Live vom Wahlkampf in der Türkei und Kurdistan

Übergabe Wahlunterlagen

Drei Wiener:innen haben sich auf den Weg nach Nordkurdistan/Osttürkei gemacht, um die Yeşil Sol Parti (Grüne Linke Partei/YSP)  zu unterstützen. Bei mosaik erklären sie, warum, und berichten, was im Land gerade los ist.

Stimmen aus Wan: Mut in der Niederlage, 30. Mai 2023

Die türkische Stichwahl ist geschlagen, Recep Tayyip Erdoğan bleibt Präsident. Drei Wochen nach ihrem Aufenthalt in Wan telefonieren Anna, Camille und Hagop mit ihren Bekannten in der Osttürkei/Nordkurdistan. Wie ist die Stimmung jetzt vor Ort?  

Lachen, Rufe, winkende Hände – wir schauen uns verdutzt an, dann wieder aufs Handy: Doch! Sie lachen. Die ganze Familie sitzt um den Tisch, bekannte Gesichter drängen sich vor die Kamera. Von hinten ruft Hayri noch einmal: „Gut geht’s uns!“ Die anderen lachen, trinken Tee, reichen das Handy umher, fragen wie es uns geht. Auf unsere ungläubig staunenden Blicke hin antwortet Hayri schließlich: „Wir feiern unsere Niederlage.“

„Was sollen wir auch tun?“, sagt der mittlere Sohn der Familie, die wir vor rund drei Wochen bei unserem Besuch in Muradiye kennengelernt hatten. „Ihr wisst, in unseren Gebieten haben wir gewonnen. Wir haben alles gegeben diese letzten Wochen. Die Unsrigen haben alle Kılıçdaroğlu gewählt. Was können wir noch tun?!“

Doch die Bitterkeit ist in den Stimmen der Familie in diesem Moment genauso präsent wie die sonst so vertraute, ausgelassene Fröhlichkeit. Keine drei Stunden sind vergangen, seit der Ausgang der Wahlen klar ist: Erdoğan kann seine Klientelpolitik weitere fünf Jahre fortführen. Wie im ersten Wahlgang hat in den mehrheitlich kurdischen Gebieten so wie in den Metropolen des Landes der Oppositionskandidat Kılıçdaroğlu die Wahl klar für sich entschieden. Wieder gab es zahlreiche dokumentierte Wahlbetrugsfälle, wieder gewaltvolle Ausschreitungen in Wahllokalen. In Sirnak in Südostanatolien hielt die Polizei Personen direkt vom Wahlgang ab. Wieder wurden Wasserwerfer eingesetzt, als Jugendliche gegen diese Umstände protestierten.

Trotz der Gewalt und der ungleichen Bedingungen, die Erdoğan aufgrund seiner Kontrolle über Medien und Staatskasse hat, konnte er sich auch in der zweiten Runde nur einen knappen Vorsprung von gerade einmal vier Prozentpunkten sichern. „Wir wissen, dass unsere Politik Rückhalt in den Herzen und Köpfen der Gesellschaft hier hat“, erklärt Hayri die Stimmung in der Familie weiter. „Aber wir haben uns nicht auf den Wahlsieg verlassen. Vor einigen Jahren konnten wir noch nicht einmal wählen gehen, ohne dafür gefoltert zu werden. Aber wir werden weiter machen.“

Dem Tod ins Auge

„Ja, es gibt keinen anderen Ausweg als gemeinsam weiter zu machen. Aber es wird furchtbar“, unterbricht Viyan, die zweitälteste Schwester. „Die Leute, die jetzt an der Macht sind, wollen uns verhaftet sehen, oder gleich tot. Sie wollen Mädchen zwangsverheiraten.“ Sie spricht von der nun im Parlament vertretenen, kurdisch-islamistischen Hüda Par. „Wir werden noch viel durchmachen, bevor Veränderung eintritt. Nicht dass wir davor Angst haben. Wir sehen dem Tod ohnehin bereits ins Auge“. Noch während der Siegesfeiern der AKP- und MHP-Anhänger*innen kommt es in der Schwarzmeerregion zu einem Mord an einem Oppositionellen. In Syrien wird ein vierjähriges Kind von den Salven Erdoğans Sieg feiernder Milizen tödlich getroffen. In Alanya wird das Haus einer kurdischen Familie durch AKP-Anhänger*innen belagert und beschossen.

Als Erdoğan auf seiner Siegesrede vom Präsidentschaftspalast aus ankündigt, die Haft des ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş, zu verlängern, fordert die aufgeheizte Menge seine Exekution. Demirtaş selbst teilt seinen Mitstreiter*innen indes mit: „Trotz der Herausforderungen und der (Wahl-)manipulation lassen wir uns nicht besiegen. Und weil wir uns nicht unterkriegen lassen, gibt es keinen Grund, die Hoffnung zu verlieren. Wir werden uns nie ergeben. Der Kampf geht weiter.“

Aufbruch im Dunkeln

„Klar geben wir nicht auf“, hält auch Leyla, die ehemalige Bürgermeisterin von Muradiye, einen Tag später am Telefon fest. „Da wo für Andere die Hoffnung aufhört, fängt der Widerstand des kurdischen Volkes erst an!“ Aber ihre Stimme ist gebrochen: „Es wird so schwer werden für die Frauen.“ Die Türkei werde nun endgültig als ein fundamentalistisch-islamistisches Regime geführt werden, gekoppelt mit einem scharfen Nationalismus, offensivem Militarismus und der sich vertiefenden, ökonomischen Krise. Am stärksten würden Frauen die Auswirkungen davon zu spüren bekommen. Vor allem Frauen, die sich frei bewegen und politisch organisieren, würden den religiösen Kräften zur Zielscheibe werden, sagt Leyla.

Leyla ist für zwei Tage nach Wan gekommen. Sie wird ihre Arbeiten in Muradiye aber nach der parteiinternen Reflexion, die dieser Tage vorgenommen wird, wieder aufnehmen. „Ja, unsere Möglichkeiten werden weiter eingeschränkt werden“, sagt sie auf die Frage, wie es weiter gehen wird. „Umso wichtiger ist es, jetzt den Kontakt zur Bevölkerung zu stärken, kritische Auswertungen vorzunehmen und wieder ins Handeln zu kommen.“ Das Frauen- und Gästehaus Ayse San wird auch in den kommenden Monaten nicht wieder öffnen. Orte, um zusammenzukommen, sich zu bilden und zu organisieren, werden weiterhin noch stärker als zuvor ins Private oder in die Klandestinität gedrängt werden. Doch es ist in der Dunkelheit, wo Pflanzen ihre Wurzeln schlagen, sagt sie. „Wir müssen diese Zeit den Umständen entsprechend nutzen. Dann sind wieder Gemeindewahlen, da werden wir uns die Bürgermeisterämter wieder zurückholen“, sagt Leyla. Dabei macht sie aber auch deutlich, dass es nicht vorrangig um diese Ämter geht: „Wir kämpfen hier für eine gesellschaftliche Organisierung, die den Krisen der kapitalistischen Staaten genauso wie fundamentalistischen Regimen Lösungen entgegensetzt“.

Bleiben oder gehen

Viele junge Menschen – vor allem aus den Metropolen – haben bereits lange vor den Wahlen angekündigt, die Türkei verlassen zu wollen. Leyla will bleiben. Gleichzeitig beginnt sie, Deutsch zu lernen. Wie so viele hat auch sie laufende Gerichtsverfahren, die jederzeit in eine Haftstrafe resultieren können. „Ich will nicht in den Westen, ich will das hier nicht aufgeben. Aber wir müssen schauen, wie wir überleben.“ Für dieses Überleben sei internationale Solidarität wichtiger denn je – gerade unter Frauen: „Keine Frau kann stumm zusehen, wie die Präsidenten ihres Landes vor Erdoğan niederknien. Keine Frau kann zulassen, dass andere Frauen in billigen Flüchtlingsdeals ausverkauft werden, oder das auf ihrem Rücken die Ausbeutung für die Reichtümer weniger ausgetragen werden.“

Unser Telefonat mit Leyla neigt sich dem Ende zu. Sie sieht uns noch einmal eindringlich an: „Wir können es uns als Menschheit nicht leisten, bereits beschrittene Wege einer alternativen Politik verwildern zu lassen. Lasst sie uns gemeinsam am Leben halten“. Die Telefonverbindung nach Wan bricht ab. Doch wir wissen, dass wir sie jederzeit wieder aufnehmen können.

Bericht von einer langen Wahlnacht und dem Tag danach, 14./15. Mai 2023

Der Morgen nach der Wahlnacht ist ernüchternd und still. Die Wolken und der Sturm des Vorabends haben sich verzogen, die Luft ist kalt. Die Stimmung in der Stadt ist spürbar missmutig. In den menschenleeren Gassen öffnen einige alte Männer widerwillig ihre Geschäfte. Vor einzelnen Läden wird gefegt. Die meisten davon sind noch geschlossen. An den Gesichtern der wenigen Menschen, denen wir heute Morgen begegnen, sehen wir, dass es sie anstrengt, in den Tag zu starten. Viele haben in dieser Nacht kein Auge zugetan. Unsere Genoss*innen von der Yeşil Sol Parti sind erst in der Morgendämmerung nach Hause gegangen.

Noch am Vortag sind wir unter Leuten, die keinen Zweifel an einem positiven Ausgang der Wahl haben. „54 Prozent! 70 Prozent! 65 Prozent!“, rufen die freiwilligen Wahlhelfer*innen die Ergebnisse ihrer Stadtteile durch Räume voller Computer, Teegläser und eifrig tippender Hände. Die schier endlose Energie der Parteigenoss*innen und die vielen freudigen Gesichter beim Auszählen der Stimmen in den YSP-Stadtteilbüros befeuern auch unsere Hoffnung. Auch die Stimmung an den Wahllokalen selbst ist von freudiger Zuversicht geprägt. Ferhat, ein 36-jähriger Gurbetci (Gastarbeiter im Landesinneren), sagt uns stolz, dass er aus dem Westen angereist sei, um sein Stimmrecht zu nutzen. Ferhat trägt noch die Arbeitskleidung vom Bau. Nur wenige nehmen eine solche Reise über mehrere Tage auf sich. Denn jeder Tag Arbeitsverlust heißt weniger Essen auf dem Tisch der Familie.

Der Wahlabend

Am Abend erwarten wir in der regionalen Zentrale der YSP mit Spannung die ersten Hochrechnungen der staatlichen Agenturen. Gebannt sieht der ältere Mann neben uns auf den Fernseher. Dann wendet er uns seinen Blick zu und öffnet lächelnd den Plastiksack auf seinem Schoß: Knaller und Feuerwerk für die Feier. Die ersten Ergebnisse fallen traditionell hoch zugunsten Erdoğans aus – 65 Prozent in der heutigen Wahlnacht. Doch das Szenarium ist bekannt (siehe letzter Eintrag) und so lassen sich die überwiegend jungen, aufgeregten Anwesenden davon vorerst nicht beirren. Genauso wenig wie von den schwerbewaffneten Polizist*innen und gepanzerten Polizeiautos, die vor den Türen der Parteizentrale stehen.

Einen Dämpfer erfährt die Stimmung dann jedoch als im Laufe des Abends immer mehr Ergebnisse und Details zu den Wahlen durchsickern. In der gesamten Region Van, die neben den den Genoss*innen traditionell zugewandten Grenzregionen Çaldıran, Özalp und Başkale auch die konservativeren Bezirke Bahçesaray und Gevas umfasst, konnte das YSP-Bündnis für Arbeit und Freiheit nur knapp 54 Prozent statt der erhofften 70 Prozent der Stimmen erzielen. Ungewöhnlich viele Parlamentsstimmen gingen an die CHP, die in der Region sonst kaum Rückhalt hat.

AKP auch stark in Erdbeben-Gebieten

Auch als die Auswertung der Bezirke Maraş, Gaziantep und Urfa über den TV-Screen läuft, brechen erregte Diskussionen im Raum aus. Die AKP ist überraschend stark, dafür dass es sich um Regionen handelt, in denen das Erdbeben vom 6. Februar aufgrund der fehlgeleiteten AKP-Politik immensen Schaden angerichtet und tausende Tote gefordert hat. Zudem sind die Bezirke traditionelle Hochburgen der Opposition.

Wut kommt auf, als uns die Nachricht erreicht, dass die AKP die Auszählungen in Ankara und Istanbul beeinsprucht und deren Wiederholung fordert. „Das hat Erdoğan bei den letzten Wahlen auch schon gemacht“, schimpft ein junger Mann. „Er versucht sich nur Zeit zu kaufen, um die Stimmen zu manipulieren“. Die Auswertung der Präsidentschaftswahl wird sich um Stunden verzögern, die Stimmung sinkt weiter ab.

Trotz der Gespräche mit Genoss*innen der YSP, die weiterhin einen Sieg Kılıçdaroğlus in Aussicht stellen, und der stetigen Annäherung der zwei Kandidat*innen in den offiziellen Prognosen, verlassen die Menschen langsam die Zentrale. Viele von ihnen mit einer unguten Vorahnung. Als um ein Uhr nachts weiterhin nur knapp 70 Prozent der Stimmen ausgezählt sind, machen auch wir uns auf den Weg. „Es ist noch gar nichts gewiss“, sagt eine der jungen Frauen, mit der wir uns die letzte Stunde über die Zukunft des Landes unterhalten haben. „Außer, dass wir unsere Zukunft nicht in die Hände dieses Schweins geben – nach wie vor den Wahlen!“ Es gab noch nie so eine lange Wahlnacht. Sie ist geprägt von Berichten über Ausschreitungen an Wahllokalen, Stimmfälschungen und Wahlbetrug. Vor dem Justitzpalast, wo die Stimmen ausgezählt werden, ist Militär stationiert.

„Erdoğan hat nicht gewonnen“

Der nächste Morgen. Nach nur wenigen Stunden Schlaf befinden wir uns bereits wieder auf den Straßen der Stadt. Sie füllen sich nur langsam. Aber sobald es soweit ist, kommen wir mit Menschen aus Wan ins Gespräch. Sie sind allesamt zornig, viele frustriert – doch sie sehen vor allem die harten Bedingungen, unter denen die Wahlen stattgefunden haben. Erdoğan kontrolliert den Großteil der Medien, er hat die Repressionsapparate hinter sich und schüchtert die Bevölkerung systematisch ein. „Erdoğan hat nicht gewonnen“, sagt ein junger Mann am Teetisch. „Wenn ein Mann, der das ganze Land in seiner Hand hat, es trotz Wahlmanipulation nicht auf 50 Prozent schafft, ist das auch eine Niederlage.“ Der Leiter der Wahlbeobachtungsmission des Europarats – Frank Schwabe (SPD) – stellt fast zeitgleich in Ankara fest, dass die Türkei die Prinzipien einer demokratischen Wahl nicht erfüllt.

Zeit für Tee
Ein Teetisch am Tag nach der Wahl

Erste politische Einschätzungen zu den Ergebnissen kursieren bereits. Die kurdischen Genoss*innen, mit denen wir sprechen, sehen eine Schwäche der türkischen Linken darin, die Basis zu organisieren. Kılıçdaroğlu und seine CHP hätten es nicht geschafft, an den Lebensrealitäten und Problemen der Menschen anzusetzen. Sie hätten verkannt, welche Rolle Religion – vor allem im ländlichen Raum der Türkei und Kurdistan – spiele, und sich dadurch für viele Menschen unwählbar gemacht. Die YSP habe – anders als die CHP – diese Lebensrealitäten aufgegriffen, sei darauf eingegangen und habe versucht, den Menschen politische Perspektiven und Lösungen anzubieten.

Doch auch diese Botschaften erreichen nicht alle. Auch wenn die Stichwahl noch zu schlagen ist, sehen viele Jugendliche schon jetzt keine Perspektive mehr für die Zeit nach den Wahlen. „Was soll ich tun?! Ich habe tausende Dollar an Schulden, in meinem Laden kauft niemand mehr ein, alles ist zu teuer geworden. Ich halt das nicht mehr aus,“ ruft ein junger Geschäftsbesitzer verzweifelt. Sein Freund erzählt uns, dass sie nach Europa wollen. Der Frust ist immens, den Menschen wurden fast alle Möglichkeiten der politischen Teilhabe genommen, sie haben vieles versucht. Die Menschen, die in den letzten Jahren für einen demokratischen Wandel gekämpft haben, sind im Gefängnis, diese Wahl nimmt ihnen gerade die letzte Hoffnung auf eine Zukunft in der Türkei.

Hoffnung als einzige Perspektive

Anders ist Ranas Perspektive. Wir treffen die Genossin im Büro der HDP in Wan. „Europa? Das ist keine Lösung,“ sagt sie bestimmt. „Unsere Probleme müssen vor Ort gelöst werden, sie lösen sich ja nicht von selbst. Es ist wesentlich, diese Niederlage psychologisch zu verdauen und wieder ins Arbeiten zu kommen. Die Fragen, die durch die Wahlergebnisse aufgeworfen werden, und die kritische Auswertung unserer Fehler versetzen unsere Leute grade in eine schlechte Stimmung. Jetzt aufzugeben wäre aber ein unwiderruflicher Fehler. Wir haben gerade jetzt viel Arbeit vor uns!“

Die Mehrheit der Menschen in der Osttürkei/Nordkurdistan ist die Unterdrückung gewohnt. Doch sie sind es auch gewohnt, den Kampf weiter zu führen, sich den Gegebenheiten anzupassen und neue Strategien zu entwickeln. Das ist etwas, was uns aus unserer Zeit hier am eindrucksvollsten in Erinnerung bleiben wird. In Momenten, in denen wir selbst mit Niedergeschlagenheit kämpfen mussten, wurde uns von Menschen in weitaus verzweifelterer Lage zugerufen: „Der Kampf geht weiter!“. Hoffnung ist für die Menschen hier keine Wahl, sondern die einzige Perspektive. Das eint sie und gibt ihnen Kraft für die kommenden Wochen. Und so kommen kurz nach der vermeintlichen Niederlage – und während wir unsere Rucksäcke für die Rückreise nach Wien packen – gerade über 100 Genoss*innen der YSP im Hof des Parteigebäudes zusammen, um den Wahlkampf bis zur Stichwahl am 28. Mai vorzubereiten. Zur Stichwahl werden wir wieder mit den Menschen aus Wan zusammenkommen, um von ihren Perspektiven zu berichten.

Tag nach der Wahl in der Türkei

Der Wahltag, 14. Mai 2023

Um kurz nach 17.30 Uhr hebt der Vorsitzende der Wahlkommission, Ahmet Yener, das Verbot zur Berichterstattung der Wahlergebnisse auf. Mit Spannung erwarten wir die ersten Teilergebnisse. Die ersten Veröffentlichungen lassen uns zusammenzucken. Neun Prozent der Stimmen sind ausgezählt und Erdoğan liegt bei rund 59 Prozent, Kılıçdaroğlu bei nur 35. Doch Freund*innen um uns herum beruhigen uns, die Zahlen sind noch wenig repräsentativ. Die großen Städte wie Istanbul, Ankara, Izmir oder auch Amed, wo Menschen tendenziell progressiver wählen als auf dem Land, sind darin noch nicht enthalten. Wir atmen durch. Alles ist offen.

In einer ersten Einschätzung zum Wahltag berichtet das kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit in Berlin – Civaka Azad – von einem relativ friedlichen Ablauf der Wahlen. Auffälligkeiten gab es dennoch. Berichte von Wahlmanipulationen in kleinerem Umfang machten die Runde. Wahlzettel sollen bereits gestempelt gewesen sein, als sie verteilt wurden. Insbesondere AKP und MHP verteilten trotz ‚Propagandaverbots‘ am Wahltag vor den Wahllokalen Geschenke und Werbematerial. Zusätzlich wurde von einer hohen Polizei und Militärpräsenz – vor allem in den kurdischen Provinzen – berichtet. Ein Eindruck, den wir auch für Wan bestätigen können. Zur Wahl gingen die Menschen trotzdem. Und zwar so viele wie noch nie zuvor. Verschiedene türkische Medien, sowohl regime- als auch oppositionsnahe berichten übereinstimmend von einer Wahlbeteiligung von über 90 Prozent. Was wir in den letzten Tagen bereits gespürt haben, scheint sich zu bestätigen: Die „Schicksalswahl“ lässt kaum jemanden in diesem Land unberührt.

Stimmung in den Wahllokalen

In den Wahllokalen, die wir tagsüber besuchen – zumeist Schulen – erzählen uns die Menschen, dass nur wenige ihrer Verwandten nicht wählen. Wenn, dann gibt es Gründe: Männer befinden sich aus ökonomischen Gründen und gesellschaftlich an den Rand gedrängt im Westen der Türkei, wo sie arbeiten, aber oft nicht gemeldet sind.

Unser Tag verläuft ruhig. Die Stille, die über der Stadt liegt, hat etwas Bedrohliches. Auch wenn uns die Polizei in jedem Wahllokal Probleme macht, weil wir keine offiziellen Wahlbeobachter*innen sind, hält sie sich fast schon auffällig zurück. Die Einschätzungen dazu sind unterschiedlich. Die optimistischen Stimmen sagen, dass auch die Polizist*innen genug von der AKP haben; die pessimistischeren sprechen von der Ruhe vor dem Sturm.

Die Auszählungen beginnen

Kurz nach 17.00 Uhr beobachten wir, wie die ersten Wahlurnen in den Justizpalast getragen werden. Die Auszählungen beginnen. Sie werden wohl mehrere Stunden dauern. Die Stimmung unter den Genoss*innen der YSP ist auffallend gut. Es lief sehr gut, ist die Einschätzung. Die Stimmung, die wir auf den Straßen wahrnehmen, ist eine andere. „Was passiert als nächstes?“, ist die Frage, die den Menschen ins Gesicht geschrieben steht und die sie auch äußern.

20 Uhr im YSP-Büro in Wan: Die Menschen sind müde von den anstrengenden letzten Wahlkampf-Tagen, viele haben kaum geschlafen. Die Stimmung ist angespannt, aber hoffnungsvoll. Denn zu diesem Zeitpunkt liegt Kemal Kılıçdaroğlu laut der Anka News Agency (ANKA) erstmal knapp vor Erdoğan. Bei einem Auszählungsgrad von ungefähr 40 Prozent liegen die beiden Kontrahenten bei jeweils knapp 47 Prozent. Es bleibt spannend. Bis es aussagekräftige Ergebnisse gibt kann es noch Stunden dauern. Möglich ist auch, dass es zu einer Patt-Situation kommt, weil weder Kılıçdaroğlu noch Erdoğan sich durchsetzen können. Denn für einen Sieg in der Präsidentschaftswahl braucht es über 50 Prozent. Wenn beide diese nicht erreichen, gibt es einen zweiten Wahlgang.

Wahllokal Türkei
Ein Wahllokal
Wahlurne Türkei
Die Wahlurnen sind mit einem Siegel gesichert

Wahlkampf-Abschlusskundgebung der YSP, 13. Mai 2023

Am Morgen des 13. Mai machen wir uns gegen den Wind und in guter Stimmung auf den Weg zur Hauptverkehrskreuzung Wans. Über Nacht wurden kreuz und quer über die Straßen Fahnen der Yeşil Sol Parti gehängt. Die Fahnen begleiten uns auch, als wir am ersten Wasserwerfer vorbeikommen. Dahinter ist der abgesperrte Platz, wo in einer Stunde die große Abschlusskundgebung des Wahlkampfs der YSP stattfinden soll. 100.000 Menschen werden erwartet. Schon jetzt streiten Frauen in größtenteils aufwändig selbstgenähten, bunten Gewändern mit der Polizei darum, auf den Platz gelassen zu werden.

Die Frauen sind letztlich erfolgreich und auch wir kommen durch die Polizeigitter. Die Schikanen sind die üblichen – Ausweiskontrolle und Befragung durch den Geheimdienst. Jugendliche erwarten uns bereits. Sie strömen vom anderen Eingang auf den Platz und halten lange Fahnenstangen bereit. Von der Bühne schallt kurdische Musik über den Platz, hier und da tanzen die Jüngeren den kurdischen Kreistanz Govend, Ältere suchen einen Ort, um noch kurz vor dem Start der Veranstaltung im Schatten verschnaufen zu können. Auf den umliegenden Dächern sitzen vereinzelt Leute und kauen Sonnenblumenkerne. Auf anderen sehen wir Soldaten und Spezialeinheiten der Polizei Stellung beziehen. Die Presse filmt von den Balkonen.

Der Platz füllt sich mit großer Geschwindigkeit. Viele der Kundgebungsteilnehmer*innen sind aus den außerhalb der Stadt liegenden Bezirken und Dörfern gekommen. Wir treffen auch die meisten der Familien wieder, die wir in den letzten Tagen besucht haben. Auch die Jugend der YSP ist unterwegs. Warum sie heute als Jugendgruppe hier sind, fragen wir, und nicht mit ihren Familien. Sie sagen, es sei wichtig, ein gemeinsames Bewusstsein der Jugend zu schaffen, sich dadurch gegenseitig zu stärken, politisch aktiv zu sein und sich für die Gesellschaft einzusetzen. Dann strecken sie Zeige- und Mittelfinger zum Victory-Zeichen in die Luft und werfen sich mit guter Laune und dem Ruf „Serkeftin an Serkeftin“ (Erfolg oder Erfolg) ins Getümmel.

Kundgebung hinter Gittern
Polizeigitter bei der Kundgebung in Wan

Neue Allianzen

Auch der Rest der Kundgebung stimmt erste Parolen an. Der Slogan „Bijî Berxwedana Zindana“ schallt zunächst am lautesten über die Köpfe der Menge. „Hoch lebe der Widerstand in den Gefängnissen“ – über 10.000 Mitglieder der Halkların Demokratik Partisi (Demokratische Partei der Völker/HDP), die mit der YSP eng verbunden ist (siehe Eintrag 9. Mai), sind aktuell aus politischen Gründen in Haft. Die Hoffnung, diese Genoss*innen bald wieder in Freiheit zu wissen, lebt: Die YSP hat darauf verzichtet eine*n eigene*n Kandidat*in in das Rennen um die Präsidentschaft zu schicken. Sie unterstützt stattdessen den Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei/CHP)-Kandidaten und größten Herausforderer Erdoğans Kemal Kılıçdaroğlu. Eine zentrale Bedingung dafür: Sollte Kılıçdaroğlus Allianz aus sozialdemokratischen und nationalistischen Kräften erfolgreich sein, muss der CHP-Politiker dafür sorgen, dass politische Gefangene der Bewegung entlassen werden. Ob dies dann tatsächlich passiert, ist, so wie der Ausgang der Wahl, noch ungewiss.

Als wir uns durch die jubelnden und fahnenschwenkenden Menschen zur Bühne schlängeln, treffen wir Ayşe Minaz, die ehemalige Bürgermeisterin von Yeşilköy, aus jenem Dorf, dass wir vor einigen Tagen besucht haben. „Wir haben in den letzten Monaten so viele Zeit, Kraft und Energie in die Wahlvorbereitungen gesteckt. Heute sind wir hier, um zu feiern, bevor wir unsere Aufgaben in den Wahllokalen aufnehmen“, begrüßt sie uns und empfiehlt: „Genießt es!“. Am Wahltag werden die Genoss*innen in den Wahllokalen den Wahlgang verfolgen, Stimmen auszählen und ihre Einschätzung laufend mit den Hochrechnungen des Yüksek Seçim Kurulu – dem Hohen Wahlausschuss/YSK – abgleichen. Dadurch stellen sie sicher, dass die Wahlen korrekt ablaufen. „Wir lassen uns diese Wahlen nicht aus den Händen nehmen“, ruft da auch gerade die Sprecherin von der Bühne. Und: „Jetzt liegt es an euch, mit eurer Stimme Geschichte zu schreiben!“

Ein Blick von der Bühne aus

Das Bad in der Menge gefällt uns. Oft wissen wir ob der ganzen Eindrücke nicht, wohin wir unsere Blicke richten sollen. Da fällt uns ein Freund auf, der uns zu sich winkt. Er will uns zeigen, wie sich die Kundgebung von der Bühne aus anfühlt. In einem unbeobachteten Moment zieht er uns über die Absperrgitter, die die Menge von der Bühne trennen. Auf der Bühne weht uns ein schier nicht enden wollendes Fahnenmeer entgegen. Wie viele tausend Leute anwesend sind, können wir nicht sagen, nur dass ein Ende der Menge nicht in Sicht ist. Die Menschen jubeln, pfeifen, klatschen. Empor gestreckte Zeige- und Mittelfinger sind genauso allgegenwärtig wie traditionelle Kleidung und kesk u zor u ser – gelb, rot und grün – die Farben Kurdistans. Im Gegensatz zu unseren Erfahrungen der letzten Tage zeigen sich die Menschen heute – der Repression zum Trotz – vor den Kameras inländischer und internationaler Nachrichtensender selbstbewusst und stolz.

Wer sich nach einer ruhigen Minute sehnt, wird sie bei dieser Kundgebung nicht finden. Es gibt ununterbrochen revolutionäre Musik, die nur durch Redebeiträge gestoppt wird. Sogar der seit sechs Jahren inhaftierte Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş, spricht. Seine im Gefängnis aufgenommene Audioaufnahme wird abgespielt: „Wir wollen auf diesen Straßen gleich, frei und würdevoll leben. Unser Ziel ist ein friedvolles Land, und wir sind diesem Ziel näher als je zuvor. Der Schlüssel dazu ist nun in euren Händen.“ Auch die aktuellen Parlamentskandidat*innen richten sich an die Menge. Mit „eine Stimme der Yeşil Sol, die andere Stimme gegen den Faschismus“ sagt sie, worum es ihnen morgen geht: Mit einer Stimme für Kılıçdaroğlu die Fortführung der AKP-Politik zu brechen, und mit den Kandidat*innen der YSP im Parlament die Grundlagen für einen demokratischen Wiederaufbau der Gesellschaft zu legen.

YSP-Anhängerin
Eindrücke von der Bühne
Frauen bei Kundgebung in Wan
Kundebung Wan

Ist die Wahl eine Chance?

Wir fühlen, was schon die letzten Tage immer deutlicher wurde: Diese Wahl ist eine historische Chance – nicht nur für die kurdische Gesellschaft, sondern für die ganze Türkei, die umliegenden Länder und somit auch den Mittleren Osten. Die Stimmung zeigt, wie bedeutsam Politik und die politische Lage für die Menschen hier sind und wie groß ihr Wille, eine Veränderung mit eigenen Händen herbeizuführen. Sie sind sich ihrer Macht bewusst, und das nicht nur auf der Bühne. Sie betrachten sich nicht als „Wahlvolk“, sondern als Gemeinschaft, die gemeinsam gesellschaftliche Veränderung sucht.

Zurück in der Menge treffen wir auf eine Gruppe junger Frauen, die ausgelassen jubeln. Ihr größter Wunsch für morgen ist, dass die Wahl in der ersten Runde entschieden wird. Bei aller Ausgelassenheit bleibt aber auch eine große Spannung in der Luft. Niemand weiß, wie Erdoğan reagieren wird, sollte er verlieren. Befürchtungen, die von Gewalt in der Gesellschaft bis zu einem Militärputsch reichen, sind vorhanden – die Einschätzungen zu ihrer Wahrscheinlichkeit sehr unterschiedlich. Erdoğan streut bewusst Gerüchte, um die Bevölkerung zu verunsichern und seine politischen Gegner*innen zu provozieren.

Das Ende der Kundgebung in Wan zeigt jedoch, dass ihm dies nicht gelingt. Provokationen von Seiten der Sicherheitskräfte, die unter anderem den Einsatz von Wasserwerfern und Pfefferspray einschließen, werden zwar nicht widerstandslos hingenommen. Doch wissen alle, dass Ausschreitungen dem herrschenden Regime so kurz vor der Wahl nur in die Hände spielen. Die Wut ist groß, wenn wie heute sechs Jugendliche mit blauen Flecken in Polizeigewahrsam genommen werden, weil sie für ihre demokratischen Rechte eingestanden sind. Doch die Menschen in Wan wissen, diese Wut zu kanalisieren. Aktuell stecken sie alle Kraft in den Wahlkampf und die Gemeinschaft, mit der Hoffnung und Überzeugung, Erdoğan auf diesem Weg zu stürzen.

Schatten von Flaggen
Im Schatten der Flaggen

Eindrücke aus Bêgirî/Pegri/Muradiye, 10. Mai 2023

„Die meisten kurdischen Kinder wachsen ohne ihre Väter auf“, sagt Leyla, als uns die Kinder Arjin, Viyan und Aryen vor dem Haus ihrer Eltern entgegenlaufen. Leyla ist die ehemalige Co-Bürgermeisterin von Bêgirî, einer Stadtgemeinde im Norden von Van. Vier Tage vor den Wahlen begleiten wir die junge Politikerin der YSP bei ihrer Tour durch die umliegenden Dörfer. Obwohl Leyla, wie unzählige andere kurdische Politiker*innen, durch die vom AKP-Regime aufgezwungene Zwangsverwaltung ihres Amtes enthoben wurde, grüßen die Menschen sie weiterhin liebevoll mit Başkanim, meine Bürgermeisterin.

Sucht jemand Bêgirî auf einer herkömmlichen Landkarte, wird sie*er nur Muradiye finden. Das ist der türkische Name der Gemeinde mit über 50.000 Einwohner*innen. Bêgirî ist kurdisch. Der armenischsprachige Teil der Bevölkerung nennt die Stadt Pegri. Leyla lädt uns in ihr Haus ein. Sie erklärt uns, dass es meistens die Frauen der Familie sind, die sich um die Kinder und Großeltern kümmern, den Haushalt schmeißen und ein wichtiges Netzwerk der politischen Organisierung und Wissensweitergabe darstellen. Das liegt hier nicht nur an konservativen Vorstellungen von Frauenrollen, sondern zum Großteil an den materiellen Bedingungen. Viele Väter, Brüder, Onkel und Cousins sind im Gefängnis oder in den Bergen. Das trifft auch auf Frauen zu. Zusätzlich sind die Männer oft dazu gezwungen, im Westen der Türkei oder im Ausland in äußerst prekären Jobs zu arbeiten. Fast jede Familie, mit der wir reden, hat einen Verwandten, der durch einen Arbeitsunfall verstorben ist.

Verbotene Sprachen im Schulalltag der Kinder

Während die Erwachsenen der Familie sich zu hausgemachtem Lokum (Turkish Delight) zu den Wahlvorbereitungen austauschen, erzählen uns die Kinder Arjin, Viyan und Aryen* aus ihrem Schulalltag. Sie berichten vom Geschichtsunterricht, der nichts über die Geschichte Kurdistans erzählt, und Atatürk, den Gründer der Republik Türkei und „Vater der Türken“, als Helden feiert. Unter den Menschen, mit denen wir hier sitzen und essen, ist Atatürk vor allem für die Massaker an Armenier*innen und Kurd*innen bekannt. Auch erzählen die Kinder uns, dass ihre Sprache verboten ist. Ihnen macht die Schule keinen Spaß. Sie sagen, die Lehrer*innen seien streng und sie lernten dort nichts, was ihnen nützt.

Der 14-jährige Serdat erzählt, dass er lieber im Yeşil Sol Parti-Café Çay/Tee ausschenkt. Er lerne dort mehr als in der Schule. Im Gegensatz zu vielen anderen Jugendlichen möchte er nicht nach Europa gehen, sondern in der Region bleiben. Trotz der wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit sieht er seine Zukunft im Bleiben, im Widerstand, im Kampf um eine befreite Gesellschaft – an dem Ort wo er und seine Familie schon seit hunderten von Jahren leben und unterdrückt werden.

Politdebatten in bunt gepolsterten Wohnzimmern

Diskussionen zur aktuellen politischen Lage führen wir hier am Dorf – genauso wie in der Stadt – vor allem in den mit bunten Kissen ausgepolsterten Wohnzimmern. Auch deshalb, weil die Räume, in denen noch vor einigen Jahren Perspektiven der gesellschaftlichen Organisierung rege diskutiert werden konnten, mit dem Ausnahmezustand und den Zwangsverwaltungen geschlossen wurden. Orte wie Frauenhäuser, Jugendräume, Kulturvereine und zahllose Nachbarschaftszentren.

So auch das Ayşe Şan-Frauenzentrum in der Gemeinde Muradiye. Auf den Fotos, die Leyla uns zeigt, hängen an den Wänden der Räume Wegbereiterinnen wie Rosa Luxemburg oder Susan Sontag. Lokale feministische Magazine liegen zum Durchschauen bereit. Im Zentrum kamen Frauen aus den Dörfern zusammen, um zu diskutieren, oder sie verbrachten gemeinsam ihre Zeit zwischen Amts- oder Krankenhausbesuchen.

Fotos des Frauenzentrums, bevor die Zwangsverwaltung es schließen ließ

Es waren solche Orte, an denen die Menschen ihre Situation und die Dringlichkeit der Veränderung diskutierten. Dort tauschten sich Frauen zu häuslicher Gewalt aus, fanden solidarische Antworten auf die Schikanen der Polizei, bildeten sich, teilten ihre Freude sowie ihren Schmerz. All diese Gemeinschaftlichkeit und Wissensweitergabe – die gemeinsame Bewusstseinswerdung – wurde in den letzten Jahren vor allem durch die Haushalte der Großfamilien erhalten. Auch deshalb nehmen im Wahlkampf Familienbesuche einen so hohen Stellwert ein. Die Genoss*innen der YSP wissen, welche Familien Verwandte im Gefängnis oder Gefallene haben. „Diese Leute haben bereits so viel gegeben. Wir stehen in ihrem Dienst“, sagen sie zu uns.

„Von Haus aus politisiert“

Bei den Besuchen in den Familien ergeben sich trotz aller gegenseitiger Anerkennung natürlich auch immer wieder Diskussionen – um Patriarchat, um Traditionen und um die Frage eines kurdischen Staates. Themen, zu denen die Freiheitsbewegung in Kurdistan in einem umfassenden Paradigmenwechsel vor ungefähr zehn Jahren kritische Analysen und entsprechende Vorschläge ausgearbeitet hat: Frauenbefreiung, Selbstwerdung und konföderale Selbstverwaltung statt Nationalstaat. Diskussionen um Methoden und Organisationsvorschläge werden auch immer wieder recht hitzig geführt. Dabei verlaufen die Linien interessanterweise nicht eindeutig entlang Alter, Geschlecht oder anderer spezifischer Merkmale.

Wir vermuten, dass es gerade diese alltäglichen Diskussionen zwischen Genoss*innen, Familienmitgliedern – und bis vor einigen Jahren auch noch Guerilla, die aus den Bergen in die Häuser kamen – sind, die die meisten Menschen hier sagen lassen, sie wurden „von Haus aus politisiert“. Es ist beeindruckend, den Stellenwert des Politischen in der Gesellschaft zu sehen. Wenn wir Menschen fragen, wie sie sich entschieden haben politisch aktiv zu werden, antworten sie meistens: „So bin ich halt aufgewachsen.“

Als wir uns von der Familie verabschieden und zurück in die Stadt fahren, zeigt unser Fahrer auf den Fuß des Berges am Stadtrand. „Dort sind ungefähr 20 Prozent des türkischen Heeres stationiert”, sagt er. Das AKP-Regime brauche Militärbesatzung und Zwangsverwaltung, um diese Stadt „unter Kontrolle zu halten“. Unter Erdoğan würde die Schikane und die Unterdrückung der Kurd*innen weitergehen – der OHAL (Ausnahmezustand), die Militärbesatzung, die psychologische und wirtschaftliche Kriegsführung in der Osttürkei/Nordkurdistan würden immer weiter ausgebaut werden. Die bevorstehende Wahl ist deshalb für die Gesellschaft hier eine Wahl zwischen der Fortsetzung dieser Unterdrückung und der Möglichkeit auf gesellschaftliche Befreiung und Selbstverwaltung. Leyla ist optimistisch: „Erdoğan wird auf jeden Fall verlieren“, lacht sie. Dann wird die junge Frau ernst: „Die Frage ist nur: Wie?‘“

*Die Namen der Kinder sind abgeändert

Wahlkampftanz
Wahlkampftanz
Wahlkampf im Auto
HDP-Gruß
YSP-Unterstützerinnen in Yesilköy

Was passiert gerade in der Türkei?, 9. Mai 2023

Es wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen: In der Türkei ringen gerade Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu und Staatschef Recep Tayip Erdoğan um den Wahlsieg bei den Präsidentschaftswahlen am Sonntag. Neben dem Präsidenten wird auch das Parlament neu gewählt. Vielen Menschen in der Türkei, in Kurdistan und darüber hinaus, sehen die Wahl als Schicksalswahl für die ganze Region. Denn sie hoffen, dass die Ära Erdoğan mit der Wahl endet.

Für die Wahlen haben sich die verschiedenen Parteien in drei großen konkurrierenden Bündnissen zusammengetan: In der bislang regierenden Volksallianz, die aus Erdoğans rechter AKP und der Grauen-Wölfe-Partei MHP besteht. Im Bündnis der Nation, das von Kılıçdaroğlus nationalistisch-sozialdemokratischer CHP angeführt wird und das verschiedene liberale, rechtssozialdemokratische und moderat islamistische Parteien umfasst. Und in der Arbeits- und Freiheitsallianz, die aus den beiden linken Parteien HDP und der TIP besteht. Letztere hat keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufgestellt. Sie unterstützt Kılıçdaroğlu, der für die meisten Linken in der Türkei und Kurdistan im Vergleich mit Erdoğan als geringeres Übel gilt.

Verbotsverfahren gegen HDP

Die HDP (Demokratische Partei der Völker) war bislang die Hoffnungsträgerin der Linken. In ihr vereinten sich vor einigen Jahren Leute aus der kurdischen Freiheitsbewegung, aus ökologischen, sozialistischen und feministischen Bewegungen und neben Kurd:innen auch viele linke Türk:innen. Erdoğan hat die HDP allerdings auf die Abschussliste gesetzt. Gegen die Partei läuft gerade ein Verbotsverfahren. Dieses dient dem Regime nicht zuletzt dazu, die Partei für die Wahlen handlungsunfähig zu machen. Denn was nutzt eine Partei, die nach den Wahlen aus dem Parlament verschwindet, weil sie verboten wird?

Im März einigte sich die HDP bei einem Parteitag deshalb darauf, ihre Kandidat:innen auf der Liste der links-grünen Yeşil Sol Parti (Grüne Linke Partei) antreten zu lassen, um trotz drohenden Verbots handlungsfähig zu bleiben. Das zeigt eine gewisse Resilienz und Flexibilität von linken und progressiven Kräften, erleichtert den Wahlkampf der Oppositionellen aber nicht gerade. Denn gerade in ländlichen Regionen ist die Yeşil Sol Parti vielen Menschen noch kein Begriff. Im Wahlkampf dreht sich gerade viel darum, das zu ändern.

Anna, Camille und Hagop sind aus Wien nach Nordkurdistan/Osttürkei gereist, um die Yeşil Sol Parti im Wahlkampf zu unterstützen. Sie werden an dieser Stelle über die aktuellen Geschehnisse berichten.

Wahlkampf in Türkisch-Kurdistan
Wahlkampf 2
Wahlkampf mit Flaggen der Yeşil Sol Parti in Yeşilköy

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