Crash mit Anlauf: Was hinter der Währungskrise in der Türkei steckt

Die Währung der Türkei ist seit Wochen im freien Fall, die türkische Lira ist auf den Weltmärkten immer weniger wert. Sogar von einem Rettungspaket für die Türkei ist in Deutschland bereits die Rede. Was sind die Ursachen der Währungskrise und welche Ausmaße kann sie noch annehmen? Türkei-Experte Axel Gehring erklärt die Hintergründe.

Der dramatische Verfall des Wechselkurses der Türkischen Lira passt in einen Tweet: Um einen US-Dollar zu kaufen, stieg der Preis in Lira: Von 3 Türkischen Lira (TL) auf 4 TL in 30 Monaten; von 4 TL auf 5 TL in 4 Monaten; von 5 TL auf 6 TL in 2 Wochen; von 6 TL auf 7 TL in 2 Tagen.

Diese dramatische Währungskrise hat einen langen Vorlauf. Im Grunde ist sie eine vielfach verzögerte Wirtschaftskrise. Der Streit zwischen den Regierungen der USA und der Türkei um den amerikanischen Pastor Andrew Brunson, der in der Türkei unter Hausarrest steht, mündete am 10. August in die Ankündigung Donald Trumps, die Zölle auf Stahl- und Aluminiumimporte aus der Türkei zu verdoppeln. Daraufhin sackte die Lira zeitweise um bis zu 20 Prozent ab. Sie hat sich seither nicht wirklich erholt.

Verzögerte Wirtschaftskrise

Beim jetzigen Wechselkurs droht vielen Unternehmen, die in ausländischer Währung verschuldet sind, die Pleite. Einer solchen Pleitewelle wird auch das – an sich mit hohem Eigenkapital ausgestattete – türkische Banksystem nur schwerlich standhalten können. Es ist bei europäischen Banken hoch verschuldet und auch über Beteiligungen eng mit europäischen Banken verflochten.

Trotz geringer Staatsschuld muss die Türkei ihre neuen Anleihen inzwischen mit 20 Prozent verzinsen, das erinnert an Griechenland auf dem Höhepunkt seiner Krise. Eine weitere Eskalation der Lira-Krise kann womöglich die (nie wirklich überwundene) Krise der Eurozone neu entfachen.

Neoliberaler Boom der 2000er

Was sind die tieferen Ursachen des dramatischen Lira-Verfalls? Die AKP-Regierung verfolgte im Grundsatz die gleiche Wirtschaftspolitik wie ihre Vorgängerinnen. Von ihnen übernahm sie ab 2002 die Politik der mit dem Internationalen Währungsfonds vereinbarten „Strukturanpassung“, die sie bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise im Jahre 2007 verfolgte.

Ein ausgeglichener Haushalt und „entpolitisierte“ Institutionen –  wie eine unabhängige Zentralbank – sollten internationales Vertrauen in die Türkei als Anlageort schaffen. Ein hohes Zinsniveau sollte ausländisches Kapital anziehen und den Kurs der Türkischen Lira stabilisieren. All dies gelang zunächst: Mit der Unterstützung des IWF lockte die Türkei reichlich ausländische Investitionen an. Dank der neoliberalen Wirtschaftspolitik und umfangreichen Privatisierungen wuchs die Wirtschaft vorerst.

Privatisierungen, Privatisierungen, Privatisierungen

Konsum und Bauindustrie trugen das Wachstum, aber eine Modernisierung und Vertiefung der türkischen Industrie gelang kaum. Deshalb musste die Türkei weiterhin mehr importieren, als sie produzierte. Mit dem steigenden Wachstum stiegen die Defizite in der Leistungsbilanz.

Die Ergebnisse des Privatisierungsprozesses zwangen so zu immer neuen Privatisierungen und zahlreichen Public Private Partnership-Projekten – wie der defizitären dritten Bosporus-Brücke. Die AKP konnte keine Alternative zu ihrer extrem „investorenfreundlichen“ Politik anbieten, sondern musste diese gewaltsam durchsetzen – lange bevor das Land international negative Schlagzeilen machte.

2007 als Wendepunkt

Seit der 2007 ausgebrochenen Weltwirtschaftskrise war der Zufluss von Investitionen in die Türkei kein Selbstläufer mehr und die türkische Regierung betrachtete ihrerseits den strengen Neoliberalismus nicht mehr als Grundlage für anhaltendes Wirtschaftswachstum.

Entgegen dem Willen der großen Holdinggesellschaften verzichtete sie auf ein weiteres Abkommen mit dem IWF. Die Regierung befürchtete, dass die Fortsetzung der IWF-Programme unter den neuen Voraussetzungen zur Deflation führen würde. Die Regierung setzte stattdessen auf Großprojekte, um Anlagemöglichkeiten für privates Kapital zu schaffen. Auf stagnierende Nachfrage und sinkende Profite reagierte man mit Zinssenkungen. Dafür nahm die Regierung das Sinken des Wechselkurses in Kauf.

Grundlage des Despotismus

Eine expansiv-neoliberale Politik, beruhend auf niedrigen Zinsen, wurde zum neuen Leitparadigma, das in Form zahlreicher Infrastrukturprojekte geradezu buchstäblich in Stein gegossen wurde: Die AKP entwickelte eine Alternative von rechts zum Neoliberalismus des IWF, die um klientelistische Sozialpolitik ergänzt wurde. Das bedeutete nicht zwingend Verschlechterungen für alle, wie etwa in der Gesundheitspolitik. Es trug aber massiv zur gesellschaftlichen Polarisierung und Kulturalisierung von ökonomischen Konflikten bei.

Recep Tayyip Erdoğan inszenierte sich zunehmend als charismatischer Führer und konzentrierte immer mehr politische Kompetenzen bei sich. So konnte er sich auch über die orthodox-neoliberale Bürokratie hinwegsetzen. Der populistische Antibürokratismus von rechts entfaltete ein stark despotisches Moment. Die neue Politik führte zu zunehmender Inflation. Die Lohnarbeitenden konnten dem wenig entgegensetzen, denn sie konnten kaum reale Lohnerhöhungen durchsetzen.

Strukturelle Ursachen der Krise

Die türkische Währungs- und Wirtschaftskrise lässt sich auf zwei grundlegende Probleme zurückführen: Erstens gibt es Sättigungserscheinungen in wichtigen Sektoren, wie zum Beispiel der Bauindustrie. Auf den Märkten werden nicht mehr alle Produkte und Dienstleistungen nachgefragt. Zweitens gibt es hohe Zahlungsbilanzdefizite, die aus der Struktur der türkischen Wirtschaft resultieren.

Letztere machen sich in profitablen Märkten kaum bemerkbar, denn diese ziehen ausländischen Investitionen an, welche die Defizite ausgleichen. Mit dem Sättigungsproblem geriet dieser Mechanismus jedoch seit den späten 2000er Jahren zusehends ins Stocken.

Privatverschuldung als Problem

Auf dieses Sättigungsproblem reagierte die AKP mit einer expansiv neoliberalen Politik. So konnte sie für einen relativ langen Zeitraum das Profitabilitätsproblem überbrücken – allerdings um den Preis einer hohen Inflation und eines seit Jahren sinkenden Wechselkurses.

Der Wechselkurs wurde auch deshalb zur Achillesferse, weil die Netto-Privatverschuldung der Türkei seit den 2000er Jahren auf über 200 Milliarden US-Dollar angestiegen ist und die Bruttoverschuldung des gesamten Landes bei über 460 Milliarden US-Dollar angelangt ist. Dies ist ein Ergebnis der Expansion der Finanzwirtschaft in den 2000er Jahren. Immer mehr TürkInnen nahmen Kredite in ausländischen Währungen auf.

Abwärtsspirale

Je stärker der Kurs der Lira sank, desto mehr zweifelten internationale FinanzakteurInnen daran, dass die Fremdwährungskredite noch bedient werden können. Entsprechend ziehen sie sich vom türkischen Markt zurück. So wird der sinkende Wechselkurs zu einem sich selbst verstärkenden Phänomen. Eine Abwärtsspirale setzt ein.

Die politische Instabilität, die wesentlich aus dem autoritären Neoliberalismus des AKP-Regimes und dessen wachsender Delegitimation und wachsender internationaler Isolierung resultierte, trägt zusätzlich zu dieser Abwärtsspirale bei. Der Bevölkerung in der Türkei steht das Schlimmste noch bevor. Das aber gilt ebenso für die um ihr Überleben kämpfende AKP-Regierung.

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