Sieben Dinge, die du über die Wahlen in Ungarn wissen musst

Am Sonntag wählt Ungarn ein neues Parlament. Behält Premierminister Viktor Orbán und seine Partei Fidesz die Macht, droht die Zerschlagung der Zivilgesellschaft und des Rechtsstaats. Doch auch die Alternativen sind nicht viel besser. Wie es so weit kommen konnte, was der „Soros-Plan“ damit zu tun hat und welche Möglichkeiten die Opposition hat, erklärt Annastasiina Kallius.

1. In Ungarn werden die üblichen Koordinaten der Politik über den Haufen geworfen

Die politische Landschaft in Ungarn wird von zwei rechtsextremen Parteien dominiert.

Viktor Orbáns Regierungspartei Fidesz hat sich seit ihrer Machtübernahme von einer konservativen in eine rechtsextreme Partei verwandelt, die vor allem die ökonomischen Interessen der mit ihr verbündeten Oligarchen schützt.

Jobbik setzt dagegen auf soziale Themen, betont den Kampf gegen Korruption und für rechtsstaatliche Prinzipien. Ihr eigentliches Kernthema, ein aggressiver, ethnischer Nationalismus, kommt in ihrem Wahlkampf überraschend wenig vor. Man könnte etwas verkürzt sagen: Jobbik versucht Fidesz „von links“ zu schlagen, während Fidesz Jobbik „von rechts“ angreift.

Die „linksliberale Opposition“ besteht aus mehreren kleinen Parteien. Diese sind hauptsächlich damit beschäftigt, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen und schaffen es nicht, sich auf eine Zusammenarbeit einigen, um die Fidesz-Regierung herauszufordern. Meist verfolgen sie eine liberale Wirtschaftspolitik und wollen das Land stärker an die Europäische Union binden.

In einem post-sozialistischen Staat wie Ungarn ist es also kein Widerspruch, wenn eine linke Oppositionspartei für neoliberale Wirtschaftspolitik eintritt, während eine rechtsextreme Oppositionspartei  gegen eine rechtsextreme Regierungspartei für den Rechtsstaat wirbt.

2. Propaganda gegen MigrantInnen und die EU erstickt die öffentliche Debatte

Seit 2015 hat die Regierungspropaganda – oder „gezielte soziale Werbung“ (társadalmi célú reklám), wie sie offiziell genannt wird – bislang unbekanntes Ausmaß und Intensität angenommen. Sie mischt die immer gleichen Zutaten zusammen: George Soros, Migration und die EU. Die große Erzählung lautet: Der „Soros-Plan“, erdacht und finanziert von dem amerikanisch-ungarischen Milliardär, will die Nationalstaaten zu zerstören, indem er eine Million MuslimInnen nach Europa bringt.

Die Propaganda-Kampagne nimmt viele Formen an: Riesige Straßenplakate, kleinere Werbeposter an öffentlichen Orten, Flugblätter, die an Haushalte verteilt werden, Radio- und Fernsehwerbung, ganzseitige Anzeigen in Zeitungen und Magazinen.

Eine besondere Rolle spielt der pseudo-demokratische Mechanismus der „Nationalen Konsultation“. Fragebögen mit tendenziösen Fragestellungen werden an jeden Haushalt verschickt. So wurde 2017 gefragt: „Was sollte Ungarn tun, wenn Brüssel es zwingen will, illegale Einwanderer ins Land zu lassen – trotz der jüngsten Serie von Terrorangriffen in Europa?“ Die Antwortmöglichkeiten waren: „Wir sollten illegalen Einwanderern erlauben, sich frei im Land zu bewegen“, oder: „Illegale Einwanderer müssen überwacht werden, bis die Behörden über ihren Fall entscheiden“.

Die Regierung kontrolliert selbst einen Großteil der Medien. Die größte oppositionelle Tageszeitung, Népszabadság, wurde 2016 geschlossen, kurz nachdem sie von einer Firma gekauft wurde, die Lőrinc Mészáros gehört. Der Oligarch Mészáros ist Bürgermeister des Heimatdorfes von Viktor Orbán, er hat zahlreiche lokale Medien aufgekauft und unter seine Kontrolle gebracht.

Neue, unabhängige Medien-Plattformen sind seither im Internet entstanden. Abcug.hu konzentriert sich auf sozialpolitische Themen und Armut im Land; atlatszo.hu deckt Korruptionsfälle und finanzielle Verstrickungen des Regimes auf; und Mérce bietet linke Perspektiven auf tagespolitische Ereignisse.

Trotzdem gelingt es der kolossalen Propaganda-Maschinerie, die Leitlinien der öffentlichen Diskussion festzulegen. Wenn Fidesz zum Beispiel eine aggressive Kampagne gegen die Europäische Union fährt, sehen sich viele Oppositionskräfte gezwungen, eine starke, unkritische Pro-EU-Position einzunehmen.

Auch in der Debatte um Migration verhält es sich ähnlich. So begann Magyar Nemzet, eine der letzten verbliebenen respektablen Oppositions-Zeitungen, Viktor Orbán dafür zu attackieren, den sogenannten Soros-Plan nicht gestoppt und MigrantInnen ins Land gelassen zu haben.

3. Die Regierungspropaganda ist zentraler Bestandteil von Orbáns Außenpolitik

In Ungarn hat die Propagandaoffensive den Zweck, von den Machenschaften der Fidesz-Oligarchen und der tiefen Krise im Bildungs-, Wohn- und Gesundheitsbereich abzulenken. International dient sie dazu, Orbáns Rolle als Europas illiberaler Trendsetter zu zementieren.

Deshalb wird die Propaganda auch in mehreren Sprachen produziert. Es ist kein Zufall, dass die Videos auf Orbáns Facebook-Seite englische Untertitel haben. Neben zahlreichen Seiten auf Sozialen Medien umfasst Fideszs internationale Propaganda-Maschine auch die Webseite abouthungary.hu, die vom Büro des Premierministers betrieben wird, und die offizielle englische Nachrichtenseite der Regierung.

Der öffentliche Rundfunksender M1 steht ebenso unter Orbáns Kontrolle und produziert täglich Fernsehnachrichten auf englisch, chinesisch, deutsch und russisch.

4. Die Fidesz-Regierung will den Widerstand zerschlagen und die Zivilgesellschaft ausschalten

Die paranoide Anti-Soros-Kampagne mag von außen wie eine absurde Wahnvorstellung wirken. In Ungarn selbst hat sie aber sehr reale politische Auswirkungen. Was als toxische, hasserfüllte Kampagne gegen MigrantInnen begann, richtet sich nun auch nach innen. Unabhängige ungarische JournalistInnen haben aufgedeckt, dass die Regierung erst letzten März die Geheimdienste angewiesen hat, Beweise zu fälschen, die belegen sollten, dass „2.000 Soros-Söldner“ im Land operierten, um die Regierung durch den Einsatz von MigrantInnen zu stürzen.

Zuvor hatte die Regierung ein Gesetzespaket vorgeschlagen, das „Stop Soros!“ genannt wird – manche RegierungsgegnerInnen nennen es auch das „SS-Gesetz“. Mit den darin enthaltenen Instrumenten kann die Regierung alle in Ungarn arbeitenden NGOs, die ihr nicht genehm sind, zerschlagen.

Das Gesetzespaket sieht zudem vor, dass ungarische und EU-BürgerInnen, die „Beihilfe zur Migration“ leisten (was immer das genau bedeuten mag), sich nicht näher als acht Kilometer vor Ungarns Schengen-Außengrenze aufhalten dürfen. Gegen Drittstaatsangehörige kann ein Aufenthaltsverbot im ganzen Land ausgesprochen werden.

Fidesz hat angekündigt, das ungarische Volk nach der Wahl über das Stop Soros-Gesetz abstimmen zu lassen. Das Gesetzespaket soll der krönende Abschluss der Fidesz-Kampagne sein.

5. In der ungarischen Gesellschaft wächst die Wut über die Regierung – aber sie bleibt unorganisiert.

Viele Menschen in Ungarn sind empört über den Versuch der Regierung, den Rechtsstaat und die Zivilgesellschaft auszuschalten. Doch die Macht von Fidesz zu brechen ist extrem schwierig. Das liegt nicht zuletzt am ungarischen Wahlrecht, das die Regierungspartei extrem bevorzugt, und an der von der Regierung kontrollierten Medienlandschaft.

Zahlreiche drängende Probleme werden von der Regierungspropaganda zur Seite geschoben. Zum Beispiel in der Gesundheitsversorgung: In Krankenhäusern schimmeln die Wände, extrem niedrige Löhne zwingen viele Ärztinnen und Ärzte dazu, auszuwandern, Spitäler müssen immer öfter Operationen ausfallen lassen oder ganze Abteilungen schließen. Oft fehlen grundlegende Dingen wie Seife oder Toilettenpapier – von PatientInnen wird erwartet, dass sie diese Dinge selbst mitbringen.

Auch das Bildungssystem ist in einer tiefen Krise. Das Regime versucht seit Jahren, alle Bildungssektoren unter seine Kontrolle zu bekommen, was zu einer Reihe von Protestbewegungen von LehrerInnen, SchülerInnen und Eltern geführt hat. Der akademische Sektor wurde kaputtgekürzt, Gelder, die eigentlich den Universitäten zukommen sollten, wurden in Fidesz-nahe Think-Tanks wie Századvég umgeleitet.

Immer mehr Jugendliche entscheiden sich, das Land zu verlassen. Während junge UngarInnen aus den Mittelklassen nach Westeuropa gehen, um eine Ausbildung zu erhalten, wandern andere Jugendliche aus, um als ArbeiterInnen im Westen einen Job zu finden.

Auch viele konservative Intellektuelle sind unglücklich mit der Entwicklung des Landes. Aber in der extrem polarisierten Atmosphäre werden ihre Stimmen nicht gehört. Die Macht von Fidesz reicht tief in die Gesellschaft, in den Bildungsbereich, die Justiz und die Verwaltung. Eine Atmosphäre der Angst verhindert, dass sich Unzufriedene organisieren. Viele kennen Geschichten von Bekannten oder Verwandten, die ihren Job verloren haben, weil sie das Regime kritisierten.

6. Viele werden aus strategischen Gründen die rechtsextreme Jobbik wählen

Die linksliberale Opposition kann sich nicht auf eine Zusammenarbeit einigen, geschweige denn auf einen konkreten politischen Plan, der über die bloße Verurteilung Orbáns hinausginge. In dieser Konstellation konnte sich Jobbik als einzige verlässliche Oppositionspartei mit realistischen Chancen, Fidesz herauszufordern, profilieren.

Die Partei versucht, ihren antisemitischen und rassistischen Ruf loszuwerden und sich in der politischen Mitte zu positionieren. Zugleich legt sie ein politisches und ökonomisches Programm vor, das reale Herausforderungen der Gesellschaft anspricht. Viele WählerInnen sind nicht glücklich über diese Konstellation, sehen eine Stimme für Jobbik aber als strategische und mathematische Notwendigkeit, um die Reste der Demokratie in Ungarn zu retten.

7. Egal wie die Wahl ausgeht – uns stehen harte Zeiten bevor.

Achtet in der Wahlnacht auf die Wahlbeteiligung: Je höher sie ist, desto unberechenbarer wird das Ergebnis. Wenn jene zwei Millionen Wahlberechtigen, die noch unsicher sind, ob sie überhaupt wählen sollen, an die Urne schreiten, wird es für Fidesz sehr schwer, die Zweidrittel-Mehrheit zu behaupten.

Sollte das der Fall sein, könnte die Zerstörung der ungarischen Zivilgesellschaft noch verhindert werden. Doch vielen UngarInnen ist auch nicht wohl bei dem Gedanken, dass die Oppositionsparteien eine Koalitionsregierung bilden. Schließlich haben diese lange genug bewiesen, dass sie sich nur darauf einigen können, nicht einig zu sein.

Sowohl Jobbik als auch die Grüne Partei LMP haben angekündigt, im Falle eines Wahlsieges Fidesz für die Ausplünderung der Staatskassen zur Verantwortung zu ziehen, oder sogar Neuwahlen abzuhalten. Doch beides ist unwahrscheinlich.

Sollte Jobbik die Wahl gewinnen, ist unsicher, ob die Partei wirklich ihren faschistischen Wurzeln abgeschworen hat. Viele wollen sich darauf lieber nicht verlassen.

Sollte Fidesz gewinnen, droht das Stop-Soros-Gesetzespaket die Zivilgesellschaft und die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn auf lange Zeit zu vernichten. Damit wäre eine Ära zu Ende. Was danach kommt, wissen wir nicht. Das Regime wird sich neue Feinde suchen, um seine bewährte Strategie der Ablenkung fortzuführen. Welche das sind, lässt sich nur erahnen. Sicher ist nur, dass uns harte Zeiten bevorstehen.

 

Annastasiina Kallius ist aktiv im Netzwerk Migszol Csoport in Budapest.

Aktuelle, unabhängige Berichterstattung aus und über Ungarn in englischer Sprache gibt es auf The Hungarian Spectrum, The Budapest Beacon und von JournalistInnen wie Lili Bayer, Dan Nolan und Nick Thorpe.

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