Mitte Mai fand die erste Beyond Growth Konferenz Österreich statt. Austragungsort war das österreichische Parlament. Das stieß in Teilen der „verkehrten Welt“ des Wachstums-Wunderlandes auf Unverständnis. Der realen Welt tut eine solche Konferenz aber bitter nötig, schreiben Richard Bärnthaler, Halliki Kreinin und Michael Miess.
In seinem berühmten Kinderbuch „Alice im Wunderland“ beschreibt Lewis Caroll eine „verkehrte Welt“. Sie zeichnet sich durch umgekehrte Regeln und eine unberechenbare Logik aus. Bedeutungen sind in ihr fließend und instabil. Die Welt des Wachstums-Wunderlandes, in der ein gutes Leben sowie die Lösung von Umweltproblemen unbegrenztes Wirtschaftswachstum voraussetzt, funktioniert ähnlich: Die Gesetze der Physik gelten nicht mehr. Begriffe werden beliebig. Es gibt absurde Charaktere und zunehmend surreale Ereignisse. Diese verkehrte Welt ist aber kein Kindermärchen. Sie ist eine von Industrielobbies und mächtigen Wirtschaftsinteressen bewusst konstruierte, irreführende Deutung der Realität.
Wenn ich eine eigene Welt hätte, wäre alles Unsinn, nichts wäre, was es ist, denn alles wäre, was es nicht ist.
In der realen Welt, die dieser Deutung nicht folgt, befinden wir uns trotz – oder eben wegen – dem kontinuierlichen Streben nach Wachstum in einer ganz anderen Situation. Mit dem Überschreiten von sechs der neun ökologischen Belastungsgrenzen befinden wir uns jenseits des sicheren menschlichen Handlungsspielraums und inmitten des sechsten Massenaussterbens der Weltgeschichte (Stichwort: Biodiversitätsverlust). In der realen Welt tragen die wohlhabendsten Gruppen überproportional zu ökologischen Krisen bei, während die Ärmsten am stärksten betroffen sind. Kein Land befriedigt in der realen Welt die Bedürfnisse seiner Bewohner*innen innerhalb ökologischer Belastungsgrenzen. In der realen Welt schließt sich das Zeitfenster für effektives Handeln, um ökologischen Krisen wirksam begegnen zu können, rapide.
Wie in Alices Wunderland gilt im Wachstums-Wunderland: „Hier müssen wir so schnell rennen, wie wir können, nur um an Ort und Stelle zu bleiben. Und wenn du irgendwo hingehen willst, musst du doppelt so schnell rennen.“ In dieser verkehrten Welt führt „immer mehr“ und „immer schneller“ zu weniger Materialverbrauch. Mit technologischer Innovation und den „richtigen“ Preisen – sowie den richtigen Gewinnen für die richtigen Leute – können wir aus den Problemen des Wachstums herauswachsen. Denn Wachstum heißt heute grünes Wachstum.
Manchmal habe ich schon vor dem Frühstück sechs unmögliche Dinge geglaubt.
Der Haken: Es gibt es keine empirischen Belege für ein Loslösen des Wirtschaftswachstums von Klima- und Umweltschäden („Entkopplung“) im erforderlichen Tempo und Ausmaß – also kein grünes Wachstum, das uns in der realen Welt retten könnte. Selbst bei der Reduktion von CO2-Emissionen bräuchten die erfolgreichsten OECD-Länder, darunter Österreich, beim gegenwärtigen Tempo noch mehr als 220 Jahre, um die Emissionen im Einklang mit den Pariser Klimazielen zu reduzieren.
In der realen Welt ist es so: Ein gutes Leben jenseits von profit-getriebenem Wachstum ist möglich. Dafür müssen fossile Wirtschaftsbereiche schrumpfen. Andere müssen wachsen – zum Beispiel die Pflege, das leistbare Wohnen, erneuerbare Energien und die Reparaturwirtschaft. Damit dies möglich wird, müssen Ressourcen – Zeit, Arbeitskraft, Geld – in Bereiche geleitet werden, in denen sie gesellschaftlich gebraucht werden. Dies erfordert einerseits demokratische Planung. Andererseits benötigt es die Schwächung von Machtkomplexen und Lobbyinteressen, die ein bedürfnisorientiertes Wirtschaften zugunsten hoher Profite für Wenige aktiv blockieren.
Es braucht demokratische Diskussionsräume, die im Sinne einer guten Wissenschaft die Basis für verantwortungsvolles gesellschaftliches Handeln zum Schutz unserer Lebensgrundlagen bilden. Dies war Ziel der Beyond Growth Konferenz, die vom 13. bis 15. Mai 2024 im österreichischen Parlament stattfand. Vertretrer*innen aus der Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Politik, Gewerkschaften und NGOs suchten gemeinsam nach neuen Narrativen eines guten Lebens. Sie suchten außerdem nach Pfaden für eine zukunftsfähige Realpolitik: von der Finanzierung des Wohlfahrtsstaates bis zur Reduktion des Ressourcenverbrauchs als Voraussetzung für eine Welt, die sich abwendet von fortschreitender Militarisierung im Kampf um globale Ressourcen. Ein gutes Leben für alle innerhalb ökologischer Belastungsgrenzen bedarf einer politischen Neuausrichtung auf Fragen der Suffizienz (des „Genug“) und Gerechtigkeit. Weitere Bausteine sind eine Reduktion von Ungleichheiten und ein Ende der Finanzialisierung des Alltagslebens.
Wir sind hier alle verrückt, weißt du.
Über diese tatsächlichen Inhalte der Konferenz wurde in den Medien nur wenig berichtet. Stattdessen traten mehrere Figuren des Wachstums-Wunderlandes in Aktion, um die Veranstaltung zu diskreditieren. Eine davon ist Elisabeth Zehetner von Oecolution, einem Verband den Greenpeace als „Fake-NGO der Wirtschaftslobbyisten“ betitelt. Zehetner wirft Personen, die für weniger Wachstum eintreten, vor, nicht rechnen zu können. Dabei stützt sie sich auf eine Studie, die vom wirtschaftsliberalen Think Tank Eco Austria erstellt und von ihrer NGO in Auftrag gegeben wurde.
Die ohne Peer-Review-Verfahren erstellte Studie behauptet, dass Emissionssenkung hohe Wirtschaftswachstumsraten voraussetzt. In der Wissenschaft nennt sich diese Annahme „Umwelt-Kuznets-Kurve“. Renommierte Fachzeitschriften wie Nature kritisieren diese Annahme. Vielmehr zeigen sie, dass sie sich auch ins Gegenteil kehren lässt: Ab einem bestimmten Wohlstandsniveau kann steigendes Wachstum zu mehr Umweltbelastungen führen. In der verkehrten Welt scheint das aber niemanden zu beunruhigen. Gleiches gilt für das zugrunde liegende mathematische (= ökonometrische) Modell der Studie. Es ist linear und in seiner Aussagekraft stark beschränkt. Dennoch werden damit Prognosen in Bezug auf komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge und wichtige Prozesse getroffen. Willkommen in der Welt des Wachstums-Wunderlandes!
Seltsamerer und seltsamerer…
Diese Lobby- und Interessen-geleitete Form von „Wissenschaft“ lässt sich mit ernsthafter Szenarien-Literatur für Österreich vergleichen. Sie zeigt ganz andere, wissenschaftlich belastbare Umgangsweisen mit Wirtschaftswachstum. Das Szenario Transition 2040 des Umweltbundesamts zeigt etwa sehr geringe relative Wachstumseffekte am Weg zur Klimaneutralität bis 2040. Wirtschaftswachstum ist das Ergebnis dieser Modellanalyse und nicht deren Bedingung. Außerdem: Wäre der Rückbau klimaschädlicher Sektoren in diesem Szenario ausgeprägter, hätte die Klimaneutralität bis 2040 einfacher und auch komplett erreicht werden können. Das unterstreicht auch der Forschungsstands-Bericht des Austrian Panel on Climate Change (APCC): „Wenn klimafreundliches Leben dauerhaft möglich und rasch selbstverständlich sein soll, erfordert dies eine grundlegende und weitreichende Transformation, die den Rückbau klimaschädigender und den Aufbau klimafreundlicher Strukturen umfasst.“
Transformation in der realen Welt basiert nicht auf abstrakten Wirtschaftswachstumsraten. Stattdessen braucht es die Gestaltung wirtschaftlicher, politischer, rechtlicher und institutioneller Rahmenbedingungen. Ihr Ziel muss es sein, Ressourcenverbrauch zu vermeiden, Energieeffizienz zu erhöhen, Treibhausgase zu reduzieren, Ressourcen zu schonen und ein gutes Leben zu ermöglichen. Dazu gibt es zahlreiche Vorschläge wirksamer Maßnahmen und Instrumente – etwa im Bericht des APCC. Diese gilt es nun in der realen Welt dringend umzusetzen.
…Alice fand sich am Ufer liegend wieder, den Kopf im Schoß ihrer Schwester. „Wach auf, liebe Alice“, sagte ihre Schwester, „du hast aber lange geschlafen!“
Titelbild: Global 2000 on flickr