Tourismus als Klassenkonflikt – Proteste in Barcelona

Tourismus als Klassenkampf

Anfang Juli bespritzen Demonstrierende Tourist*innen in Barcelona mit Wasserpistolen. Die Bilder gehen um die Welt. Die Beweggründe für die Aktion bleiben aber zum Großteil unterbelichtet. Swantje Hoeft ist aktuell in der katalanischen Hauptstadt und schreibt wie Tourismus und Klassenkonflikt zusammenhängen.

Barcelona, 6. Juli 2024. Ein Demonstrationszug zieht an der Kolumbusstatue vorbei und bewegt sich entlang der Hafenpromenade. Die hohe Teilnehmer*innenzahl hat die Erwartungen des Organisationsbündnisses von 14 Bürger*innenplattformen bei weitem übertroffen. Als die Demonstrierenden an einem Luxushotel vorbeikommen, bleiben sie stehen und rufen: „Das ist keine Tourismusphobie, sondern Klassenkampf!“ Einige Aktivist*innen kleben ein Absperrband an die Glasfenster des Hotels mit der Aufschrift: „BCN für die Nachbarn“. In diesem Sommer ist kein Monat vergangen, ohne dass es in spanischen Städten Proteste gegen die Touristifizierung gegeben hat. Der Begriff „Touristifizierung“ ist eine Wortneuschöpfung. Sie verweist in Anlehnung an die Gentrifizierung auf die Auswirkungen der Tourismusindustrie. Während der Tourismussektor die Proteste als „Tourismusphobie“ diskreditiert, ist der Tourismus das dritthäufigste Thema, das den Einwohner*innen Barcelonas derzeit Sorgen bereitet. Der kollektive Unmut äußert sich in zahlreichen Fernsehdebatten, Zeitungsartikeln und literarischen Werken, sowie in der wachsenden Popularität des X-Kanals „Humans of Late Tourism“.

Aufschriften der Sticker: „Tourist go home, refugees welcome“, „Tourismus tötet Nachbarschaften“ und „Liebe die Ozeane, versenke die Reichen“ – der Sticker zeigt einen Wal, der ein Kreuzfahrtschiff versenkt.
Sticker mit Aufschriften wie „Liebe die Ozeane, versenke die Reichen“ | (c) Swantje Hoeft

Your Luxury Trip, my Daily Misery

Die Forderungen der Organisator*innen der Großdemo richten sich gegen die steigenden Lebenshaltungskosten, Wohnungsnot und Gentrifizierung sowie die Überlastung öffentlicher Dienstleistungen. Außerdem gegen die Umweltverschmutzung, die zu 75% auf den Tourismussektor zurückzuführen ist. Barcelona empfängt jährlich rund 31 Millionen Besucher*innen. Das ist das 20-fache der Einwohner*innenzahl. Deswegen fordern die Protestierenden ein Ende der öffentlichen Subventionen für den Tourismussektor, eine Reduzierung der Lizenzvergabe für Ferienwohnungen, Kreuzfahrtschiffe und Billigflüge sowie einen Stopp des Ausbaus des Flughafens der katalanischen Hauptstadt. Unterdes versuchen öffentlich-private Partnerschaften, Barcelona als neues Ziel für den Luxustourismus zu präsentieren. Die Zivilgesellschaft weist jedoch darauf hin, dass wohlhabende Gäste nicht automatisch zu einer besseren Umverteilung von Gewinnen beitragen. Sie begünstigen vielmehr Verdrängungspolitiken. So unterbindet beispielsweise die von Louis Vuitton gesponserte Segelregatta America’s Cup ansässigen Bürger*innen den Zugang zu öffentlichen Stränden.

Die weitverbreitete Prekarität in Spanien untergräbt seit langem das Mantra, dass der Tourismus zum wirtschaftlichen Wohlstand führt. Der durchschnittliche Lohn im Hotelgewerbe liegt nur bei der Hälfte des spanischen Durchschnittslohns. Laut Fotocasa sind die Mieten in Barcelona seit 2014 um 88% gestiegen, während die Preise für Touristenwohnungen um 68% zugenommen haben. Im Juni hat die Stadtverwaltung erste Maßnahmen gegen Ferienwohnungen unternommen. Im Gegensatz zu bürgerlichen Protestveranstaltungen gegen Massentourismus, wie z.B. im österreichischen Hallstatt, haben die Exklusionseffekte des Luxustourismus ein wachsendes Klassenbewusstsein befördert. Denn die steigenden Mieten betreffen vor allem einkommensschwache Haushalte ohne Eigentumswohnungen, die in Außenbezirke verdrängt werden.

Frisch bezogene Betten, kaputte Körper

Angeführt wurde der Protestzug von Hotelreinigungskräften. Sie sind bekannt als Las Kellys – eine Abkürzung für „die, die putzen“ (las que limpian). Die Kellys sind gefragte Sprecher*innen in der öffentlichen Debatte über den Tourismus. Ihre prekäre Situation steht sinnbildlich für die Ausbeutung in der Branche. Trotz der körperlich und psychisch anstrengenden Arbeit liegt das Einkommen einer Hotelreinigungskraft nur knapp über dem gesetzlichen Mindestlohn. In den berühmtesten Luxushotels der Stadt verdienen sie mit einem Nettomonatsgehalt von 1.117 Euro so viel, wie zwei Hotelzimmer pro Nacht kosten. Das Outsourcing durch Personaldienstleister verringert ihr Gehalt um ein weiteres Drittel, sodass externalisierte Hotelreinigungskräfte oft nur 2€ pro gereinigtem Hotelzimmer erhalten.

Die Erwartung, mehr Zimmer zu reinigen, als in der vorgegebenen Zeit möglich ist, führt nahezu täglich zu unbezahlten Überstunden. Zudem verursachen die repetitiven Bewegungen eine Reihe von Berufserkrankungen. Um ihren Arbeitsalltag trotz der Schmerzen bewältigen zu können, greifen 71,5% der Hotelreinigungskräfte zu Schmerzmitteln. Einige von ihnen nehmen täglich bis zu 18 Tabletten und beginnen ihren Arbeitstag mit „einem Ibuprofen zum Frühstück“. Die Selbstmedikation ist auch deshalb so weit verbreitet, weil der entsprechende Kollektivvertrag keine Entgeltfortzahlung für die ersten drei Tage des Krankenstandes vorsieht. Die Mehrheit der Hotelreinigungskräfte sind migrantische Arbeiter*innen und alleinerziehend. Viele sehen sich aufgrund des niedrigen Gehalts dazu gezwungen einen Zweitjob anzutreten, um die hohen Lebenshaltungskosten zu decken. Sie können sich schlichtweg nicht leisten, krank zu werden.

„Make BCN free again!“ – Post-Pandemisches Unbehagen

Der bekannte Urlaubsort Lloret de Mar an der Costa Brava ist trotz hoher Besucher*innenzahlen eine der Städte mit dem niedrigsten Haushaltseinkommen in Katalonien. Ich treffe dort ein Gründungsmitglied der Kellys. Sie berichtet über die Erfahrungen der Hotelreinigungskräfte im Sommer 2020: „Hier in Lloret gab es eine sehr amüsante Situation: Als die Grenzen geschlossen wurden, kamen zum ersten Mal keine Touristen. Und zum ersten Mal konnte man am Strand seine Kollegen sehen, die das Meer genossen.“

Die Lockdowns der COVID-19-Pandemie haben dazu angeregt, das Recht auf Stadt und Strand neu zu denken. Unter dem Slogan #OcupemLesNostresPlatges hat im Juni eine Bürger*inneninitiative eine beliebte Bucht auf Mallorca besetzt. Doch die Pandemie war nicht nur ein Labor für räumliche Aneignungen. Auch die Verteilung von Lebenszeit wurde neu sortiert: „Zum ersten Mal seit vielen Jahren konnten wir Hotelreinigungskräfte den Monat August genießen, ohne gestresst und überfordert zu sein und uns zu wünschen, dass der Monat endlich vorbei ist. Denn der August ist schrecklich – in den Touristengebieten ist er einfach furchtbar […]. Nach diesem Jahr fragten sich viele Hotelreinigungskräfte, ob sie wirklich in diesem Beruf weitermachen wollen.“

In einem Land, in dem ein Drittel der Bevölkerung es sich nicht leisten kann, zu verreisen (INE 2022), erhält das gegenwärtige Tourismusmodell einen zunehmend bitteren Beigeschmack. Denn die Urlaubszeit der Touristen ist zugleich die Arbeitszeit der prekär Beschäftigten. In jeder Hochsaison verwandelt sich ihr Lebensmittelpunkt in einen Vergnügungspark. Seine Eintrittskarten können sie sich nicht leisten.

Touristic Degrowth Now!
Touristic Degrowth Now! | (c): Swantje Hoeft

Gegen ein ausbeuterisches System

Wenn die Demonstrierenden einfordern, dem Tourismus Grenzen zu setzen, richten sie sich nicht gegen einzelne Tourist*innen, sondern gegen ein ausbeuterisches System. Für den Sprecher der Versammlung der Nachbarschaften für touristisches Postwachstum (ABDC), Daniel Pardo, waren die Wasserpistolenspritzer nicht repräsentativ für die Proteste. Dennoch fügt er hinzu: Die eigentliche Gewalt besteht nicht aus den Wasserpistolen , sondern darin am Leben gehindert zu werden.

Die Proteste gegen die Touristifizierung in Spanien zielen darauf ab, einen politischen Wandel herbeizuführen. Doch das Verhältnis zwischen Aktivist*innen und Politiker*innen in Barcelona ist vor allem von Enttäuschungen geprägt. Zwar hat der amtierende Bürgermeister als Reaktion auf die Proteste erste Maßnahmen zur Eindämmung von Massentourismus ergriffen, doch laut den Organisator*innen bleibt das eigentliche Problem der Touristifizierung bestehen: Politiker*innen präsentieren öffentlichkeitswirksam scheinbare Veränderungen, ohne das ausbeuterische System wirklich anzutasten.

Titelbild: Swantje Hoeft

Autor

  • Swantje Hoeft

    Swantje Hoeft promoviert über die Gewerkschaftsarbeit von Hotelreinigungskräften in Barcelona. Im Zuge ihrer Forschung arbeitet sie auch selbst als Hotelreinigungskraft.

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