Und es gibt sie doch: Kinderarmut in Österreich

Kinderarmut in Österreich unterscheidet sich von den Bildern von hungernden Kindern in Afrika, die wir alle im Kopf haben. Aber es gibt sie. Und auch wenn sie vielleicht nicht so offensichtlich ist, hat sie doch viele Gesichter und nimmt viele Erscheinungsformen an: Arme und armutsgefährdete Kinder gibt es in allen Regionen Österreichs, in Familien mit einem oder zwei Elternteilen, in berufstätigen Familien. Sie leben mit und unter uns – auch wenn wir sie oft nicht sehen.

Vielleicht erklärt dies die Aussage des ÖVP-Klubobmanns Lopatka, in der er behauptete, in Österreich gäbe es keine Kinderarmut. An den Daten und Zahlen kann er sich wohl kaum orientiert haben, denn diese zeigen vielmehr eine Verfestigung des Phänomens der Kinderarmut: In Österreich sind aktuell insgesamt 14,2 Prozent der Bevölkerung oder, in absoluten Zahlen, über eine Million Menschen armutsgefährdet. Das bedeutet, dass sie unter der Armutsgefährdungsgrenze von 1.161 Euro (für Einpersonenhaushalte) leben. Ein Viertel von ihnen – also rund 310.000 oder 18 Prozent – sind Kinder und Jugendliche. Diese sind somit überdurchschnittlich betroffen. Armutsgefährdet zu sein bedeutet für die Kinder unter anderem, in überbelegten und feuchten Wohnungen leben und das Taschengeld für die Haushaltsausgaben sparen zu müssen, sich keine Vereinsmitgliedschaften leisten, keine FreundInnen zu sich einladen und selten oder nie auf Urlaub fahren zu können.

Arm oder mehrfach ausgegrenzt sind immerhin 120.000 Kinder und Jugendliche in Österreich. Für die Betroffenen bedeutet das noch zusätzlich, sich nicht ausgewogen ernähren, sich kaum neue Kleidung leisten oder die Wohnung nicht angemessen heizen zu können.

Einmal arm, immer arm?

Für Kinder und Jugendliche hat eine solche Situation Auswirkungen auf ihre weitere Entwicklung, und sie beeinträchtigt nicht zuletzt ihren Gesundheitszustand. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Verfestigung von Armutslagen in der Bevölkerung – zwei Drittel der aktuell Betroffenen waren bereits ein Jahr zuvor oder länger armuts- oder ausgrenzungsgefährdet – ist dies besonders tragisch.

Bildung wird in diesem Zusammenhang oft als zentrales Kriterium für eine Überwindung von Armutslagen genannt. Doch auch hier zeigen sich die Auswirkungen der Armutsgefährdung: Nachhilfeunterricht, Förderkurse und Unterstützung bei Legasthenie können sich fast die Hälfte aller armutsgefährdeten Haushalte für ihre Kinder aus finanziellen Gründen nicht leisten. Unterschiede nach sozioökonomischem Status gibt es auch betreffend der Schulwahl: Aktuell gehen mehr als die Hälfte der Kinder aus armutsgefährdeten Haushalten in die Hauptschule, aber nur 22 Prozent der Kinder aus Haushalten mit hohem Einkommen. Lediglich ein Fünftel der Eltern mit mittlerem und niedrigem Einkommen plant einen Studienabschluss für ihre Kinder, bei Haushalten mit hohem Einkommen ist es mehr als die Hälfte.

Kinderarmut in den Blick nehmen

Kinderarmut ist relativ und mehrdimensional. Es geht nicht nur um den materiellen Mangel als Folge von Armutslagen, sondern auch um einen begrenzten Zugang zu öffentlichen Ressourcen, um soziale Ausgrenzung, um eingeschränkte soziale Kontakte sowie um emotionale und gesundheitliche Belastungen. Um dieser Komplexität der Benachteiligungen und dem Erleben der Auswirkungen gerecht zu werden, müssen verstärkt Kinder und Jugendliche nach ihrer Sicht und ihrem Erleben von Armut gefragt werden.

In einer von September 2014 bis Oktober 2015 durchgeführten Studie der Volkshilfe wurden daher die Lebensbedingungen und das soziale Umfeld von insgesamt 26 armutsbetroffenen, armutsgefährdeten und nicht-armutsgefährdeten Kindern und Jugendlichen zwischen acht und 15 Jahren in zwei unterschiedlichen österreichischen Regionen qualitativ erhoben. Die Ergebnisse zeigen, dass Kinder sehr verständnisvoll mit der finanziellen Situation der Eltern umgehen und ihre Ansprüche zurücknehmen.

Das Akzeptieren der eigenen Situation hinterlässt Spuren: Oft sprachen die Kinder davon, dass es sie traurig macht, wenn sie sich Dinge nicht leisten können. Nicht-armutsgefährdete Kinder und Jugendliche, die keine armen Kinder persönlich kennen, können sich häufig nicht in eine solche Situation hineinversetzen, Armut ist für sie schwer vorstellbar. Im Vergleich dazu beschreiben armutsbetroffene Kinder die Situation sehr plastisch und aus ihrem eigenen Erfahrungsschatz. Trotz des erlebten Mangels beziehen sich die Kinder oft auf andere (z.B. Kinder in der Schule, Flüchtlingskinder), die weniger als sie selbst haben (z.B. Taschengeld, Kleidung).

Der Fokus auf die subjektiven Wahrnehmungen der Kinder ist für die Forschung ebenso wie für die Praxis der Sozialarbeit nötig, um die Bewältigung von Armut mit in den Blick zu nehmen. Gerade bei Kindern und Jugendlichen werden in derartigen Situationen und Lebenslagen Strategien des Überspielens und des Tabuisierens angewandt. So ist zum Beispiel kaum Essen im Kühlschrank, aber nach außen hin werden Markenklamotten getragen und Smartphones hergezeigt. Oder die Scham- und Minderwertigkeitsgefühle der Kinder sind derart ausgeprägt, dass sie Schwierigkeiten haben, ihre Bedürfnisse zu artikulieren oder um etwas zu bitten, das ihnen eigentlich zusteht (z.B. Lernmaterial, Mittagsangebote oder Pausengetränke).

Das Gesicht dieser „neuen Armut“ zeigt sich hierbei besonders deutlich am Verzicht-Leisten als Dauerzustand, der keine zeitliche Begrenzung kennt.

Kinderarmut als Frage der Verteilung

Wesentliche Ursache sind strukturelle Ungleichheiten, denn Kinderarmut verfestigt sich durch das Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich und steht in einem direkten Verhältnis zum Haushaltseinkommen der Familie. Besonders häufig betroffen sind Kinder und Jugendliche in Haushalten mit mehr als drei Kindern, in Ein-Eltern-Haushalten oder in Haushalten ohne österreichische StaatsbürgerInnenschaft. Auch Arbeitslosigkeit der Eltern kann ein Auslöser für Kinderarmut sein, wobei es selbst vielen ArbeitnehmerInnen gerade im Niedriglohnbereich trotz Erwerbstätigkeit nicht gelingt, die Armutsgefährdungsschwelle zu überschreiten.

Studien zeigen zudem, dass Wohlstand noch ungleicher verteilt ist als Einkommen. Ob eine Person in eine reiche Schicht mit hohen Bildungsabschlüssen hineingeboren wird, hat großen Anteil daran, ob sie einmal Vermögen besitzen wird. Im Ländervergleich ist dieser Zusammenhang in Österreich besonders stark ausgeprägt, insbesondere in Bezug auf Erbschaften.

Das macht deutlich, dass Risiken der Armutsgefährdung und Chancen für deren Überwindung gesellschaftlich ungleich verteilt sind. Hier muss der österreichische Sozialstaat ansetzen und eine Umverteilung in Gang bringen. Es stimmt, dass ohne staatlich finanzierte Sozialleistungen 36 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Österreich armutsgefährdet wären – doch auch die aktuellen 18 Prozent sind zu viel!

Diskussionen rund um Kürzungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung gehen in die falsche Richtung und würden gerade auch Kinder und Jugendliche, die in den betroffenen Familien leben, hart treffen. Vielmehr ist kindsbezogene Armutsprävention als sozial- und gesellschaftspolitische Aufgabe zu verstehen, die einerseits an der Stärkung der einzelnen Kinder und Jugendlichen ansetzen muss, auf der anderen Seite allerdings auch die Gestaltung von kindergerechten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sicherzustellen hat. Hierzu zählen die Sensibilisierung zu Kinderarmut über regelmäßige Berichte ebenso wie ein integratives Bildungssystem und eine materielle Absicherung von Kindern und Jugendlichen, die deren soziale Teilhabe und Partizipation ermöglicht.

Natürlich wäre es wünschenswert, der Aussage zustimmen zu können, dass es keine Kinderarmut in Österreich gibt – aber nicht, weil wir sie nicht sehen (wollen), sondern weil sie nicht mehr existiert.

Manuela Wade hat Politikwissenschaft und Raumplanung studiert. Sie ist seit August 2015 Mitarbeiterin der Volkshilfe Österreich im Bereich Sozialpolitik für Projekte zum Thema Kinderarmut. Zudem ist sie als externe Lehrbeauftragte an der Universität Wien tätig.

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