Die seit 2008 anhaltende Finanz- und Wirtschaftskrise bewirkt eine massive Verschärfung der sozialen Auseinandersetzungen. Da der Kuchen der Wirtschaft nicht mehr wächst, wird der Kampf um die Verteilung intensiver. Bislang sind die Kosten der Krise äußerst ungleich verteilt: Massenarbeitslosigkeit und dramatische Lohn- und Sozialkürzungen auf der einen, Bankenrettung und steigende Topvermögen auf der anderen Seite.
Fast alle Krisenländer haben selbst schwerwiegende und kostspielige Fehler in der Wirtschaftspolitik gemacht; doch die EU-Institutionen setzten – unterstützt durch die Mitgliedsstaaten – mitten in der Krise massive Kürzungen der Staatsausgaben durch und haben so den wirtschaftlichen Einbruch und die schwerwiegenden sozialen Folgen deutlich verstärkt. Auch Österreich hat durch den fehlenden Widerstand gegen die neokonservative Budget- und Verteilungspolitik der Troika dabei eine unrühmliche Rolle gespielt. Dies obwohl die nationalstaatliche Politik und die wirtschaftliche und soziale Entwicklung besser waren als in den meisten anderen EU-Ländern.
Entscheidend dafür waren die erfolgreiche Verteidigung der Grundpfeiler eines allgemeinen Sozialstaates, die Umsetzung der Budgetkonsolidierung zu einem erheblichen Teil auf der Einnahmenseite, die auch symbolisch wichtige Ausweitung der Besteuerung von Vermögenseinkommen (Immobilien-Kest, Wertpapierzuwachssteuer, Bankenabgabe), sowie umfangreiche Anstrengungen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen. Doch die falsche europäische Politik hinterlässt auch in Österreich tiefe Spuren.
Arbeitslosigkeit und Vermögenskonzentration
Die Zahl der Arbeitslosen (inklusive SchulungsteilnehmerInnen) ist seit Beginn der Finanzkrise in Österreich um mehr als 120.000 gestiegen. Das bedeutet für die Betroffenen markante Einkommensverluste und für die Beschäftigten und ihre Interessenvertretung einen Verlust an Verhandlungsmacht bei Gehaltsverhandlungen. Das drückt den Lohnanteil am Volkseinkommen.
Spiegelbildlich zum Fall der Lohnquote um etwa 10 Prozentpunkte seit 1995 ist der Anteil der Vermögenseinkommen (Dividenden, Zinsen, Mieten und Pachten) gestiegen. Diese Einkommen fließen vor allem an die Spitze der Verteilung. Während Vermögenseinkommen für 95% der Haushalte nur 3% ihrer Gesamteinkommen ausmachen, betragen sie im obersten Prozent der Haushalte etwa ein Drittel und belaufen sich monatlich auf 8.000,- Euro.
In der extrem ungleichen Verteilung der Vermögenseinkommen drückt sich die Konzentration des Vermögensbesitzes aus: Das reichste Prozent, 37.000 der Haushalte, besitzt 37% des gesamten Vermögens; die knapp 190.000 Millionärshaushalte besitzen 58%. Die unteren neun Zehntel der Haushalte haben nur 31%. Der Schluss, die breite Masse der Bevölkerung sei arm, wäre allerdings falsch: In Österreich braucht man vielerorts aufgrund des erfolgreichen Modells des sozialen Wohnbaus die eigene Wohnung nicht zu besitzen, um gut und sicher zu wohnen; man braucht wegen der Lebensstandardsicherung durch die soziale Pensionsversicherung nicht in großem Stil anzusparen, um den Lebensabend finanziell abgesichert bestreiten zu können. Die Ungleichheit in der Vermögensverteilung ist nicht durch eine Vielzahl von Armen, sondern durch eine kleine Zahl von extrem Reichen bestimmt. Das von der Occupy Wallstreet Bewegung geprägte Bild vom Kampf des obersten Prozents gegen die 99% gibt die Realität richtig wieder.
Meritokratie oder Inheritokratie?
Thomas Piketty sieht in seinem bahnbrechenden Werk Kapital im 21. Jahrhundert die Gefahren dieser Vermögenskonzentration vor allem in der Gefährdung von Gerechtigkeit und Freiheit. Sie droht uns wieder in eine Gesellschaft einzementierter sozialer Strukturen des 19. Jahrhunderts zurückzuwerfen, in der nicht das Versprechen von Entlohnung nach Leistung prägend war (Meritokratie), sondern die Vererbung des Reichtums die soziale Stellung bestimmte (Inheritokratie).
Mit dem starken Wachstum und der enormen Konzentration von Vermögen und Vermögenseinkommen auf der einen Seite und stagnierenden Arbeitseinkommen und hoher Arbeitslosigkeit auf der anderen Seite werden auch die Umverteilungsspielräume des Sozialstaates immer enger. Diese beruhen überwiegend auf Lohnabgaben und wirken mittels eines umfassenden Angebots an sozialen Dienstleistungen (Gesundheit, Bildung ua) und lebensstandardsichernder Transfers (Pensionen, Arbeitslosengelder ua). Die Umverteilung erfolgt dabei zum ersten über den Lebenszyklus: Alle Menschen profitieren vom Sozialstaat, aber zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihres Lebens: Er verteilt von den Gesunden zu den Kranken, den Beschäftigten zu Arbeitslosen und PensionistInnen, den Kinderlosen zu Familien um. Zweitens kommen Sozialtransfers und soziale Dienstleistungen gemessen am Einkommen ganz besonders den unteren und mittleren Einkommensgruppen zugute, die sich Leistungen dieses Umfangs und dieser Qualität privat finanziert nicht leisten könnten.
Interessenunterschiede entscheidend
Gerade die Auseinandersetzungen um die Zukunft des Sozialstaates und die damit verbundenen Verteilungsfragen spiegeln unmittelbar die Machtverhältnisse und Interessenunterschiede in unserer Gesellschaft. Interessenvertretungen und Think Tanks, die von ein paar Millionären finanziert werden (wie Agenda Austria oder Eco Austria), müssen verteilungspolitisch andere Positionen vertreten als Organisationen wie AK und ÖGB, die die Interessen von Millionen an Mitgliedern vertreten.
Diese interessenpolitischen Unterschiede prägen auch die erwarteten gesamtwirtschaftlichen Wirkungen von Verteilungspolitik. Die neoliberale „trickle down theory“: Sie sieht die starke Konzentration des Reichtums ganz oben dadurch gerechtfertigt, dass die Reichen investieren und konsumieren, wovon die gesamte Gesellschaft profitiere. Man solle die Reichen rauschende Feste feiern lassen, auch weil der Rest der Bevölkerung dabei Beschäftigung und Auskommen als Dienstleister (oder besser Dienstboten) finde. Emanzipatorische Überlegungen zeigen, empirisch etwa mit dem Buch „Gleichheit ist Glück“ von Richard Wilkinson und Kate Pickett gut abgesichert, wie eine gerechtere Verteilung wichtige Sozial- und Gesundheitsindikatoren für die gesamte Gesellschaft verbessert: Gerechte Einkommensverteilung senkt als erfreulichen Nebeneffekt auch die Herzinfarktraten der Reichen, die nicht hinter jeder Ecke einen Räuber fürchten müssen.
In Österreich wurden Verteilungsfragen über Jahrzehnte links liegen gelassen. Dies zeigt sich besonders im – durch das unnötige Bankgeheimnis und die unzeitgemäße Bewertung bedingten – Fehlen ausreichender Daten zur Verteilung und Entwicklung von Finanz- und Immobilienvermögen. Spätestens die anhaltende Finanzkrise und ihre sozialen Folgen rücken die Verteilungsauseinandersetzungen in den Mittelpunkt der Gesellschaft. Österreich braucht deshalb einen Kurswechsel.
Verteilungspolitischer Kurswechsel
Wesentliche Elemente einer anderen Verteilungspolitik wären meiner Ansicht nach:
- Vollbeschäftigungspolitik mit dem Ziel, eine Knappheit an Arbeitskräften zu erreichen und so die Machtverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt zu verschieben, prekäre Beschäftigung zurückzudrängen und höhere Löhne besonders für die Jungen, die Frauen und die nicht ausreichend Qualifizierten zu erreichen. Ohne moderne Formen der Arbeitszeitverkürzung zusammen mit Anstrengungen zur fairen Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen den Geschlechtern wird dies nicht erfolgreich sein können.
- Verteidigung und Umbau des Sozialstaates, der die wichtigste Errungenschaft der arbeitenden Bevölkerung darstellt: Die offensive Strategie einer emanzipatorischen Sozialpolitik besteht in der Schaffung eines Rechtsanspruchs auf soziale Dienstleistungen (Gesundheit, Bildung, Wohnraum, Mitbestimmung uvam), der mit einer Ausweitung des Angebots an diesen Dienstleistungen einhergehen muss und eine materielle Grundsicherung (statt eines monetären Grundeinkommens) bedeutet.
- Besteuerung von Vermögensbeständen, Erbschaften und Vermögenseinkommen mit dem Ziel die Konzentration des Vermögensbesitzes zu verringern. Wichtige Voraussetzungen für eine griffige Vermögensbesteuerung bilden die vollständige Erfassung der Vermögen und die Bekämpfung des Steuerbetruges.
- Wiewohl der Spielraum für nationalstaatliche Verteilungspolitik nach wie vor hoch ist, werden wesentliche Rahmenbedingungen auf internationaler Ebene geprägt. Deshalb ist eine aktive fortschrittliche Europapolitik zur Stärkung jener Kräfte notwendig, die gegen Arbeitslosigkeit und Sozialabbau und für eine Verkleinerung des Finanzsektors und die Verhinderung der Steuerhinterziehung sowie eine Ausweitung von Demokratie und Mitbestimmungsrechten eintreten
Dieser verteilungspolitische Kurswechsel beinhaltet die wichtigsten Elemente einer emanzipatorischen Politik, die auf Gewinnung von Freiheit für die Einzelnen abzielt. Diesen Initiativen können auch einen Beitrag zur wichtigen Anerkennung der gesellschaftlichen Leistungen der sozial Schwächeren bedeuten. Die besonders von Axel Honneth betonte Bedeutung der Anerkennung wird in der Verteilungspolitik meist unterschätzt. Sie ist nicht nur symbolisch wichtig, sondern auch materiell und ermöglicht solidarische Beziehungen, auf denen ein selbstbestimmtes Leben fußt.
Markus Marterbauer leitet die Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik der AK Wien und bloggt auf http://blog.arbeit-wirtschaft.at/.