Erdogan: Kein Zuckerbrot mehr für das Volk

Protestbewegungen machen Erdogan und der AKP in der Türkei zu schaffen. Um ihre Autorisierung dennoch voranzutreiben, erschaffen sie eine Krise nach der anderen, schreibt Betania Bardeleben.

Auf internationalen Druck hin wurde im November letzten Jahres bekannt, dass die Zahl der Corona-Infizierten in der Türkei nicht, wie bisher verlautbart, bei zirka 2000, sondern tatsächlich bei etwa 30 000 Menschen pro Tag lag. Erst über ein Jahr nach Ausbruch von COVID-19 gibt es im Mai zum ersten Mal einen vollständigen Lockdown. Die Pandemie reiht sich gemeinsam mit neuen Wendungen in der Wirtschaftskrise, Minderheitenfragen und Oppositionsunterdrückung in eine Vielzahl türkischer Krisenherde ein – und das passt Erdogan gut ins Konzept. Denn die Krisenrhetorik ist schon seit Jahren Teil der politischen Strategie: Um Macht zu festigen, setzt er auf den permanenten Ausnahmezustand und treibt dabei stetig Autorisierung voran. Statt Zuckerbrot kommt die Peitsche zum Einsatz.

Das Jahr 2021 begann für Erdogan unruhig mit den Protesten der Bogazici Studierenden. Bereits 2013 wurden bei den Gezi-Park Protesten die Grundfeste des Staates erschüttert, als das Freiheitsbedürfnis der lang unterdrückten Bevölkerungsteile explosiv zum Ausdruck kam. Dazu kam die Internationalisierung der kurdischen Bewegung: Mit ihrem Durchbruch bei den Wahlen 2015 beendete die pro-kurdische HDP die „Alleinherrschaft“ der AKP. Seitdem befindet sich diese in einer Hegemoniekrise. Heute zeigen Umfragen, dass sie die nächsten Wahlen mittlerweile auch mit Druck und Betrug, Angst und Krisen nicht mehr sicher gewinnen kann. Um kein Risiko einzugehen, drängt sie nicht mehr wie zuvor auf weitere Referenden und veranstaltet keine Wahlen, die sie nicht komplett unter Kontrolle hat. 

Krisen über Krisen

Stattdessen kreiert sie eine Krise nach der anderen, während sie gleichzeitig versucht, ihre WählerInnenschaft zu befrieden. Im März stieg die Türkei aus der Istanbul Konvention aus. Vor allem konservative IslamistInnen hatten sich in den letzten Jahren immer kritischer dazu geäußert. Die Entscheidung über den Austritt aus der Konvention gegen Gewalt an Frauen wird vor allem mit dem Schutz der Familienwerte begründet. Die Türkei habe ein internationales Abkommen nicht nötig, soll vermittelt werden. Denn sie besitze eigene Werte, die es vor der Gefahr anderer Werte zu schützen gilt.

Kurz darauf der nächste Schlag mit der Entlassung des Zentralbankchefs und dem darauffolgenden Fall des Lira. Der Chef der Zentralbank hatte auf die Inflation mit der Erhöhung der Zinsen reagiert. Für Kleinunternehmen, traditionell AKP-AnhängerInnen,  führt ein guter Lira-Kurs aber zu teureren Krediten. Also hält Erdogan die Zinsen niedrig und nimmt dafür in Kauf, dass die Lebenshaltungskosten der restlichen Bevölkerung steigen.

Dazu kommt der Versuch, die Oppositionspartei HDP zu verbieten. Gemeinsam mit ihrem ultra-rechten Koalitionspartner hetzt die AKP nun intensiver gegen die kurdenfreundliche HDP, der sie vorwerfen, den türkischen Nationalstaat gemeinsam mit der PKK in Gefahr zu bringen. Bereits 2017 hat die Regierung angefangen, kurdische BürgermeisterInnen durch Zwangsverwalter zu ersetzen.

Corona-Strategie der AKP

Auch wie die Pandemie selbst geregelt wird, ist Teil der politischen Strategie. Erdogans AnhängerInnen loben ihn für seine ausbalancierten Corona-Maßnahmen und dafür, wie er in weiser Voraussicht in die Gesundheitsversorgung investiert habe. Tatsächlich sind die Krankenhäuser mit den horrenden Zahlen an Infizierten heillos überlastet. Der vollständige Lockdown bis Ende der Fastenzeit kommt mehr als zu spät. „Je mehr Krisenherde desto besser” lautet die Devise.

Gegen die popularen Protestdynamiken vorzugehen heißt, den Faschisierungsprozess voranzutreiben. Dabei untergräbt die Regierung  alle demokratischen Prinzipien: Sie baut sich ein Medienmonopol auf, kriminalisiert JournalistInnen und Oppositionelle und begeht offenen Betrug. Sie versucht nun nicht mehr die Gesellschaft zu besänftigen, sondern im Gegenteil, einen permanenten Ausnahmezustand aufrecht zu erhalten, indem sie selbst neue Krisen kreiert. Mit permanenter Angriffspolitik werden so der faschistische Kern konsolidiert und kritische Stimmen permanent zerstreut.

Kontinuität in Rhetorik und Struktur

Die Türkei ist in Gefahr ist das historisch wirkungsvolle Narrativ. Die Politik habe keine Wahl, weil die Integrität allzeit geschützt werden müsse. Historisch ist vom 1000-jährigen Kampf die Rede, eine Kontinuität seit Beginn des osmanischen Reiches bis heute, wie der 2018 in Ankara inhaftierte Journalist Max Zirngast betont. In dieser Rhetorik gibt es keinen Bruch in der politischen Linie, was gewissermaßen auch der Fall ist. Inhaltlich gab es Veränderungen, doch die strukturelle Essenz ist die Gleiche geblieben. Darin enthalten: Die Überbleibsel extremer Palastbürokratie und einer vollkommen anderen Rolle des Militärs in der Gesellschaft. 

In Europa ist das nicht ganz korrekte Bild von Erdogan als Alleinherrscher stark verbreitet. Tatsächlich aber treibt in der Türkei eine Regimekoalition ihr Unwesen. Lange war sich Erdogan der konstanten Unterstützung seiner WählerInnenschaft sicher. Nach dem Bruch mit der Gülen Bewegung fehlte es der AKP allerdings an der nötigen Anzahl an Kadern. Das Bündnis mit der rechten MHP besetzt Posten bei der Polizei, Justiz und dem Geheimdienst und stellt damit ein massives Beschäftigungsprogramm für deren Basis dar. Die dominante Politik und der Staat sind miteinander verwachsen. Abgesehen davon, dass es kaum freie Wahlen gibt, ist das ein großes Problem für die Opposition. Beim Versuch, den Staat unter Kontrolle zu halten, führt Erdogan die Tradition des despotischen Staates weiter.

Die Rolle der Opposition

Die einzig stimmenmäßig relevante parlamentarische Oppositionspartei CHP fährt die passive Schiene und ist seit Jahren einer der Hauptgründe für Erdogans Machtposition. Denn das Ziel der Opposition ist es, die neoliberale Ordnung wieder herstellen. Auf aufrichtige Bemühungen um Demokratie reagiert sie geradezu allergisch. In der CHP sitzen ebenfalls Ultra-NationalistInnen, sie ist keine klassisch sozialdemokratische Partei, die aus einer Arbeiterbewegung entstanden ist. Stattdessen wuchs sie als autoritäre Staatspartei bei der Gründung der türkischen Republik und trägt dementsprechend Militär-Bürokratie im Herzen. Aus Angst um den eigenen kleinen Machtposten, verbündet sie sich nicht mit den Protestbewegungen.

Mit dem klassischen Bild von „Links“ und „Rechts“ ist die türkische politische Gemengelage nicht nachzuvollziehen. Es gibt eine Linke, die sich im Staat positioniert und eine Linke, die auf die Gesellschaft setzt. Übrig bleiben also nur die popularen Dynamiken: die protestierenden Studierenden, die Frauen- die KurdInnen- und die ArbeiterInnenbewegung, die in der Türkei die „andere” Opposition darstellen und sich auch nach jahrelanger Unterdrückung nicht unterkriegen lassen. Es braucht diese Teile der Gesellschaft, die echtes Interesse daran haben, die Faschisierung zu stoppen. 

Denn zu viele Krisen bedeuten auch Widerstand. Die Corona-Arbeitskämpfe stellen gerade einen harten Schlag  dar. Bilder von streikenden Kassiererinnen mit Kopftuch zeigen, dass diese Proteste die Regierung dort treffen, wo es weh tut. Bei den massiven Aufständen im Bergbau, im Großhandel, bei den Zulieferern und den kommunal Beschäftigten handelt es sich nämlich, im Gegensatz zu den anderen Widerständigen, um die WählerInnenbasis der AKP. Zusammengenommen zeigen die Protestbewegungen die stete Kontinuität der Unruhe. Deren Existenz und Energie ist der Grund für die Bedrängnis der Regierung. Es bleibt zu hoffen, dass auch der Rest der Bevölkerung, dem das Zuckerbrot nun verwehrt bleibt, langsam merkt, dass dieselbe Hand die sie gefüttert hat, sie auch schlägt.

Autor

  • Betania Bardeleben

    Betania Bardeleben ist freie Journalistin mit Schwerpunkt soziale Ungleichheit, Bewegungen und MENA-Region. Master in Türkisch-Deutsch Sozialwissenschaften in Ankara und Berlin. Bachelorstudium der Kultur- und Sozialanthropologie in Wien und Utrecht.

 
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