Tyma Kraitt: “Den einen politischen Islam gibt es nicht”

In ihrem neuen Buch „Sunniten gegen Schiiten. Zur Konstruktion eines Glaubenskrieges“ beschäftigt sich die Autorin Tyma Kraitt mit den Ursprüngen sunnitischer und schiitischer Interpretationen des Islams, ihre aktuellen Spielarten und dem Begriff des politischen Islams. Mosaik-Redakteurin Klaudia Rottenschlager hat Kraitt interviewt. Ein Gespräch über geopolitische Spannungen, Kolonialismus und Dinosaurier.

Mosaik: Dein Buch bietet einen ausführlichen historischen Rückblick über die Herausbildung der sunnitischen und schiitischen Glaubensrichtungen. Was ist der zentrale Unterschied und warum sind diese beiden Gruppen verfeindet?

Tyma Kraitt: Der Gegensatz zwischen Sunniten und Schiiten hatte schon in seinen historischen Ursprüngen mehr mit Politik als mit religiösen Differenzen zu tun. Im Zentrum stand die Frage von Herrschaft und Organisation der jungen islamischen Gemeinschaft. Nach dem Tode des Propheten Muhammed im Jahr 632 konkurrierten zwei Lager um dessen Nachfolge. Die Schiiten entwickelten sich aus der Gruppe, die den vierten Kalifen Ali unterstützten, einen Cousin und Schwiegersohn Muhammeds. Sie forderten, dass nur ein direkter Verwandter dessen legitimer Nachfolger sein könne, blieben allerdings eine Minderheit. Es setzte sich die Gruppe durch, aus der die Sunniten hervorgingen. Ihnen reichte es, dass der neue Anführer aus dem Stamm des Propheten komme. Direkter Nachkomme musste er keiner sein. Von diesem Gegensatz ausgehend haben sich in den folgenden Jahrhunderten unterschiedliche Theologien entwickelt.

Dass der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten derzeit wieder in aller Munde ist, hat mit dem Konkurrenzkampf zwischen dem wahhabitischen Königreich Saudi-Arabien und der schiitischen Islamischen Republik Iran zu tun. Riad und Teheran kämpfen um politischen, ökonomischen und ideologischen Einfluss in der Region. Sie schrecken nicht davor zurück, ihre Rivalitäten blutig in anderen Ländern auszutragen, wie aktuell im Jemen.

Was war dein persönlicher Antrieb, dieses Buch zu schreiben?

Als Mutter eines Dreijährigen beschäftige ich mich momentan gerne mit Dinosauriern. Mein Sohn steht beispielsweise total auf den Velociraptor. Interessanterweise hat das Bild, das wir von diesem kleinen Killer haben, nur wenig mit den Raptoren aus der späten Kreidezeit zu tun. Es wurde vielmehr stark von Steven Spielbergs Film Jurassic Park von 1993 geprägt. Tatsächlich war der Velociraptor kleiner als im Film dargestellt. Außerdem geht man davon aus, dass er ein Federkleid trug. Diese Darstellung hat sich bis heute nicht in der Populärkultur durchgesetzt.

Ähnlich wie Spielberg und Autor Michael Crichton damals aus teils dramaturgischen Gründen, aber auch aus Unwissenheit eine verzerrte Version des Velociraptors entwarfen, so tragen beispielsweise Massenmedien dazu bei, dass wir eine verzerrte und reduktionistische Wahrnehmung der sogenannten Islamischen Welt haben. Und da knüpfe ich eigentlich an. Sunniten versus Schiiten ist mittlerweile ein beliebtes Motiv zur Erklärung der Krisen im Nahen und Mittleres Osten. Über die Hintergründe erfahren wir allerdings viel zu wenig.

Was brauchen Analysen über religiöse Konflikte? Wie sehr laufen wir Gefahr, diese in unserem Sprechen und Schreiben über sie zu essentialisieren?

Ich versuche diese Konflikte historisch zu kontextualisieren. Warum brechen sie jetzt auf? Was sind die sozio-ökonomischen Hintergründe? Welche geopolitischen Rahmenbedingungen finden wir vor? Es ist völlig absurd, so zu tun als wäre die dortige Bevölkerung nur von ihrer Religionszugehörigkeit angetrieben. Das sind Menschen, mit unterschiedlichen Interessen und vielschichtigen Identitäten, keine Zombies.

Wie haben koloniale Expansionen im arabischen Raum den Konflikt zwischen Sunnit_innen und Schiit_innen beeinflusst?

Das ist von Land zu Land unterschiedlich. Die beiden Mandatsmächte Großbritannien und Frankreich haben nach dem Ersten Weltkrieg ohne Rücksicht auf die Bevölkerungsstruktur Staaten etabliert, in denen einzelne Gruppen gegenüber anderen bevorzugt wurden.

Die Briten schufen ein Königreich Irak mit einem sunnitischen Haschemiten als Herrscher, obwohl Schiiten damals schon zumindest die Hälfte der Bevölkerung gestellt haben. Die Franzosen förderten wiederum in Syrien religiöse Minderheiten, darunter auch die Alawiten, gegenüber der sunnitischen Mehrheit. Vielen Alawiten gelang über das Engagement in den Troupes Speciales du Levant, die übrigens zur Aufstandsniederschlagung gegründet wurden, der soziale Aufstieg. Gleichzeitig bauten sie dadurch auch ihren Einfluss auf den Sicherheitsapparat aus, der bis heute unter Führung des alawitischen Assad-Clans ist.

Du widmest dich in deinem Buch auch dem Begriff des politischen Islams. Was bedeutet dieser außerhalb seiner Verwendung als Kampfbegriff?

Was politisch-islamische Gruppen von klassischen religiösen Vereinen unterscheidet, ist klarerweise ein religiös inspiriertes politisches Programm. Ich habe der Begriffsproblematik ein Kapitel gewidmet, weil auch der mittlerweile in Mode gekommene Begriff „politischer Islam“ seine Tücken hat – wie auch „Islamismus“ oder „islamischer Fundamentalismus“. Sie sind alle unzureichend. Genauso wenig wie es den einen Islam gibt, gibt es den einen politischen Islam, sondern unterschiedlichste Spielarten.

Vom politischen Islam ist natürlich der anti-politische Islam des aktivistischen bzw. militanten Salafismus zu unterscheiden. Und der Begriff Fundamentalismus lässt sich ohnehin eher auf die puristischen Strömungen des Wahhabismus oder Salafismus anwenden, denn die Lehren eines Hassan al-Bannas (Gründer der Muslimbruderschaft, Anm.) oder eines Chomeinis (Revolutionsführer im Iran, Anm.) werden wir wohl kaum eine Buchtreue bzw. die Rückkehr zu einer imaginierten Ursprünglichkeit des Islams attestieren können.

Die österreichische Regierung plant gerade eine Dokumentationsstelle für den politischen Islam. Braucht es diese in Österreich und wenn ja, wer sollte so eine Stelle aufbauen und was könnte sie leisten?

Wie wird der politische Islam hier definiert und abgegrenzt? Auch religiöse Menschen haben ein Recht auf eine politische Meinung und politisches Engagement. Das sollte ebenso für Muslime gelten. Politische Muslime sind nicht per se Anhänger eines politischen Islams. Und nicht alle Spielarten des politischen Islams sind staatsgefährdend bzw. rufen zu Gewalt auf.

Wie wird sichergestellt, dass von Seiten dieser Dokustelle kein Missbrauch stattfindet und nicht pauschal Menschen oder Gruppen kriminalisiert werden? Solche Fragen muss man in diesem Zusammenhang stellen. Aber letztlich können wir dokumentieren so viel wir wollen. Das eigentliche Problem – warum manche Muslime in Österreich überhaupt mit derartigen Bewegungen sympathisieren, warum ihnen das politische Angebot in Österreich nicht reicht – wird damit nicht gelöst.

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