Schokolade statt Aufbegehren: Theater über die gelähmte Zivilgesellschaft

Seit 30 Jahren macht das Aktionstheater Ensemble Theater über und gegen die politischen Zustände. Zum Jubiläum fragt die Truppe sich und uns: „Wie geht es weiter?“ – und präsentiert ein Stück über die „gelähmte Zivilgesellschaft“. Julia Gramm und Veronika Schneider haben sich die Uraufführung am Meidlinger Theater Werk X angesehen.

Sechs Schauspieler*innen reden viel, treten aber kaum in einen Dialog miteinander. Viele Aussagen bleiben unkommentiert im Raum stehen. Das grundlegende Setting des Theaterstücks „Wie geht es weiter – die gelähmte Zivilgesellschaft“ transportiert bereits das Kernthema: Gesellschaft adieu, Individualismus salut! Die Frage ist nur: Für wen?

Viel Gelächter

„Umweltschutz, soziale Ungerechtigkeit, Afrika – Das sind Riesenthemen bei uns“, erklärt Schauspielerin Michaela Bilgeri. In den folgenden 70 Minuten kommen die Schauspieler*innen immer wieder auf diese Riesenthemen zu sprechen, am meisten auf den Themenkomplex „Afrika“. Aber kaum könnten sie sich hin zu konkreten Aspekten vertiefen, schweifen sie ab zu den Nichtigkeiten des Lebens: Bilgeri beschreibt etwa ein Silbenzählspiel, das aufzeigt, ob ein Wort „gut“ (gerade Anzahl an Lauten) oder „schlecht“ (ungerade Anzahl an Lauten) ist und dessen Regeln scheinbar ihrer Willkür unterliegen. „Faschismus“ deklariert sie als ein „gutes“, „Weltfrieden“ als ein „schlechtes“ Wort, denn: „Es geht sich nicht aus!“ Gelächter folgt auf diesen Sager, an anderen Stellen lacht man wegen der absurden Gleichnisse, manchmal aber auch, weil man das eigene Verhalten wiedererkennt und sich peinlich ertappt fühlt.

Bilgeris Kollege Benjamin Vanyek offenbart seine Leidenschaft für Schokolade, aber nicht irgendeine, sondern Milka, denn das sei eine österreichische Marke, erklärt er. Thomas Kolle berichtigt ihn sogleich, erklärt ihm, dass Milka Nestlé gehöre, doch Vanyek hört weg, weil er von seinem Patriotismus nicht abkommen will.

Stakkato der Ungerechtigkeiten

Thema folgt auf Thema. Auf Schokolade folgt Wohnen. Während Maria Fliri von ihren zwei leerstehenden Wohnungen erzählt, die sie aber nicht mehr vermieten möchte, weil ihr das zu anstrengend ist, berichtet Vanyek von seinem Gang auf das Wohnungsamt, weil er kurz vor der Delogierung steht. Als er das Gespräch mit der bearbeitenden Beamtin wiedergibt, verfällt er ins tiefste Wienerisch, strotzend vor Wut und Schimpfwörtern. Der Zeichnung des von der Delogierung bedrohten Wieners wird Langzeitarbeitslosigkeit, der Vorwurf mangelnden Engagements bei der Suche nach einer Anstellung und irrationale Wut beigemengt. Es ist irritierend, in diesem sonst so ausgeklügelten Abend dieses Klischee wiederzufinden. Vor allem aber schockiert die Reaktion der Zuschauer*innen, denn sie lachen munter über die Darstellung eines Menschens, der kurz vor der Obdachlosigkeit steht und in seiner Machtlosigkeit in einen emotionalen Ausnahmezustand verfällt.

Kaum ist Ungleichheit am Arbeitsmarkt abgeklungen, nimmt das Ensemble erneut Rückgriff auf den Themenkomplex Kolonialismus und Globalisierung. Fünf Schauspieler*innen folgen einer strikten Choreografie mit Ballettposen, die via Hochkultur auf finanzielle Potenz verweist. Vanyek sitzt hingegen auf einem Autoreifen und erklärt, er sei so beschäftigt damit, sich selbst zu verbessern, da könne er sich nicht auch noch um Afrika kümmern. Als er beginnt, Milka-Schokolade in sich hineinzustopfen, schreit Vanyek immer wieder: „Nur noch Alpenmilch!“ Schokolade steht für die Entscheidungsfreiheit ein, die Vanyeks Figur nicht mehr hat. Und: Sie lenkt nicht nur vom gesellschaftlichen Ungleichgewicht ab, sondern verunmöglicht auch, dass Vanyeks Figur sich dagegen organisiert. Er ist so mit Konsum und Selbstverbesserung beschäftigt, dass er alles um sich herum vergisst: Er ist der finanziell Schwächste der Gruppe, weshalb er aus der choreografierten Lebensordnung herausfällt. Er kommt einfach nicht mehr mit.

Die Blase verlassen

Bekannte politische Catch-Phrases wie „Wo ist die Mitte“, „Mir geht es um die Sache“, „Jetzt erst recht“ oder „Genug ist genug“ wiederholen die Schauspieler*innen so oft von den Schauspieler*innen, dass sie absurd wirken. Tagespolitische Themen treten verstreut und in Form von Anspielungen zu Tage, die so abstrakt gehalten werden, dass sie fast wie Insiderwitze unter Freund*innen funktionieren. In diesen kurzen Momenten ist glasklar, für wen dieses Stück gemacht ist: Für eine politisch interessierte und gut informierte linke Blase, denn ohne aktive Mitverfolgung des politischen Tagesgeschehens gehen Anspielungen wie etwa auf den geplanten Lithiumabbau in Kärnten und die plötzlichen Umweltbemühungen von Gaston Glock an einem*r vorbei.

Fazit: Es ist wichtig, dass auch auf unterhaltsame Art und Weise gesellschaftspolitische Themen im Theater behandelt werden. Umso cooler wäre es aber, wenn solche Stücke ihre Blase verlassen und einer breiteren Öffentlichkeit gegenüberträten.

„Wie geht es weiter – die gelähmte Zivilgesellschaft“ von Martin Gruber und dem Aktionstheater Ensemble ist noch bis Sonntag, 16. Juni 2019 am Theater Werk X zu sehen.

 

Julia Gramm ist studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaftlerin und Chefredakteurin des Neue Wiener Theaterkritik-Blogs.

Veronika Schneider hat ein abgeschlossenes Diplomlehramtstudium mit den Fächern Spanisch und Geschichte. Sie ist Redakteurin beim Neue Wiener Theaterkritik-Blog und engagiert sich seit zehn Jahren aktiv bei der Sozialistischen Jugend.

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