Was die Zivilgesellschaft wirklich über Türkis-Grün denkt

Nur linke, weiße, Hetero-Männer kritisieren das türkis-grüne Regierungsprogramm, sagt der grüne Abgeordnete Michel Reimon. Die Betroffenen aus der Zivilgesellschaft, etwa aus der Asylhilfe oder MigrantInnenvereinen, seien dagegen zufrieden. Stimmt das? Rainer Hackauf mit einem Überblick über Stellungnahmen aus der Zivilgesellschaft, von Sozial- über Frauen- bis Netzpolitik.

Kulturpolitik: Vieles bleibt vage und deutungsoffen

Der Kulturrat Österreich, Dachorganisation von Interessenvertretungen aus dem Kulturbereich, beurteilt das türkis-grüne Regierungsprogramm vorsichtig optimistisch.

„Einige dieser Schlagworte haben es zum ersten Mal in ein Regierungsprogramm geschafft. Vieles trägt zwar den Charakter einer Ankündigung, bleibt vage und deutungsoffen.“ (Zur ganzen Stellungnahme)

Konkret finden sich im Regierungsprogramm Absichtserklärungen zu einigen langjährigen Forderungen aus dem Kulturbereich, wie etwa fairer Entlohnung von Kulturarbeit, Valorisierung von Förderbudgets, Verbesserungen bei der sozialen Absicherung von Künstler_innen oder der Einführung eines Urheber_innenvertragsrechts als Ausgleich gegen die Interessen der mächtigen Verleger_innen.

Wirtschaftspolitik: Steuersenkungen für Konzerne und Besserverdienende

Die kapitalismuskritische NGO Attac hat vor allem das türkis-grüne Wirtschaftsprogramm einer näheren Analyse unterzogen. Die Bilanz ist „überwiegend kritisch“. Die Steuer- und Budgetpolitik im Regierungsprogramm kommt den reichsten zehn Prozent zu gute. Handelspolitisch wird weiter an den Interessen der Exportwirtschaft festgehalten und im Sinne der Bankenlobby die Deregulierung der Finanzmärkte vorangetrieben.

„Das Regierungsprogramm sieht Steuersenkungen vor, die vor allem Konzernen und Besserverdienenden zugutekommen. Jene, die am meisten haben, tragen weiterhin zu wenig bei – auch weil große Vermögen und Erbschaften gar nicht und Kapitaleinkommen weniger als bisher besteuert werden.“ (Zur ganzen Stellungnahme)

Die Klimapolitik sieht Attac positiv, ihre Finanzierung bleibt jedoch vage. In punkto arbeitsrechtlicher Standards und Geschlechtergerechtigkeit sieht man bei Attac einen Stillstand oder sogar Rückschritte. Von den Steuergeschenken profitieren in erster Linie Männer. Mit dem im Regierungsprogramm festgelegten „Pflege-Daheim-Bonus“ „wird vor allem Frauen der Platz in dieser schweren, unbezahlten Arbeit zugewiesen.“

Klimapolitik: Österreich auf dem Weg in die Klima-Apartheid?

Ganz anders beurteilt System Change not Climate Change die klimapolitischen Maßnahmen. Um das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten, sind die angekündigten klimapolitischen Maßnahmen aus Sicht von SCNCC unzureichend. Außerdem würde die Klimapolitik eine rechte Handschrift tragen.

„Vor Folgen der Erderhitzung zur Flucht gezwungene Menschen sollen an den Außengrenzen der reichen Länder des Nordens aufgehalten werden. Diese tun ihrerseits das Allernötigste, um die schlimmsten Folgen der ökologischen Zerstörung für ihre Bevölkerung zu verhindern. Doch Klimagerechtigkeit kann es nur auf globaler Ebene und mit grenzüberschreitender Solidarität geben.“ (Zur ganzen Stellungnahme)

Arbeitsmarkt: Schwarz-blaue Politik mit grünen Optimierungen

Scharfe Kritik am türkis-grünen Regierungsprogramm kommt von den Aktiven Arbeitslosen. Erwerbsarbeitslose und Arme bleiben wie auch unter der großen Koalition oder Türkis-Blau rechtlose Objekte der Befürsorgung und Disziplinierung, so das Resümee. Konkret kritisiert die NGO die angekündigte „Optimierung“ des AMS-Algorithmus, die weiterhin ausbleibende Wertsicherung von AMS-Bezügen und die Ankündigung, das Pensionsantrittsalter erhöhen zu wollen.

„Eine sehr schwere Enttäuschung ist die Fortschreibung schwarzblauer Politik die bloß um einige längst überfällige umweltpolitische Initiativen und kleineren Systemoptimierungen ergänzt wird. Dass die ÖVP den Bereich Arbeit scheinbar in letzter Minute vom Sozialministerium zum Familienministerium verschoben hat und damit die Arbeitslosenversicherung einer Unternehmensberaterin als ÖVP-Ministerin untergeordnet wird, lässt wenig Gutes erwarten.“ (Zur ganzen Stellungnahme)

Auffallend sei, so die Aktiven Arbeitslosen, dass bei den im Regierungsprogramm vorhandenen positiven Maßnahmen, etwa beim 1-2-3 Klimaticket, „nicht nur der Zeitplan fehlt, sondern vor allem auch die Finanzierung“.

Netzpolitik: Keine verfassungskonforme Lösung denkbar

Eine „netzpolitische Analyse des türkis-grünen Regierungsprogramms“ legt die NGO epicenter.works vor. Im Programm sieht man neue Anläufe bei den verfassungsrechtlich bedenklichen Themen Vorratsdatenspeicherung und Bundestrojaner, mit denen schon Vorgängerregierungen gescheitert sind. Die Einführung der türkis-grünen „Sicherungshaft“ wird unmissverständlich abgelehnt: „Unserer Meinung nach gibt es keine verfassungskonforme Lösung für dieses politische Projekt.“ Die geplante Novellierung des Urhebervertragsrechts verursacht „Bauchschmerzen“.

„Ein Urhebervertragsrecht soll es Künstler*innen ermöglichen von ihren Verlagen und Verwertern gerechter für ihre Leistungen entlohnt zu werde. Gänzlich unklar ist was mit dem Verweis auf eine „angemessene Vergütung der Urheberinnen und Urheber mithilfe einer Pauschalabgabe“ gemeint ist, dies könnte eine Neuauflage der Festplattenabgabe sein. Generell wären Pauschalabgaben zu begrüßen, wenn die Nutzer*innen damit auch neue Rechte oder legale Nutzungsform bekämen.“ (Zur ganzen Stellungnahme)

Vorsichtig positiv hingegen sieht man bei epicenter.works hingegen die Einrichtung einer neuen Beschwerdestelle, die sich um Misshandlungsvorwürfe gegen Polizist*innen kümmern soll. Auch dem angekündigten „Informationsfreiheitsgesetz“ sowie der Einrichtung einer neuen Behörde zur Steigerung der Informationssicherheit steht man grundsätzlich positiv gegenüber.

Frauenpolitik: Nicht integrieren, sondern gleichstellen

Auch der Österreichische Frauenring spart nicht mit Kritik.

„Hier wurde von Türkis-Grün ganz klar die Chance verpasst, der Frauenpolitik den Stellenwert einzuräumen, den sie verdient hat. Ebenso wenig ist nachvollziehbar, warum die Frauenagenden im Integrationsministerium untergebracht werden. Gleichberechtigung, der Kampf für ökonomische Unabhängigkeit und gegen patriarchale Gewalt betrifft alle in Österreich lebenden Frauen.“ (Zur ganzen Stellungnahme)

Beim Thema Gewaltschutz erkennt der Frauenring zumindest positive Ansätze. Die angekündigte Aufstockung von Frauenbudgets hingegen bleibt vage und ohne konkrete Zahlen.

Menschenrechte: Durchatmen nicht angebracht

Aus menschenrechtlicher Sicht hat SOS Mitmensch das Regierungsprogramm analysiert. Grundlegend kritisiert die Organisation darin das Weiterbestehen der türkis-blauen Sozialkürzungen. Aufrecht bleiben auch die „menschenfeindlichen und zutiefst unvernünftigen Ausbildungs- und Arbeitsverbote für Asylsuchende“, die noch auf die Große Koalition zurückgehen. Scharf kritisiert SOS Mitmensch, dass statt einer geordneten Flüchtlingsaufnahme unter Türkis-Grün die Abschiebung in Kriegsgebiete ihre Fortsetzung findet.

„Österreich wird im Regierungsprogramm als „christlich geprägtes Land, mit einem reichen kulturellen und religiösen Erbe“ beschrieben. Konkrete andere Religionen bzw. Religionsgemeinschaften werden nicht als mitprägend erwähnt, ebenso wenig ist davon die Rede, dass Österreich ein weltlich oder säkular geprägtes Land sei. Die Worte „weltlich“ oder „säkular“ kommen kein einziges Mal im Regierungsprogramm vor. Es finden sich darüber hinaus keinerlei wertschätzende Worte zu religiösen Minderheiten im Regierungspakt.“ (Zur ganzen Stellungnahme)

Dieser doch sehr grundsätzlichen Kritik stellt SOS Mitmenschen positive Ansätze in vielen kleineren Maßnahmen gegenüber. Diese sieht man etwa im Bildungsbereich, in der Fortsetzung der externen Sexualpädagogik in Schulen, im Dolmetsch-Bereich und in geplanten Verbesserungen im DaF/DaZ-Bereich. Überdies befürwortet SOS Mitmensch, dass der Verfassungsschutzbericht die rechtsextremen Burschenschaften wieder beinhalten soll.

Wohnungspolitik: Gegen Mietkauf-Ausweitung

Eher durchwachsen sieht man das türkis-grüne Regierungsprogramm bei der Mietervereinigung Österreich. Die weitere Privatisierung von Wohnraum durch die Ausweitung von Mietkauf-Modellen kritisiert sie eindeutig.

„Damit wird dem Mietwohnungsmarkt Wohnraum entzogen. Wie Beispiele aus anderen Ländern zeigen, ist ein hoher Anteil an Eigentumswohnungen nicht gleichbedeutend mit leistbarem Wohnen. Einziger Garant für leistbares Wohnen ist ein starker Mieterschutz und ein ausreichendes Angebot an leistbaren Mietwohnungen.“ (Zur ganzen Stellungnahme)

Als positiv bewertet die Vereinigung hingegen die geplante Abschaffung der Maklerprovisionen für Mieter_innen. Auch die angestrebte Mobilisierung von Leerstand, wie auch die Initiativen zur Ökologisierung im Wohnbau werden begrüßt.

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