Was tun mit dem Nationalstaat? Ein linkes Dilemma.

Internationale Institutionen mit massivem Demokratiedefizit wie IWF, EZB und EU erzwingen Kürzungen im Sozialbereich und Privatisierungen öffentlichen Vermögens zum Schleuderpreis, gegen den Willen gewählter nationaler Regierungen. Internationale Handelsabkommen wie TTIP sollen Profite zum einklagbaren Recht gegenüber Nationalstaaten machen. Gleichzeitig ist nationale StaatsbürgerInnenschaft die größte Quelle ökonomischer Ungleichheit in der Welt. Nationale Grenzen töten, unter anderem die tausenden Menschen, die allein dieses Jahr im Mittelmeer ertrunken sind. Nationalität ist eine Erfindung rechter IdeologInnen und verantwortlich für die schlimmsten Massenmorde und Kriege der Geschichte. Weiters lassen sich grundlegende Probleme wie globale Steuerhinterziehung, Standortwettbewerb und Klimawandel nur auf internationaler Ebene effektiv bekämpfen.

Die Geschichte von Linken und Nationalstaat

Das Verhältnis der Linken zum Nationalstaat in den letzten 200 Jahren ist recht wechselhaft. Mit der französischen Revolution angefangen war der Nationalstaat für Linke wie für Liberale verbunden mit der Hoffnung, die Macht von Aristokratie und Kirche zu überwinden und Solidarität über lokale soziale Bindungen hinweg zu ermöglichen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Nationalismus als Ideologie, die eine fiktive Einheit von Sprache, Kultur, Ethnizität, Territorium und Staat beschwört und durchzusetzen versucht. Nationalismus wurde gleichbedeutend mit Fremdenhass, Rassismus, Kriegstreiberei und Imperialismus. Die ArbeiterInnenbewegung distanzierte sich und bekannte sich zum Internationalismus („Arbeiter aller Länder vereinigt euch“).
Im 20. Jahrhundert wandelte sich das Verhältnis dann vielerorts wieder. Im Widerstand gegen faschistische Besatzungsmächte konnten sich Organisationen der ArbeiterInnenbewegung als „wahre PatriotInnen“ präsentieren (etwa in der französischen Résistance). In den Befreiungsbewegungen gegen imperiale Ausbeutung erschien die selbstbestimmte Nation als Gegenpol zur Unterdrückung durch die Metropole. In den letzten Jahrzehnten wurde die „Nation“ wieder hauptsächlich zur Domäne rechter Parteien und Bewegungen in Europa, die sich dem Kampf gegen MigrantInnen und Islam verschrieben haben.

Handlungsspielräume erweitern

In der Gegenwart stellt sich nun die Frage für linke AkteurInnen: Wie lassen sich linke Ziele am besten verwirklichen? Ist nationalstaatliche Politik das Instrument der Wahl, oder muss der Nationalstaat überwunden werden, mittels internationaler und übernationaler Organisationen?
Um diese Frage zu beantworten müssen wir, glaube ich, zuerst die folgende Frage diskutieren: Wie lassen sich Handlungsspielräume für demokratisch legitimierte Politik im Interesse der Mehrheit der weniger Privilegierten aufrecht erhalten und erweitern – Handlungsspielräume für steuerliche Umverteilung, Verteidigung von Arbeitsrechten oder Umweltstandards? Die Rolle übernationaler Institutionen und Verträge ist in diesem Zusammenhang sehr zweischneidig, was wohl mit ein Grund für die Gespaltenheit von Linken in dieser Frage ist.
Zum einen schrumpft die Handlungsfähigkeit nationalstaatlicher Politik in einer globalisierten Welt aus ökonomischen Gründen. Im Standortwettbewerb fällt es Regierungen oft schwer sich für Umverteilung zu entscheiden und gegen globale Steuerhinterziehung und Klimawandel gibt es national ebenso wenig auszurichten. Trotz der Notwendigkeit von internationaler Kooperation, scheint die Realität internationaler Institutionen oft das genaue Gegenteil solcher Hoffnungen zu sein. Von den „Strukturanpassungsprogrammen“ des Internationalen Währungsfonds in den 1990ern und 2000ern über die Auflagen der Eurogruppe für Griechenland bis hin zum „Investorenschutz“ in Handelsabkommen wie TTIP scheint die Mehrheit dieser internationalen Institutionen darauf abzuzielen, widerspenstigen nationalen Regierungen eine neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik aufzuzwingen.
Diese Hoffnung hatte schon der neoliberale Theoretiker Friedrich Hayek 1939. Er argumentierte dass in einer (europäischen) Union basierend auf freiem Verkehr von Waren, Kapital und Arbeitskräften, eine Schwächung nationaler Politik, während es Parteien und Gewerkschaften auf der übernationalen Ebene nicht gelingen würde, ihren Handlungsspielraum für eine andere Politik wiederzugewinnen.

TTIP und Co.

Neben den allgemeinen Gründen für eine Schwächung politischer Handlungsfähigkeit, die Hayek vorhergesehen hat, liegt ein spezifischerer Grund in der Natur internationaler Abkommen, die derzeit diskutiert werden (insbesondere Handelsabkommen wie TTIP). Frühere Handelsabkommen zielten vor allem auf die Reduktion von Zöllen und Einfuhrquoten ab. Dadurch wurde die ökonomische Isolation von Nationalstaaten, die sich insbesondere im Vorfeld der beiden Weltkriege herausgebildet hatte, massiv reduziert. Solche Handelsabkommen hatten GewinnerInnen und VerliererInnen innerhalb der betroffenen Länder und waren auch oft ungleich, insbesondere wenn sie zwischen reichen Ländern des Nordens und ärmeren des Südens abgeschlossen wurden.
Die Natur der heutzutage diskutierten Handelsabkommen ist grundlegend anders. Zölle und Einfuhrquoten sind weitgehend abgeschafft; was jetzt diskutiert wird sind sogenannte „nicht-tarifäre Handelshemmnisse“. Das betrifft nahezu alle Domänen nationaler Politik, von Umweltstandards über ArbeitnehmerInnenrechte bis zu Unternehmenssteuern. Im Prinzip haben solche Abkommen das Potential, den Standortwettbewerb zwischen Nationalstaaten zu reduzieren, indem sie verpflichtende Mindeststandards etwa im Umweltschutz einführen.
In der Praxis scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein. Ein zentrales Element dieser Abkommen ist der „Investorenschutz“. Das Argument dahinter ist, dass Investitionen nur in der Erwartung künftiger Profite getätigt werden und durch Rechtsunsicherheit beeinträchtigt werden. Wenn nationale Regierungen Gesetze erlassen die Profite schmälern verletzt das die Eigentumsrechte der InvestorInnen, die deswegen Anspruch auf Entschädigung haben. Konsequent zu Ende gedacht bedeutet diese Logik dass nie eine Veränderung von Gesetzen möglich ist, die auf Kosten der KaptialeigentümerInnen ginge.
Ein weiterer Aspekt dieser Abkommen ist der Mangel an demokratischer Mitbestimmung. Riesige Maßnahmenpakete mit weitreichenden Konsequenzen werden über Jahre unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt, um sie dann im Schnellverfahren von gewählten Vertretungen (Parlamenten) absegnen zu lassen.

Ökonomische Ungleichheit weltweit

Auf der anderen Seite ist ein zentraler Aspekt nationalstaatlicher Organisierung der Welt die Ungleichheit, die sie erzeugt: Keine politische Maßnahme trägt so sehr zu ökonomischer Ungleichheit bei wie die Einteilung der Menschheit in Gruppen mit verschiedener Staatsangehörigkeit. Der ökonomische Unterschied, den es ausmacht, die „falsche“ Staatsangehörigkeit zu haben, und deswegen nicht in einem reichen Land leben zu können, lässt alle anderen Ungleichheiten (etwa nach Geschlecht, sozialem Status der Eltern, Ethnizität innerhalb eines Landes, …) verblassen. Das zeigt sich am Zuwachs bei Einkommen, Konsum, Lebenserwartung etc., den die GewinnerInnen von Visalotterien erzielen können. Eine linke Politik, der es mit der gleichen Würde aller Menschen ernst ist, muss sich dieser Tatsache stellen.

Was tun?

Was also tun? Weder der Rückzug in nationalstaatliche Politik und das Beharren auf nationaler Selbstbestimmung, noch die existierenden internationalen Institutionen scheinen linken Zielen dienlich zu sein.
Ich glaube, eine linke Position zu internationalen Abkommen und übernationalen Institutionen muss die folgenden Eckpunkte beinhalten:

1. Die Ungleichheit, die durch Staatsangehörigkeit und nationale Grenzen erzeugt wird, steht in grundlegendem Widerspruch zur gleichen Würde aller Menschen.
2. Die von NationalistInnen beschworene Einheit von Kultur, Sprache, Ethnizität, Territorium und Staat ist eine Fiktion und Quelle von Fremdenhass und Gewalt.
3. Auf nationaler Ebene existieren oft mehr Kanäle demokratischer Mitbestimmung als auf internationaler Ebene, und es gibt effektive Organisationen wie Parteien, Gewerkschaften, etc.
4. Gleichzeitig lassen sich zentrale Probleme wie Standortwettbewerb, internationale Steuerhinterziehung und Steuervermeidung, Klimawandel, oder Finanzmarktregulierung nur international lösen.
5. Langfristiges Ziel muss die Überwindung von Nationalstaaten und der Aufbau einer effektiven Gegenmacht auf internationaler Ebene sein, die es schafft, Institutionen wie die EU oder internationale Handelsverträge für fortschrittliche Politik zu nutzen.
6. Unsere Position zu Nationalstaat und internationalen Institutionen muss strategisch und situationsabhängig bestimmt werden.

Nach einem Doktoratsstudium in Berkeley forscht und lehrt Maximilian Kasy derzeit an der Harvard University. Er beschäftigt sich unter anderem mit ökonomischer Ungleichheit, sozialer Mobilität, Steuern, Arbeitsmärkten, Bildung und städtischer Segregation.

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