Utopie im Radio: „Die Dinge könnten immer auch anders sein“

Ab 24. September werfen Radiomacher*innen von ORANGE 94.0 einen Blick in die Zukunft einer Welt mit Corona. Denn so verheerend die Auswirkungen der Pandemie sind, so denkbar schien plötzlich auch eine Utopie. Zu hören ist die Sendereihe jeden Donnerstag ab 16:00. Mosaik begleitet das Projekt mit fünf Texten. Den Anfang macht Fiona Steinert.

Die Corona-Pandemie hat in allen Lebensbereichen gezeigt, wie krisenhaft unsere Normalität ist: kaputtgesparte Gesundheitsversorgung, prekäre Wohnverhältnisse und fehlender Freiraum in Städten, ungleiche Chancen im Bildungssystem und ungerechte Verteilung von Care-Arbeit. Doch es gab auch die anderen Momente. Die Pandemie hat auch den Blick auf ein paar utopische Momente freigelegt: autofreie Städte, verbesserte Luft- und Wasserqualität, nachbarschaftliche Unterstützungsnetzwerke, bewusster Konsum. Allerorts wird seither darüber nachgedacht, was die Krise für die Zukunft bedeutet.

Neoliberalismus kontra Utopie

Angesichts der multiplen sozialen und ökologischen Krisen ist in den vergangenen Jahren das utopische Denken salonfähig geworden. Das war nicht immer so, erklärte die Architekturtheoretikerin, Utopistin und Leiterin des Projekts Grazotopia Ana Jeinić Anfang September im Onlineseminar „Her mit der Utopie!“. Die längste Zeit sei Spekulieren eine Sache der Literatur – oder aber der Finanzwirtschaft – gewesen. Als „utopisch“ wurden Konzepte benannt, wenn sie als unrealistisch abgetan werden sollten. Oder es wurden ihnen für den Fall ihrer Realisierung totalitäre Züge unterstellt.

Dass wir diese Zuschreibungen im Kopf haben, wenn von Utopien die Rede ist, ist dem Neoliberalismus zu verdanken. There Is No Alternative. Jede Vorstellung von einer gerechteren Welt jenseits ihrer kapitalistischen Ausformung muss unausweichlich in einem totalitären Projekt enden. Das ist die Legitimation einer neoliberalen Weltordnung, erklärte Jeinić.

Spekulieren mit Relevanz

In einer Gegenbewegung dazu und mit der Verbreitung der Erkenntnis, dass wir eben mit der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems auf die Katastrophe zusteuern, ist klar geworden, dass wir politisch relevante Vorstellungen von einer alternativen Zukunft brauchen.

Zum anderen weist Jeinić darauf hin, dass wir mit Entwicklungen u.a. in Bereichen wie Genetik und Digitalisierung konfrontiert sind, die auf eine posthumane Welt hinaus laufen. Um diesen neuen Realitäten begegnen zu können, müssen wir erst Werkzeuge entwickeln. Ein Prozess, bei dem das Spekulieren neue gesellschaftliche Relevanz bekommt.

Um zu einer systemischen Auseinandersetzung mit alternativen Zukunftsmodellen befähigt zu sein, bedarf es in einem ersten Schritt einer Analyse des Bestehenden. Ein kritisches Verständnis der Gegenwart ist die Voraussetzung dafür, dass sich eine kollektive Praxis entwickeln kann. Die Utopie kann nicht auf Grundlage von Expert*innen-Vorschlägen entstehen.

Weltveränderung neuer Qualität?

An der Frage der Anschlussfähigkeit von Zukunftsmodellen und ihrer Sprache setzt auch die von Kris Krois vom transdisziplinären Master-Lehrgang in Eco-Social Design an der Freien Universität Bozen vorgeschlagene Methode des kollektiven Mappings an. Dabei entsteht durch versammeltes Wissen eine Landkarte von vorhandenen Themen, Akteur*innen und möglichen Allianzen zwischen ihnen. Aus solchen Landkarten in Kombination mit Action-Cafés, Stadtlaboren und Methoden aus der Organisationsgestaltung können schließlich konkrete Praktiken gegenseitiger Unterstützung hervorgehen.

Aber hat nun der Drang zur Weltveränderung durch die Corona-Pandemie eine neue Qualität erhalten? Für kurze Zeit sind während des Ausnahmezustands im Frühjahr ja Hoffnungen aufgekommen, dass der Moment für die Transformation gekommen wäre. An allen möglichen gesellschaftlichen Ecken und Enden wurden Schieflagen des Systems in einer Form und Dichte bemerkbar. Aber wie Jana Gebauer und Corinna Dengler vom Unleashing Fantasy-Kollektiv bei der Degrowth-Konferenz Anfang Juni pointiert festhielten: „Möglichkeitsfenster sind keine Abkürzung für Transformationsprozesse.“ Im Gegenteil: Von Arbeiter*innen- und Frauenbewegung über 1968, die Öko- und Friedensbewegung der 1980er-Jahre, Eine andere Welt ist möglich, Occupy, 15M und Arabischen Frühling bis zu Black Lives Matter und Fridays for Future – Transformationsprozesse haben und sind eben eine lange und langwierige Geschichte.

Bildet Allianzen

Die Chance, die sich jetzt bietet, ist gleichzeitig eine Aufgabe, die sich stellt. Wir werden keines der brennenden gesellschaftlichen Themen für sich behandeln können: Wenn wir übers Klima reden, müssen wir Gerechtigkeit thematisieren. Im öffentlichen Raum müssen wir über leistbares Wohnen, Zugang zu Kultur genauso wie über Verkehrspolitik nachdenken. Ernährung hat mit Urbanisierungsprozessen zu tun, Care-Arbeit mit Klassen- und Geschlechterverhältnissen und Grenzpolitik mit Wirtschaftsmodellen.

Um von der Komplexität dieser Fragen und den damit verbundenen Unsicherheiten nicht überrollt zu werden, werden wir weitreichende Allianzen des füreinander Sorge Tragens brauchen.

Hörtipp: Post-Normal – Wir wir uns die Zukunft denken ist ein Projekt von Radio ORANGE 94.0. Mosaik ist Kooperationspartner. Zu hören jeden Donnerstag um 16:00 auf UKW 94.0 oder im stream auf o94.at. Zum Nachhören unter: https://www.freie-radios.online/sendereihe/post-normal

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