Deutschland, Rumänien und Ungarn, zur anderen aus Drittstaatsangehörigen, speziell aus Serbien, der Türkei und Bosnien, zusammen.

Die 16 Prozent

Wahlberechtigt sind derzeit 6,4 Millionen Personen mit österreichischer Staatsbürgerschaft über 16 Jahren. Der Teil der Bevölkerung, der über 16 Jahre alt ist, den Hauptwohnsitz in Österreich hat aber nicht die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt, umfasst 1,2 Millionen Menschen. Ganze 16 Prozent der Bevölkerung sind in Österreich damit von politischer Mitbestimmung auf gesetzgebender Ebene ausgeschlossen.

In Wien ist die Schieflage noch extremer – und zwar in zweierlei Hinsicht. In der Bundeshauptstadt sind es sogar 30 Prozent der EinwohnerInnen, die bei Gemeinderats- und Nationalratswahlen nicht wahlberechtigt sind. Das bedeutet für das Bundesland Wien gleichzeitig eine unzureichende Repräsentation im Nationalrat. Welches Bundesland wie viele Abgeordnete im Nationalrat erhält, wird durch die Anzahl der StaatsbürgerInnen und nicht der realen Bevölkerung bestimmt. Daher gab es bei der Nationalratswahl 2019 im bevölkerungsreichsten Bundesland Wien nur 33 Mandate zu vergeben, während es im kleineren Niederösterreich 37 waren.

Wahlrechtsreform

Es ist klar: Wenn mehr als eine Million Menschen der österreichischen Bevölkerung, keine Möglichkeit haben an landes- und bundesweiten Wahlen teilzunehmen, dann ist das demokratiepolitisch sehr bedenklich.

Das Wahlrecht wurde historisch gesehen hart erkämpft und mehrfach ausgeweitet. Allen voran die ArbeiterInnenbewegung galt stets als Vorkämpferin bei der Erweiterung demokratischer Grundrechte. So erkämpfte sie 1907 das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht für Männer, Frauen bekamen das Wahlrecht mit der Ausrufung der Republik 1918. Zwischen 1949 bis 2007 wurde das Wahlalter von 20 auf 16 Jahre gesenkt. Seit 1996 dürfen auch alle in Österreich lebenden EU-BürgerInnen wenigstens an Gemeinderats- bzw. Bezirkswahlen teilnehmen.

Bestehende Möglichkeiten

Andere Bemühungen zur Ausweitung des Wahlrechts scheiterten. So wurde der Beschluss des Wiener Gemeinderats aus dem Jahr 2003, allen WienerInnen, unabhängig von der Staatsbürgerschaft, das Wahlrecht auf Bezirksebene zuzusprechen, im folgenden Jahr vom Verfassungsgerichtshof als „verfassungswidrig“ aufgehoben. Ebenso blieb die Anregung des Grazer Gemeinderats von 2004, die verfassungsrechtlichen Bestimmungen zu ändern, um das kommunale Wahlrecht auszuweiten, ohne Erfolg. Der zentrale Knackpunkt findet sich in der österreichischen Verfassung, da sie das Wahlrecht explizit an die Staatsbürgerschaft bindet. Ziel muss es daher sein das Wahlrecht von der Staatsbürgerschaft zu trennen und an andere Kriterien zu knüpfen.

Dass das möglich ist, zeigen internationale Beispiele. In Skandinavien können auch Nicht-EU-BürgerInnen auf kommunaler Ebene mitbestimmen. In Neuseeland und Chile dürfen nach einem bzw. fünf Jahren alle Menschen, unabhängig von der Staatsbürgerschaft, an sämtlichen Wahlen teilnehmen. Warum sollten wir in Österreich nicht auch diesen Weg gehen?

Allen Menschen eine Stimme geben

Wir als Linke müssen daher an die Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung anknüpfen und uns konsequent für die Erweiterung des Wahlrechts einsetzen. Damit könnten die bisher ausgeschlossenen 1,2 Millionen Menschen in Österreich die politische Zukunft des Landes ebenfalls mitbestimmen. Schließlich betreffen Änderungen in der Steuer-, Sozial- oder Gesundheitspolitik die gesamte Bevölkerung und nicht nur die StaatsbürgerInnen. Die Erweiterung des Wahlrechts bedeutet auch die Eingliederung eines erheblichen Teils des Proletariats in demokratische Entscheidungsprozesse. Denn der größte Teil nicht-österreichischer StaatsbürgerInnen sind ArbeiterInnen, einfache Angestellte oder KleinhändlerInnen.

Die Forderung nach einer Erweiterung des Wahlrechts muss jedoch auch eine große Hürde nehmen. Diejenigen, die davon profitieren würden, sind ja ausgeschlossen darüber abzustimmen. So liegt es auf gesetzgebender Ebene an den politischen Parteien im Nationalrat hier Änderungen vorzunehmen. Vordergründig stehen hierbei wahrscheinlich wahltaktische Überlegungen. Eine Partei wird für eine Erweiterung des Wahlrechts stimmen, sofern sie sich davon Stimmenzuwächse erwartet.

Historisch gesehen muss diese Logik allerdings nicht unbedingt zutreffen. Im Vorfeld der Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Frauen 1918 gab es etwa in der österreichischen Sozialdemokratie bedenken. Aus Umfragen zum möglichen Wahlverhalten von Frauen ging hervor, dass die Mehrheit dazu tendiere die Christlichsozialen zu wählen. Trotz absehbarer Mandatseinbußen durch die Einführung des Frauenwahlrechts stand die Sozialdemokratie zu ihrem Grundwert der Gleichheit. Alle Menschen in einer Gesellschaft sollen demokratisch mitbestimmen können.

Wahltaktik ist fehl am Platz

Ein Politikverständnis, das von Grundwerten, und nicht von wahltaktischen Überlegungen geleitet ist, sollte den Kern einer Demokratie ausmachen. Daher müssen wir innerhalb der Parteien, in NGOs, in den Betrieben und auf der Straße die unzureichende Repräsentation der in unserem Land lebenden Menschen ansprechen. Bestehende Strukturen und Initiativen können genutzt werden, um noch deutlicher auf das Demokratiedefizit in Österreich hinzuweisen. Wahlen von BetriebsrätInnen und der Arbeiterkammern, wo die Teilnahme nicht an die Staatsbürgerschaft gebunden ist, können für die Bewusstseinsbildung ebenso genutzt werden wie die Pass Egal Wahl.

Konkret gilt es das allgemeine Wahlrecht für nicht österreichische StaatsbürgerInnen durchzusetzen. Alle Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt in Österreich haben, sollen, nach einem gewissen Übergangszeitraum, das Recht auf politische Mitbestimmung bekommen. Gleichzeitig müssen die Hürden zur Einbürgerung abgebaut werden. Dies betrifft sowohl die hohen Verwaltungsgebühren, als auch die Zulassungskriterien. Vielmehr soll die Einbürgerung durch unterstützende Maßnahmen begleitet werden. Beispiele hierfür können freiwillige Sprachkurse und politische Bildung sein. Mit dem Recht auf politische Mitbestimmung soll der Rechtsanspruch auf die österreichische Staatsbürgerschaft einhergehen.

Die Erweiterung des Wahlrechts ist also eine längst überfällige Maßnahme vor dem Hintergrund der zu erfüllenden gesellschaftlichen Pflichten aller Menschen in Österreich. Die Teilnahme am Diskurs der politischen Entscheidungsfindung und die Abstimmung darüber ist stark integrativ und kann Wegbereiter einer gesellschaftlichen Integration sein. Das Wahlrecht für alle ist eine reale Integrationsmaßnahme und gerade in einem Klima der Ausgrenzung und gesellschaftlichen Spaltung ein deutliches Signal für ein solidarisches Miteinander.

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