Strategiewechsel in Serbien? Zwischen Basisorganisierung und Neuwahlen

Umgekippte Mülltonnen in Belgrad, Serbien

Die Proteste in Serbien spitzen sich zu. Seit Sonntagabend legen Bürger*innen mit unzähligen Straßenblockaden mehrere Städte lahm. Ihre Forderung: Neuwahlen. Dabei hat die Bewegung bisher auf den Aufbau basisdemokratischer Organisierung gesetzt. Ein Strategiewechsel?

Seit Herbst protestieren die Menschen in Serbien gegen die Regierung von Aleksandar Vučić und sein korruptes politisches System. Anlass für die Proteste war der Einsturz eines Vordachs am Bahnhof von Novi Sad am 1. November, bei dem 16 Menschen ums Leben kamen. Seitdem wächst der Widerstand gegen das autoritäre Regime des Präsidenten. Vor allem Studierende treiben die Protestbewegung voran – in Serbien wie auch in der österreichischen Diaspora. Politisch einte sie zunächst nur ein minimales Ziel: rechtsstaatliche Institutionen sollen unabhängig arbeiten. Parteipolitik wies die Bewegung zurück und organisierte sich stattdessen über basisdemokratische Versammlungen. Jetzt fordert sie plötzlich Neuwahlen. Was steckt dahinter? Lucia Steinwender hat für mosaik Aktivist und Psychologie-Student Mihailo in Belgrad getroffen. Er erzählt vom Aufbau von Nachbarschaftsversammlungen (zborovi), wer sich darin organisiert und ob es am Ende jetzt doch um die Macht im Staat geht.

Eure Studierendenbewegung ist basisdemokratisch organisiert. Es gibt keine Führungsrollen, Entscheidungen werden in Plena an den besetzten Fakultäten getroffen. Teile der Bevölkerung sind eurem Beispiel gefolgt und organisieren sich jetzt in Versammlungen – sogenannten zborovi. Wie können wir uns das vorstellen?

Mihailo: Die zborovi sind Bürger*innenversammlungen, die ähnlich funktionieren wie die Plena an unseren Unis. Sie sind in Arbeitsgruppen organisiert, Entscheidungen werden von in einer gemeinsamen Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip getroffen. Sie ähneln den assemblies, die zum Beispiel die Occupy Wallstreet-Bewegung genutzt hat. Mit zwei entscheidenden Unterschieden: Die zborovi bilden sich nach Stadtteilen oder Nachbarschaften. Und sie sind in Serbien bereits gesetzlich verankert: Wenn mindestens 10 Prozent der gemeldeten Bürger*innen eines bestimmten Gebiets zusammenkommen, können sie eine Art Bürgerrat bilden und Vorschläge in den Gemeinde- oder Bezirksrat einbringen. Im März haben wir die Bevölkerung in einem offenen Brief dazu aufgerufen, solche zborovi zu organisieren. Dabei ging es uns nicht so sehr um die legale Gültigkeit dieser Versammlungen. Wir wollten einfach ein Konzept wählen, das den Leuten bereits ein Begriff ist, mit dem sie etwas anfangen können und vielleicht sogar positive Assoziationen haben.

Hat das funktioniert?

Ja. In der Anfangsphase haben in über 1.000 Siedlungen in ganz Serbien Versammlungen stattgefunden. Nicht alle davon haben sich institutionalisiert. Aber mindestens 100 zbovori haben sich dauerhaft – und teilweise ziemlich beeindruckend – organisiert.

Und was machen diese Versammlungen?

Zum einen sind sie Teil der landesweiten Protestbewegung. Zum anderen organisieren sie sich aber auch für eigene, lokale Anliegen.

Basisdemokratische Organisierung erfordert meist sehr viel Zeit. Organisieren sich in den Bürgerversammlungen vor allem Leute, deren finanzielle Situation es erlaubt oder die in der Vergangenheit schon politische Bildung genossen haben?

Das würde ich nicht sagen. Die Versammlungen spiegeln ihre Nachbarschaften wieder: In wohlhabenden Viertel sind wohlhabende Leute vertreten und vice versa. Gerade dadurch, dass die zborovi konkrete, greifbare Probleme in der lokalen Umgebung anpacken. Das sind teilweise Probleme, die schon lange bestehen – aber bisher gab es weder die lokale Organisierung, noch den politischen Druck, sie zu lösen. Beides gibt es jetzt.

Wie wichtig war und ist eure Rolle als Studierende im Anstoßen dieser Organisierung?

Wir haben eine Arbeitsgruppe für diese Versammlungen gegründet, in der ich aktiv bin. Zum einen leisten wir praktische Unterstützung – das ist vor allem in der Gründungsphase eines zbors relevant: Formiert sich in einem Stadtteil ein zbor, geben wir ihm als Studierendenbewegung oft eine gewisse Legitimität. Wir helfen auch bei Problemen: zum Beispiel, wenn die Beteiligung nicht so groß ist wie erhofft oder politische Parteien versuchen, Einfluss zu nehmen. Wir geben unsere eigenen Erfahrungen und die anderer zborovi weiter. Unsere zweite zentrale Funktion ist die Kommunikation und Koordinierung zwischen den Versammlungen. Wir organisieren bald die dritte „Versammlung der Versammlungen“, zu der wir Delegierte aller zborovi einladen.

Tauscht ihr in diesen Versammlungen nur praktische Erfahrungen aus, oder diskutiert ihr auch strategische Schritte der Protestbewegung?

Beides. Die zborovi haben sich zu einem zentralen Teil der Protestbewegung entwickelt. Sowohl die zweiwöchige Blockade des öffentlichen Rundfunks RTS im April als auch die aktuellen Straßenblockaden wären ohne sie nicht möglich gewesen. Mit den zborovi besteht jetzt eine unabhängige Struktur abseits der Studierenden, in der sich alle Bürgerinnen organisieren können.

Noch im März habt ihr betont, auf diesen Strukturaufbau zu setzen. Zu Parteipolitik habt ihr euch nie geäußert – das hat euch auch viel Unterstützung von der politikverdrossenen Bevölkerung eingebracht. Seit Mai fordert ihr nun Neuwahlen – und greift dafür auch zu radikaleren Mitteln. Seit Sonntagnacht legen Straßenblockaden in vielen Städten Serbiens den Verkehr lahm. Woher der Sinneswandel?

Zum einen hat sich gezeigt, dass die Regierungspartei unsere Forderung nach der Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit niemals erfüllen wird. Auf den bisherigen Höhepunkt der Proteste am 15. März, als Hunderttausende in Belgrad friedlich protestiert haben, reagierte sie mit Gewalt. Für viele Teile der Bewegung war spätestens dann klar: Um dieses Regime loszuwerden, braucht es Neuwahlen. Für die breite Masse sind Wahlen nun mal die logische politische Artikulation. Und weil wir als Studierenden nicht nur Teil dieser Bewegung sind, sondern gewissermaßen ihr zentrales Organ, haben wir uns letztlich entschieden, die Forderung mitzutragen. Heute glaube ich, es ist auch was dran: Vučić war in den letzten Jahren stets der erste, der Wahlen ausrief, um Proteste zum Verstummen zu bringen. Jetzt aber weigert er sich – weil er Angst hat, zu verlieren. Bei den Lokalwahlen in Kosjerić und Zaječar hat die Opposition stark zugelegt.

Geht es jetzt also doch um die Macht im Staat statt um Basisorganisierung von unten?

Das ist kein Widerspruch. Erstens wird Teil des Programms der neuen Liste sein, direkte Demokratie zu institutionalisieren. Plena an den Universitäten, aber auch lokale Selbstverwaltung sollen ausgeweitet und verfestigt werden. Zweitens soll die nächste potenzielle Regierung vermutlich nur für eine Übergangsphase dienen. Und egal welche Partei an der Macht ist, es braucht immer eine soziale Bewegung als Kontroll- und Druckmechanismus.

Ihr tretet als Studierende zwar nicht selbst bei möglichen Wahlen an, nominiert aber die Kandidat*innen für eine neue Liste. Und ihr schreibt das Programm mit. Bisher hatte eure Bewegung kaum soziale oder wirtschaftliche Forderungen. Ändert sich das nun?

Es stimmt, unsere ursprünglichen Forderungen haben sich auf ein grundlegendes Minimum beschränkt: dass die rechtsstaatlichen Institutionen ihre Arbeit tun und Gesetze für alle gelten. In dem sich unserem Kampf mehr und mehr unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen angeschlossen haben, haben sie aber auch ihre Anliegen in die Bewegung hineingetragen. Das Programm der neuen Liste soll diese breite soziale Front repräsentieren. Durch den Streik der Pädagog*innen wurde zum Beispiel klar, dass es eine Reform des Streikrechts braucht.

Das geltende Streikgesetz verbietet vielen Sektoren quasi den Streik. Auch den Pädagog*innen und Lehrer*innen, die als eine der wenigen Berufsgruppen für die Forderungen eurer Bewegung in den Streik getreten sind. Ihnen wurden die Gehälter bis zu 100% gekürzt. Nun haben die Gewerkschaften eine Initiative für eine Reform des Streikrechts gestartet.

Ich denke, durch unseren Kampf haben wir viele Teile der Gesellschaft aufgeweckt und aktiviert. Zum Beispiel auch die Gewerkschaften. Wir haben neue Ideen und Werkzeuge ins Spiel gebracht, mit denen wir uns gegen autoritäre Regierungen zur Wehr setzen können. Ich denke, diese Effekte werden noch lange spürbar sein – unabhängig davon, was das konkrete Ergebnis unseres aktuellen Kampfes gegen diese konkrete Regierung letztendlich sein wird. Denn in Serbien haben wir eine lange Geschichte repressiver, undemokratischer Regime, die gegen die Interessen der Bevölkerung arbeiten.

Die Demonstrationen der letzten Monate waren unglaublich divers. Von linken bis rechten politischen Gesinnungen war dort alles vertreten. Wie wollt ihr euch jetzt auf ein konkretes politisches Programm einigen?

Für die Studierendenbewegung kann ich sagen, dass der soziale Zusammenhalt uns über inhaltliche Differenzen hinwegträgt. Wir haben uns in den vergangenen Monaten fast täglich gesehen und viele politische Diskussionen geführt. Durch die Praxis der direkten Demokratie haben wir uns auch daran gewöhnt, dass vielleicht nicht immer alles so entschieden wird, wie wir uns das als Einzelne wünschen. Wenn ein Vorschlag die Mehrheit überzeugt, dann ist er meistens gut genug, um ihn mitzutragen.

Und in der Bevölkerung? Werdet ihr an Unterstützung verlieren, wenn ihr euren bisherigen Minimalkonsens verlasst?

Die letzten Monaten haben gezeigt, für welche Themen die Menschen in den vergangenen Monaten bereit waren, zu protestieren und zu kämpfen. Zum Beispiel gegen die Privatisierung unserer Rohstoffe. Im Osten des Landes richten multinationale Konzerne mit Bergbau schon viel ökologische Zerstörung an, im Jadartal will Rio Tinto Lithium ausbeuten. Die lokalen Gemeinschaften wehren sich dagegen. Deshalb haben wir auch den Stopp dieser Projekte in unser Programm mitaufgenommen.

Interview & Titelbild: Lucia Steinwender

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