Vergangenes Wochenende fand in Graz die 10. Ausgabe von Tipping Points statt. Unter dem Titel „Soziale Bewegungen und linke Parteien“ sollte über Gegensätze, Unterschiede und Synergien zwischen verschiedenen Organisierungsformen diskutiert werden.
Tipping Points ist ein Workshopwochenende, das seit 2019 unter dem Motto „Skills und Methoden für soziale Bewegungen“ zwei Mal im Jahr stattfindet. Im Zentrum stehen methodische Workshops, die für die Arbeit in selbstorganisierten, politischen Gruppen wichtig sind. Tipping Points will offen sein für alle (emanzipatorischen) sozialen Bewegungen. Die Workshops sollen hilfreich sein, unabhängig davon, in welchen Kämpfen die Teilnehmenden aktiv sind (Klimagerechtigkeit, Feminismus, Antirassismus, …). Zusätzlich sollen sich Menschen und Organisationen durch Tipping Points kennenlernen und Möglichkeiten der zukünftigen Kooperation entstehen. mosaik Redakteur Hannes Grohs hat mit Laura Grossmann vom Organisationsteam gesprochen, um mehr über das Wochenende in Graz sowie Ideen und Strategien rund um Tipping Points zu erfahren.
mosaik: Wie war das Wochenende? Was waren deine Highlights?
Laura: Das Wochenende war sehr divers und inspirierend. Ohne uns selbst zu sehr loben zu wollen – aber das Programm war wirklich spannend. Meine persönliche Highlights unter den Workshops waren diesmal zum einen „Kritische Prozessbeobachtung als politisches Tool“ von prozess.report. Denn das Beobachten von Gerichtsprozessen von links ist eine wichtige Aufgabe. Es erlaubt, in Zeiten des Rechtsruck Repression und rechtliche Veränderungen im Blick zu behalten. Zum anderen „WIR // JETZT // HIER – ein radikaler Rettungsschirm für die LINKE“. In diesem Workshop haben zwei Aktivist*innen von ihrem Versuch erzählt haben, linksradikale Autonome zu einem Parteieintritt in die LINKE in Deutschland zu motivieren.

Die aktuelle Ausgabe stand unter dem Titel „Soziale Bewegungen und linke Parteien. Über Gegensätze, Unterschiede und Synergien“. Warum habt ihr diese Schwerpunktsetzung gewählt und was habt ihr heraus gefunden?
Wir versuchen mit den Schwerpunkten Themen zu wählen, die unsere Zielgruppen gerade beschäftigen. Manchmal hat das dann eher einen lokalen Fokus, manchmal sind es Meta-Themen. Diesmal hat das Super-Wahljahr sicher eine Rolle bei unserer Entscheidung gespielt. Wir beobachten, dass sich auch partei-fernere Gruppen in letzter Zeit mehr mit der Frage beschäftigen, ob und inwiefern sie den Wahlkampf von bestimmten Parteien unterstützen sollten. Die jüngsten Erfolge der KPÖ, die mögliche Neuorganisierung der Partei die LINKE in Deutschland und die Kandidatur von Lena Schilling für die Grünen sind da natürlich spannende Fälle.
Wir nehmen dazu als Team und Referent*innen auch einige Überlegungen aus dem Wochenende mit. Wie sich die Beziehung von Bewegungen zu Parteien verhält, hängt unseres Erachtens stark davon ab, um welche Partei es sich handelt und wie ähnlich die Inhalte sind. Womöglich baut sich die Skepsis von sozialen Bewegungen gegenüber Parteien – Dank der Auseinandersetzung mit der KPÖ – momentan langsam ab. Zumindest stellt die KPÖ das erste Mal seit langem für viele eine ernstzunehmende, wählbare Alternative da.
Wenn Parteien von sozialen Bewegungen Vertrauen und Wahlstimmen bekommen, müssen sie aber auch im Gegenzug etwas liefern. Dieser Schritt bleibt oft aus und zerstört das Vertrauen. Parteien brauchen Strukturen, in denen das verankert ist, damit es nicht von einzelnen Personen abhängt. In diesem Zusammenhang wäre es auch wichtig, weniger in „entweder-oder“ zu denken und mehr in „sowohl-als auch“. Das wäre auch für einen Abbau von Barrieren und gemeinsames Arbeiten hilfreich. Die Gehaltsbeschränkung, wie sie bei der KPÖ institutionalisiert und von Lena Schilling zumindest angekündigt wurde, können ein spannendes Instrument sein. Sie halten die Politik näher an der Lebensrealität der Menschen (und sozialen Bewegungen).
Wir haben aber auch über Eurozentrismus gesprochen und was weiße Aktivist*innen und Parteigenoss*innen von der zapatistischen Bewegung, von Rojava, indigenen Gemeinschaften in Südamerika und afrikanischen Ländern lernen können und müssen. Deutlich wurde auch – für Parteien und Bewegungen: Wir brauchen ein neues kollektives Verständnis von Verantwortung für uns selbst und den Menschen um uns herum. Wenn sich jede Person in einer Gruppe für jede andere Person in der Gruppe und das, was in der Gruppe passiert, verantwortlich fühlt, haben wir automatisch ein anderes Kollektiv, eine andere Achtsamkeit/Awareness und eine andere Form von Leitung.
Ihr seid mit Tipping Points bislang durch halb Österreich getourt – wart neben Wien auch in Linz, Innsbruck, Salzburg und jetzt wieder Graz. Was ist euch dabei aufgefallen? Wie schätzt ihr die aktivistische Landschaft und ihre Vernetzung in Österreich ein?
Uns war es immer wichtig, nicht nur in Wien zu organisieren. In Österreich ist Polit-Arbeit ohnehin stark auf Wien fokussiert. Auffällig ist, dass trotzdem meistens um die 40% Wiener:innen teilnehmen und 60% aus der jeweiligen Stadt/Region sind. Von einer Landeshauptstadt in die andere gibt es kaum Mobilität.
Natürlich ist die Vernetzung zwischen den Städten toll. Aber auffallend ist, wie sehr die innerstädtische Vernetzung durch Tipping Points profitiert. Durchaus auch langfristig. Scheinbar gibt es zu wenige Räume, in denen über die Themen und Gruppen hinweg Vernetzung passiert. Tipping Points ist da wohl eine Art „neutraler Boden“. In Salzburg zum Beispiel haben wir an einem Abend auf Wunsch von einigen Gruppen vor Ort einen moderierten Austausch organisiert. Der ist sehr gut angekommen und einige Monate später wiederholt worden.

Wenn ihr einen selbstkritischen Blick auf eurer Projekt werft: Was ist euch in den letzten Jahren gut und was weniger gut gelungen?
Das Feedback, das wir von Teilnehmenden bekommen, ist meistens sehr positiv. Klare Ausnahmen waren immer wieder Kommentare von BIPoC-Aktivist*innen, die Mikroaggressionen erfahren haben und uns darauf hinweisen, wie schwer es ist, sich in weißen, aktivistischen Räumen wohl zu fühlen.
Diese Kritik nehmen wir sehr ernst. Denn wir möchten nicht nur von Diversität sprechen, sondern sie auch leben bzw. fördern. Seit einigen Monaten sind wir in einem expliziten Prozess, Tipping Points in Bezug auf Inklusion, Diskriminierung und Zugängen zu reflektieren und zu verbessern. Es hat mich gefreut, diesmal in Graz positives Feedback zu bekommen: zur barrierefreien Location, zur Simultanübersetzung im Plenum, zu den mehrsprachigen Workshops, den FLINAT-only und BIPoC-only Workshops, zum Awareness-Raum und der interessanten Durchmischung der Teilnehmenden. In Bezug auf thematische Diversität haben wir dieses Mal auch einen großen Sprung geschafft. Bisher gab es unter den Teilnehmer*innen einen großen Überhang an Klima(gerechtigkeits)aktivist*innen. Wir bemühen uns seit längerem, auch andere Bubbles zu erreichen.
Vieles spricht vom drohenden Rechtsruck bei den Nationalratswahlen im Herbst. Inwieweit seht ihr die sozialen Bewegungen in Österreich darauf vorbereitet?
Das Thema ist überall präsent, die Sorge bei vielen sehr groß. Natürlich beschäftigt auch viele die Frage, was es – parlamentarisch gesehen – gerade für eine Alternative gibt; für wen oder was versucht werden soll, zu mobilisieren. Gegen die FPÖ zu kampagnisieren ist für viele klar. Doch wenn diese Wähler*innen stattdessen zur ÖVP gehen, ist nicht viel gewonnen. Für viele autonome, linksradikale Aktivist*innen sind außerdem weder die SPÖ noch die Grünen eine reale Alternative. Für diese Wahlkampf zu machen, ist für sie ausgeschlossen. KPÖ zu wählen, haben sich viele aus taktischen Gründen bisher nicht getraut. Obwohl doch auch einige angesichts deren regionalen Zugewinne optimistisch sind, dass sich zumindest auch links der Mitte etwas tun wird.
Immer wieder hören wir, dass es schwierig ist, eine breite Front gegen rechts aufzubauen, weil es gerade so viele Gräben und Spaltungen gibt; aktuell besonders – aber nicht nur – wegen Nah-Ost. Die Frage der nächsten Monate wird sein, ob und wie es gelingt, angesichts der gemeinsamen Gegner*innen wieder mehr zusammenzurücken und mit unterschiedlichen innerlinken Positionen, aber auch Gefühlen und Betroffenheiten, umzugehen. Wir haben das bei diesem Tipping Points versucht, indem wir dem Nah-Ost ein Podium gewidmet haben. Das hat auch im Nachhinein interessante Diskussionen angeregt – nicht unkontrovers, aber mit Respekt und Konstruktivität.
Interview: Hannes Grohs
Titelbild: MK/Tipping Points