In der Türkei stimmen die Wähler_innen am Sonntag möglicherweise für eine deutliche Einschränkung ihrer demokratischen Rechte. Ilker Ataç erklärt Erdoğans Strategie für ein „Ja“ zum Referendum und die Schwäche der „Nein“-Allianz gegen die Verfassungsänderung.
Am Sonntag wird in der Türkei über eine Verfassungsänderung abgestimmt, mit der ein Präsidialsystem eingeführt werden soll. Dieses räumt dem Präsidenten umfassende Rechte und Macht in der Exekutive ein, ohne dass er vom Parlament kontrolliert wird. Der Präsident könnte ohne Mitsprache des Parlaments Minister ernennen und neue Ministerien schaffen. Er könnte Dekrete und Verordnungen mit Gesetzeskraft verabschieden, ohne zweites Kontrollorgan. Außerdem könnte er das Parlament jederzeit ohne einen wichtigen Grund auflösen.
1. In der Türkei herrscht ein Klima der Angst.
Initiator des Referendums ist die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung). Im Rahmen des Ausnahmezustands nutzt sie alle Ressourcen des Staates für die Verwirklichung ihrer politischen Ziele. Die Informations- und Meinungsfreiheit gibt es nur bedingt. Oppositionelle Medien arbeiten unter sehr schwierigen Bedingungen. Nach dem Militärputsch im letzten Sommer wurden über hundert Nachrichtenagenturen, Fernsehstationen und Zeitungen verboten. Es wurden mehr als hunderttausend Beamt_innen entlassen und mehr als hunderttausend festgenommen. Die Massenverhaftungen der letzten Monate haben ein Klima der Angst geschaffen, das das Referendum wesentlich beeinflusst. Wer – selbst innerhalb der AKP – eine kritische Stimme erhebt, läuft Gefahr, als Sympathisant_in der Gülen-Bewegung identifiziert zu werden. Die türkische Gesellschaft ist gespalten wie nie zuvor.
2. Für das Ja wirbt ein ungewöhnliches, nationalistisch-islamistisches Bündnis.
Die Verfassungsänderung wird auch von der rechtsextremen MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) unterstützt. Dass die MHP und die AKP auf der gleichen Seite für „Ja“ kämpfen, wäre noch vor acht Monaten undenkbar gewesen. Nach dem gescheiterten Militärputsch am 15. Juli 2016 war die AKP auf der Suche nach einem Bündnispartner. Ihre ohnehin fragile Allianz mit der Gülen-Bewegung war endgültig gescheitert. Grundlage dieses neuen Bündnisses zwischen AKP und MHP ist eine nationalistische und anti-kurdische Politik. Das zeigt sich unter anderem im militärischen Einsatz der türkischen Regierung in Syrien, der darauf abzielt, einen „kurdischen Korridor“ in Rojava zu verhindern. Der Aufbau dieser neuen Allianz zielt darauf ab, den Sicherheitsapparat des Staates nach dem gescheiterten Putsch umzubauen. Der Effekt ist im Alltag bereits sichtbar: Sicherheitsbehörden treten stärker auf, Polizei- und Zivilfahrzeuge mit blau-roten Lichtern sind überall präsent.
Durch die Allianz konnten Erdoğan und die AKP auch die eigene soziale Basis erweitern. Die nationalistischen Kräfte waren in den letzten 14 Jahren gegenüber der AKP verhalten. Auch weil die AKP ideologisch explizit islamische und neoliberale Elemente hervorhob und sich gegen den staatstragenden Kemalismus und dessen nationalistische Elemente stellte. Nun aber fährt auch die AKP einen stark nationalistischen Diskurs. Nationalism sells – und zwar sowohl im konservativen als auch im kemalistischen Lager und in Teilen der sozialistischen Gruppen. In dieser selbstgefälligen Opfer-Rolle sind es die europäischen und amerikanischen Mächte, die aufgrund von kulturellen Differenzen und geostrategischen Interessen immer schon gegen die Türkei gewesen sind. Mit der Betonung kultureller Differenzen verfestigt ein derartiger Diskurs den Kern des islamistischen Projekts – die Etablierung eines islamisch geprägten „wir“: Nationalismus und Islamismus geben sich die Hand und taugen für populistische Mobilisierung.
3. Die Gründe für ein Ja lauten Putschversuch, Erdoğan und Wohlfahrtspolitik.
Der gescheiterte Putschversuch verstärkte die Mobilisierung der AKP. Davor lag die Unterstützung für ein Präsidialsystem bei 35 Prozent. Erdoğans Popularität ist seitdem stark gestiegen. Laut Umfragen kennen 80 Prozent der AKP-Wähler_innen den Inhalt des Referendums nicht gut; viele werden nur wegen Erdoğan der Verfassungsänderung zustimmen. Der Einfluss der charismatischen Persönlichkeit von Erdoğan ist nicht zu unterschätzen.
Darüber hinaus nutzt auch Erdoğans wohlfahrtsstaatliche Politik seiner Beliebtheit und somit der Mobilisierung für das Referendum. Das häufigste Argument für die Zustimmung zum Referendum unter den ärmeren Bevölkerungsschichten ist der verbesserte Zugang zu sozialen Wohlfahrtssystemen, etwa zum Gesundheitssystem. Seit einer Woche läuft deshalb im Radio eine neue Kampagne über die Ausweitung der Krankenversicherung auf alle Personen, insbesondere für jene mit geringem Einkommen.
4. Die Nein-Allianz ist schwach, weil gespalten.
Und wer tritt für ein „Nein“ (Hayır) beim Referendum an? Explizit auf der „Nein“-Seite stehen einerseits Teile der MHP. Ihr Widerstand richtet sich nicht gegen den autoritären Umbau des Staates und auch nicht gegen die Kriminalisierung der prokurdischen Linkspartei HDP. Die Nein-Fraktion innerhalb der MHP ist allerdings dagegen, dass Erdoğan den Posten des übermächtigen Präsidenten übernimmt. Die kemalistische CHP (die Republikanische Volkspartei) ist zahlenmäßig die stärkste Kraft gegen die Verfassungsänderung. Sie grenzt sich aber nicht entschieden von dem nationalistischen Diskurs der AKP ab. Der Vorsitzende der CHP stellt sich zum Beispiel nicht offen gegen die Einführung der Todesstrafe. Und auch jegliche Kritik an der türkischen Syrienpolitik oder am Scheitern der Friedensverhandlungen mit den Kurd_innen sucht man vergebens.
Dazu hat die CHP mitentschieden, dass die Immunität der HDP-Abgeordneten aufgehoben wurde. Sie trägt also eine Verantwortung dafür, dass diese nun im Gefängnis sitzen. Das schwächt die „Nein“-Kampagne enorm, weil die HDP ebenso stark für ein „Nein“ auftritt. Deren Co-Vorsitzende und mehrere Bürgermeister_innen sind aber im Gefängnis. Zahlreiche kurdische Aktivist_innen und Politiker_innen wurden in den letzten Wochen festgenommen. Überfälle auf HDP-Mitglieder, die öffentlich für ein „Nein“ auftreten, sind keine Seltenheit. Auch kleine sozialistische Gruppen sind nach den Gezi-Protesten wieder auf der Straße, ihre Bedeutung ist aber gering.
5. Ein Nein würde kurzfristig wenig ändern – ein Ja auch nicht.
Wenn das „Ja“-Lager gewinnt, wird die jetzige politische Situation konsolidiert und eine Türkei der Demokratie und Freiheit wird in die ferne Zukunft rücken. Setzt sich das „Nein“ durch, wird Erdoğan das Präsidialsystem de facto mit dem Ausnahmezustand weiterführen; die AKP sitzt fest im Sattel. Auch ein „Nein“ würde also die repressive und nationalistische Politik in der Türkei vorerst fortschreiben. Doch zugleich würden sich wieder mehr Gruppen und Personen auf die Straße wagen. Der Frauenmarsch am 8. März mit 40.000 Teilnehmerinnen war ein Highlight. Ähnlich wie bei den Gezi-Protesten 2013 und der Wahl im Juni 2015, bei der die HDP 13 Prozent der Stimmen erhielt, würde ein “Nein” die Hoffnung stärken, dass erfolgreiche Mobilisierung möglich ist und die Macht Erdoğans aufzuhalten wäre.
Ilker Ataç arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien zu Migrationspolitik und Citizenship, sozialen Bewegungen und türkischer Politik.