Für Selbständige gibt es aus der freiwilligen Zusatzversicherung Krankengeld ab dem 4. Tag, dessen Höhe ist von der Beitragsgrundlage abhängig. Mit Jahresbeginn kürzte die zuständige Versicherung (SVA) den Mindestsatz radikal, betroffen sind vor allem Pfleger_innen. Wilfried Leisch über die Hintergründe eines massiven Sozialabbaus.
Den Beschluss dazu fassten alle politischen Fraktionen in der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft (SVA) einstimmig: Der Mindestsatz für das Krankengeld wurde von 29,23 Euro auf 8,41 Euro pro Tag gekürzt. Betroffen sind 30.000 der zirka 400.000 aktiven SVA-Versicherten. Als zu teuer begründete Wirtschaftskammer-Präsident und SVA-Obmann Christoph Leitl die Entscheidung. Die Wirkung ist katastrophal. Besonders nachteilig ist die Kürzung für jene Versicherten, die eher gezwungen als freiwillig in die Selbständigkeit gingen, als sogenannte „Ein-Personen-Unternehmen“ (EPU). Von den rund 500.000 Mitgliedern der Wirtschaftskammer sind bereits fast 300.000 EPUs. Ein Drittel von ihnen verdient so wenig, dass sie keine Einkommenssteuer zahlen, also netto unter 11.000 Euro im Jahr. Dazu zählt auch die große Gruppe der zirka 60.000 24-Stunden-Betreuer_innen, die als „Selbständige Personenbetreuer“ geführt werden.
Von Anfang an …
2007 wurden 24-Stunden-Betreuer_innen statt zu Angestellten zu Selbständigen gemacht; zwar mit Unfall-, Kranken- und Pensionsversicherung, aber ohne Geld im Krankheitsfall. Mit Krankengeld ab dem 4. Tag lockte man sie in eine selbst zu zahlende Zusatzversicherung. Ab 2013 wurden die Beiträge für die Zusatzversicherung erhöht, aber ein Mindestsatz für das Krankengeld von 29,23 Euro pro Tag festgelegt. Anfang 2017 wurde die Leistung einseitig auf 8,41 Euro pro Tag gekürzt. Die einbezahlten Beiträge aber waren im Hinblick auf die noch alte, bessere Zusage geleistet worden. Das verletzt den Vertrauensgrundsatz und ist klagswürdig. Seit 2013 zahlt die SVA aus der Pflichtversicherung Krankengeld erst ab dem 43.(!) Tag. Auf Druck der Öffentlichkeit bietet die SVA nach Kürzung der Zusatzversicherung nun eine „Kulanzlösung“ an: Die Unterstützungsleistung soll ab dem 43. Tag rückwirkend ausbezahlt werden. Wovon die Versicherten mit geringem Einkommen bei langanhaltender Krankheit bis zum 42. Tag leben sollen, steht in den Sternen.
… unhaltbare Zustände
Der Staat, zu 80 Prozent finanziert aus unseren Sozialversicherungsbeiträgen, Lohn-, Einkommens- und Massensteuern, entledigt sich seiner sozialen Aufgabe. Er verwendet das Geld stattdessen zur Wirtschaftsförderung oder zur Risikoabdeckung für Spekulationsgeschäfte wie die Hypo-Alpe-Adria/Heta, Volksbank oder Kommunalkredit. Private Unternehmen im Pflegebereich übernehmen nur reiche „Kundschaft“. Arme „Kundschaft“ wird fast umsonst von den Angehörigen gepflegt, erhält nur einen Bruchteil der Aufwendungen (Stichwort Pflegegeld) aus dem Budget, das wir alle finanzieren. Österreich ist weit davon entfernt anzuerkennen, dass fachliche, finanzielle und soziale Rahmenbedingungen für menschenwürdiges Altern und entsprechende Pflege ein wichtiges gesellschaftliches und damit staatliches Anliegen sind. Die SVA-Kürzungen sind dahingehend ein Sittenbild.
Härtefälle und Selbstbehalte
Wenn SVA-Chef Christoph Leitl zu den Kürzungen meint, dass er Härtefälle „unbürokratisch lösen“ will, ist das zynisch. Genauso „unbürokratisch“ legalisierte die Regierung 2007 niedrigst bezahlte Schwarzarbeit, indem das Gewerbe der „Selbständigen Personenbetreuer“ geschaffen wurde: Agenturen „beschäftigen“ seitdem „Unternehmer_innen“ für die Betreuung. Die Betreuten müssen einen Vertrag mit der Agentur abschließen. Die „Selbständigen Personenbetreuer“ wiederum schließen Verträge mit den Betreuten und mit der Agentur ab. Das ist letztlich nichts anderes als staatlich befördertes Lohndumping mit Hilfe gesetzlich gezimmerter Scheinselbständigkeit auf Gewerbeschein: Agenturen, Wirtschaftskammer und SVA profitieren. Kaum jemand redet von den schlechten Arbeitsbedingungen in diesem Bereich, in dem vor allem migrantische Frauen arbeiten. Das ist nicht nur rassistisch und frauenfeindlich, sondern macht auch krank.
Gerne präsentiert sich die SVA als „Gesundheitsversicherung“: Wer „individuelle Gesundheitsziele“ vereinbart, erspart sich die Hälfte des 20-prozentigen Selbstbehalts. 8.000 SVA-Versicherte beteiligen sich bisher. Der Effekt: Privaten SVA-Hotelpartner_innen verschafft der „Gesundheits-100er“ aus SVA-Versichertengeldern ein zusätzliches Geschäft. Statt in die Gesundheitsvorsorge für alle fließen Versichertengelder in die von Privaten angebotene „Prävention“.
Jobmotor „Flexibilisierung“?
Bundeskanzler Christian Kerns Plan A und das neue Regierungsabkommen versprechen eine Entlastung von Mikrounternehmen, z.B. bei der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Das bringt aber keine Lösung der problematischen Einkommens- und Lebenslagen der Betroffenen 24-Stunden-Pfleger_innen oder aller anderen wirklich nur aus einer Person bestehenden EPUs. Zudem besteht die Absicht und somit die Gefahr, im Zuge der geplanten (Arbeitszeit-)Flexibilisierung den (noch) angestellten Beschäftigten weitere Lohn- und Gehaltseinbußen zuzumuten, weil die Überstundenzuschläge mehr oder weniger wegfallen sollen. Dass bei dieser „Arbeiten-auf-Abruf-Flexibilisierung“ Arbeitsplätze erhalten oder gar hinzukommen werden, ist stark zu bezweifeln. Eher ist das Gegenteil zu erwarten: Warum soll ein Unternehmen zusätzliches Personal einstellen, wenn das angestammte bei Auftragsspitzen nun ohnehin länger zur Verfügung stehen kann? Infolgedessen werden noch mehr Menschen ihr „Glück“ als EPU versuchen (müssen).
Wilfried Leisch ist Politikwissenschaftler, u.a. Mitautor von „Gesundheit für alle“, Vorsitzender der GPA-djp work@flex-Wien sowie aktiv bei Plattform proSV und Initiative Solidarisch G’sund.