Niederlande: Der unbeachtete Rechtsrutsch

In ganz Europa waren letzte Nacht die Augen auf die Wahlen in den Niederlanden gerichtet. Die große Frage war: Geht der globale Aufstieg der extremen Rechten weiter? Nun herrscht scheinbar Erleichterung, Geert Wilders wurde nicht Erster. Doch es gibt keinen Grund für Zufriedenheit, argumentiert Historiker Pepijn Brandon im Interview mit mosaik-Redakteur Benjamin Opratko. Die extreme Rechte hat sich weiter konsolidiert, Hetze und Rassismus haben das politische System durchdrungen. 

Geert Wilders Partei PVV ist bei den gestrigen Wahlen weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Wilders hat nur knapp über 13 Prozent erhalten und liegt weit abgeschlagen hinter der rechtsliberalen VVD von Ministerpräsident Mark Rutte. Ist das ein Zeichen, dass der Aufstieg der Rechten ein Ende gefunden hat? Waren wir gar die ganze Zeit zu ängstlich?

Nein, ich denke nicht. Natürlich ist es eine gute Nachricht, dass die PVV nicht stärkste Partei geworden ist. Aber es gibt keinen Anlass für Zufriedenheit – aus zwei Gründen. Erstens hat die PVV trotzdem dazugewonnen, sie hat nun 20 statt 15 Sitze im Parlament und ist voraussichtlich die zweitstärkste Partei. Der zweite Grund ist, dass eine enorme Radikalisierung in der moderaten Rechten stattgefunden hat. Das war schon während der gesamten letzten Regierungsperiode zu beobachten und hat sich in den letzten Wochen extrem zugespitzt. Mark Rutte, der die Wahl mit seiner Partei VVD gewonnen hat, hat einen offen rechtspopulistischen Wahlkampf geführt. Er hat öffentlich erklärt, dass MigrantInnen „nach Hause gehen“ sollten wenn ihnen die „holländischen Werte“ nicht passen – oder, in seinen Worten, wenn sie sich „nicht normal verhalten“ könnten. Er hat den Konflikt mit der Türkei eskaliert und sogar anti-türkische Ausschreitungen provoziert, allein aus wahltaktischen Gründen.

Aber die Radikalisierung betrifft nicht nur die VVD. Auch die christlich-konservative CDA, die ebenfalls zu den Gewinnern der Wahl gehört, hat offen gegen MuslimInnen gehetzt. Ihr Anführer hat erklärt, dass die „jüdisch-christliche Tradition“ seit Jahrtausenden für die Befreiung der Frauen stehe. Das ist eine bemerkenswerte Position für eine Partei, die bis vor kurzem für ein komplettes Abtreibungsverbot war und weiterhin gegen die Öffnung der Ehe für alle ist. Was wir also sehen ist die vollständige Übernahme der Sprache der Rechtspopulisten durch die Mitte-Rechts-Parteien. Das wichtigste Ergebnis der Wahl ist also zunächst die Konsolidierung der extremen Rechten und eine Verschärfung der Hetze und des Rassismus.

Aber war es nicht doch eine Überraschung, dass es Wilders nicht gelungen ist, von der aufgeladenen Stimmung rund um den Konflikt mit der Türkei stärker zu profitieren?

Nun, nach Trump kann man gar nichts mehr ausschließen. Es wäre töricht gewesen, zu sagen: Wir sind uns sicher, dass die PVV nicht stärkste Partei wird. Was Wahlergebnisse in der gegenwärtigen Periode so unvorhersehbar macht ist die totale politische Fragmentierung der Wahlbevölkerung. Das zeigt auch der spektakuläre Absturz der sozialdemokratischen PvdA. Ein nicht unwesentlicher Faktor war aber wohl auch Donald Trump selbst. Trumps Wahlsieg hat zwar den überzeugten AnhängerInnen von Wilders Auftrieb gegeben, aber viele Menschen, die zuvor überlegt hatten die PVV aus Protest zu wählen, beginnen nun zu zweifeln. Sie sehen, dass aus einer Proteststimme sehr viel mehr werden kann, dass es tatsächliche ernsthafte politische Konsequenzen hat, wenn die extreme Rechte an die Macht kommt. Dazu kommt, dass Trumps Wahlsieg dabei geholfen hat, WählerInnen zu mobilisieren, die keinesfalls eine extrem rechte Regierung wollen. Die Wahlbeteiligung war mit über 77 Prozent extrem hoch – das hat der PVV definitiv geschadet.

Die andere große Überraschung war das sensationelle Abschneiden der Grünen Linken (GroenLinks). Sie konnte ihr Ergebnis vervierfachen, hat jetzt 16 Sitze im Parlament. Ihr Vorsitzender, der junge Jesse Klaver, wird schon als Europas neuer Justin Trudeau gefeiert. Wie erklärst du dir diesen Erfolg?

Nun, zunächst müssen wir eingestehen, dass die Linke insgesamt verloren hat. Die sozialdemokratische PvdA wurde quasi vernichtet, hat nur 5,7 Prozent erhalten. Das ist ein absolut historisches Ereignis. Sie war seit einem Jahrhundert die zentrale Institution der gemäßigten Linken in den Niederlanden.

In den letzten zehn Jahren hat die linke Sozialistische Partei (SP) sich immer als logische Alternative für jene WählerInnen präsentiert, die sich von der PvdA enttäuscht abwenden. Die SP hat ein im Kern sozialdemokratisches Wahlprogramm und organisierte zum Beispiel Kampagnen gegen die Privatisierung des Gesundheitswesens. Aber dabei war die SP so sehr darauf bedacht, wie eine Mainstream-Partei zu wirken, dass sie nicht mehr als echte Alternative sichtbar war. Sie hat zudem viele potenzielle WählerInnen verschreckt, indem sie zur rassistischen Hetze der Rechten geschwiegen oder, schlimmer noch, sich der rassistischen Rhetorik angepasst hat. Das hat einen großen Raum für eine Partei wie GroenLinks eröffnet. Jesse Klaver hat daraus eine sehr erfolgreiche Wahlkampagne gemacht. Sein Slogan war: „Wählt mich – wählt Veränderung!“ Die Partei wurde in der Öffentlichkeit als sehr links wahrgenommen, wenn es um die Verteidigung der Rechte von MigrantInnen geht.

Wir sollten aber nicht übersehen, dass GroenLinks selbst Teil des politischen Mainstreams ist.

Die Partei ist in den 1980er Jahren aus einem Bündnis aus radikalen Linken, einschließlich der Kommunistischen Partei, und der Ökologiebewegung entstanden. Doch in den 1990er Jahren hat sie sich sehr stark nach rechts bewegt. In den letzten Jahren hat die Partei die militärische Intervention in Afghanistan unterstützt. Sie hat die Abschaffung der Stipendien an den Universitäten befürwortet – ein zentrales Element der neoliberalen Angriffe auf das Hochschulsystem – und sich als sozialliberale Partei etabliert.

In den letzten Monaten hat die Führung um Jesse Klaver zwar einen rhetorischen Linksschwenk gemacht, aber in der Partei selbst kam es zu keiner echten inhaltlichen Verschiebung. Obowhl es keinen politischen Bruch mit der Mainstream gab, erzeugte die neue Rhetorik aber großen Enthusiasmus an der Basis. Die Partei wurde als linke Antwort auf die „Trumpifizierung“ der Politik und auf den Aufstieg von Geert Wilders wahrgenommen. Das hat viele Menschen im Wahlkampf aktiviert, viele Freiwillige haben Wahlwerbung gemacht, Flugblätter verteilt und so weiter. In den sozialen Bewegungen war die Partei aber, wie seit vielen Jahren, völlig abwesend.

Du hast den spektakulären Absturz der sozialdemokratischen PvdA – von 24,8 auf 5,7 Prozent – schon erwähnt. Man kann sich das in einem Land wie Österreich, das eine historisch ähnlich starke sozialdemokratische Partei hat, kaum vorstellen. Was sind die Gründe dafür, dass die Sozialdemokratie in den Niederlanden so kollabiert ist?

Dieses Ergebnis zeigt, dass auch die historisch größten Institutionen der ArbeiterInnenbewegung kollabieren können, wenn sie sich von sozialdemokratischer Politik lossagen. Das Ergebnis der PvdA sollte all jenen eine bittere Lehre sein, die diese Parteien noch weiter in die Mitte steuern wollen. In der Mitte verlieren sie. Die PvdA war noch in den vorherigen Wahlen sehr erfolgreich gewesen. Sie hatte im Wahlkampf versprochen, zu verhindern dass Rutte – den Vorsitzenden der rechtsliberalen VVD – in die Regierung kommt. Am Tag nach der Wahl bildeten sie eine Koalitionsregierung mit der VVD und Rutte.

Die tieferen Ursachen reichen aber noch länger zurück. Seit 30, 40 Jahren ist die sozialdemokratische Partei in den Niederlanden für die Durchsetzung neoliberaler Politik verantwortlich. Doch während sie früher zumindest so getan hat, als würde sie die Reformen sozial abfedern, machte sie sich in der vergangenen Regierungsperiode das neoliberale Programm komplett zu eigen. Die PvdA hat beispiellose Sozialkürzungen im Ausmaß von fast 50 Milliarden Euro mitgetragen. Sie hat im Gesundheitswesen und bei der Arbeitslosenunterstützung gekürzt, hat den rassistischen Flüchtlings-Deal gegen MigrantInnen mit dem repressiven Regime in der Türkei unterstützt. Und sie war an vorderster Front dabei, als die EU die griechische Regierung erpresste. Vergessen wir nicht, dass Jeroen Dijsselbloem von der PvdA immer noch Vorsitzender der Euro-Gruppe ist. Interessanterweise meinte letzte Nacht ein Mitglied der VVD, man könnte Dijsselbloom doch in dieser Position belassen, schließlich mache er so einen fantastischen Job.

Die PvdA spielt seit Jahren eine entscheidende Rolle in der Durchsetzung neoliberaler Politik, sowohl in den Niederlanden als auch international. Das ist der wichtigste Grund warum ihre WählerInnenbasis schlicht verschwunden ist. In Amsterdam, einer traditionell linken Stadt, ist die Partei dieses Mal nur viertstärkste Kraft geworden. Und in Rotterdam, der Stadt mit einem der wichtigsten Häfen Europas, wo die Sozialdemokratie bis vor wenigen Jahren absolut hegemonial war, landete die Partei gestern auf Platz sieben. Auf Platz sieben in Rotterdam!

Das ist wirklich unglaublich. Was kann die Linke aus dieser Entwicklung deiner Ansicht nach lernen? Offenbar gibt es zwei verschiedene Modelle, wie mit dem Kollaps der Sozialdemokratie umzugehen ist. Einerseits das sozialliberale Projekt von GroenLinks, andererseits die traditionelle Linkspartei SP, der es offensichtlich nicht gelungen ist, vom Abstieg der PvdA zu profitieren.

Was außerhalb der Niederlande fast unverständlich sein muss ist die große Zahl an kleinen Parteien, die in den letzten Jahren entstanden oder groß geworden sind. Das betrifft nicht nur GroenLinks. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Die „Partei für die Tiere“ hat mit einem rein auf ökologische Themen setzenden Wahlkampf fünf Parlamentssitze erreicht. Und die sehr komplexe Formation „Denk“ hat über 2 Prozent und damit drei Sitze erhalten – eine „Migrantenpartei“, die sich vor allem durch ihren Kampf gegen Rassismus definiert, aber zugleich sehr eng mit dem türkischen Regime von Erdogan verbunden ist.

Wir sehen also eine Zersplitterung der Stimmen jener WählerInnen, die traditionell links wählen, auf Basis einzelner Themen. Das ist vor allem ein Zeichen dafür, dass die SP daran gescheitert ist, eine Alternative aufzubauen, die sowohl die Wut über die neoliberalen Angriffe auf das Sozial- und Gesundheitssystem aufgreifen kann, als auch das Bedürfnis nach echten Alternativen in allen Lebensbereichen – vor allem in Hinblick auf das drängendste und gefährlichste Thema in der holländischen Politik, nämlich den Rassismus. Die Unfähigkeit, eine linke Partei aufzubauen die sowohl bei sozialen und ökonomischen Themen stark ist, als auch als führende Kraft im Kampf gegen Wilders wahrgenommen wird, hat zu dieser Zersplitterung geführt. Das müssen wir überwinden.

Pepijn Brandon ist Historiker am International Institute of Social History in Amsterdam. Er arbeitet zur Geschichte des Kapitalismus, Krieg und wirtschaftliche Entwicklung, und Sklaverei.

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