Sex, Solidarität und Stigmatisierung im ersten Corona-Jahr

Seit Beginn der Pandemie zieht sie mit ihren Studien über Sex und Liebe die Neugier von in- und ausländischen Medien an: Barbara Rothmüller. Die Soziologin und Sexualpädagogin hat mittlerweile sogar eine eigene Kolumne in der „Kronen Zeitung”. Ihre neueste, im Herbst 2020 durchgeführte Befragung, widmet sich dem Thema „Intimität, Sexualität und Solidarität”. Mosaik-Redakteurinnen Sonja Luksik und Franziska Wallner sprachen mit ihr über Lust, Dating und Diskriminierung in Corona-Zeiten.

In unserem letzten Interview im Juli haben wir über sexuelles Begehren gesprochen. Was hat sich seither verändert? 

Der zweite Lockdown hat bei mehr Befragten zu einem Rückgang sexuellen Begehrens geführt als der erste. Man muss allerdings dazu sagen, dass noch immer der Großteil der Studienteilnehmer*innen relativ viel Lust auf Sex mit einer anderen Person hatte. Noch mehr Menschen haben sich allerdings nach körperlicher Nähe und Umarmungen gesehnt. 

Und wie sieht es mit sexuellen Praktiken aus?

Es ist teilweise zu einer Veränderung der sexuellen Kultur gekommen. Kollektive sexuelle Räume und Praktiken, aber auch unverbindliches Dating, sind aktuell delegitimiert. Kaum jemand hat im Herbst angegeben, Sex mit einer fremden Person gehabt zu haben, vielleicht auch weil sich einige Befragte über den Sommer neu verliebt oder aus einer unverbindlichen sexuellen Beziehung eine verbindliche Partnerschaft gemacht haben.

Ein Viertel lebt Sexualität auch digital vermittelt, versendet zum Beispiel Nacktfotos. Als Sexualpädagogin finde ich interessant, dass relativ viele Befragte im ersten und zweiten Lockdown über sexuelle Fantasien gesprochen und diese auch ausprobiert haben.

Wie datet Österreich in der Pandemie?

Jedenfalls nur zwölf Prozent so wie im Sommer. Bei den anderen haben sich Dating-Routinen deutlich verschoben. Manche meiner Studienteilnehmer*innen haben Dating genutzt, um eher ihr emotionales Bedürfnis nach Kontakten abzudecken. Andere haben pausiert oder sich Zeit genommen, um stärker auszuwählen.

Vor dem breiten Zugang zu Tests haben sehr viele erste Dates mit Maske oder im Freien beim Spazierengehen gehabt. Mit dem Testen haben jetzt viele eine gute Möglichkeit gefunden, um den Rechtfertigungsdruck ein bisschen rauszunehmen. 

Auf die Frage „Wie lange ist deine letzte Umarmung her?” haben vor allem Singles geantwortet: „Länger als drei Monate”. Hat dich das überrascht?

Das Ausmaß hat mich schon überrascht. Vor allem, weil mediale Darstellung und Realität so weit auseinanderliegen. Im Sommer haben Bilder von Jugendlichen am Donaukanal den Eindruck erweckt, dass eh alles wieder normal ist.

Viele haben aber nach wie vor Nähe als gefährlich erlebt und weiterhin körperliche Distanz gewahrt. Und dann sind viele Singles mit einem massiven „Hauthunger” in den Lockdown-Herbst gestartet. Nur etwa ein Fünftel davon hat für sich Wege gefunden, diesen Mangel an Nähe auszugleichen.

Und welcher „Berührungs-Ersatz” wurde genannt? 

Viele Menschen haben mehr mit ihren Kindern, Haustieren oder mit einer Wärmeflasche gekuschelt. Einige machen Sport, massieren sich selbst, masturbieren, meditieren, nehmen ein Bad oder tun andere körperliche Dinge, die sich gut anfühlen. 

Neben dem Wegfall von Berührungen hat mich auch betroffen gemacht, dass sehr viele Befragte es zulassen bzw. zulassen müssen, dass ihr Gefühl für Nähe und Distanz verletzt wird und sie sich beispielsweise umarmen lassen, damit kein Konflikt entsteht. Das sind ja Grenzverletzungen, wenn ich jemandem näher komme, als es der Person angenehm ist. Sowas bedroht die körperliche Integrität und ist offenbar aber nicht konfliktfrei auszuhandeln.

Die Studie widmet sich auch dem Thema Solidarität und Ent-Solidarisierung. Auf welche Ergebnisse bist du da gestoßen?

Vor einem Jahr gab es noch ein ganz starkes Verbundenheitsgefühl in der Bevölkerung. Im Sinne von: Diese Katastrophe betrifft uns alle. Im Herbst-Lockdown sind solidarische Praktiken zurückgegangen, aber nicht komplett weggebrochen. Das Gemeinschaftsgefühl nehmen viele jedoch nicht mehr so stark wahr wie zu Beginn der Pandemie. Die Hälfte meiner Befragten dachte bereits im Herbst, dass die Pandemie dazu führt, dass sich die Menschen nur mehr um sich selbst kümmern.

Diese Ent-Solidarisierung hängt aus meiner Sicht auch damit zusammen, dass sich die Menschen aus sozialen Kontakten zurückgezogen und über die Pandemie-Maßnahmen zerstritten haben. Erstaunlich viele Befragte haben deswegen Beziehungen zu Freund*innen, Bekannten, aber auch Arbeitskolleg*innen abgebrochen. Da entstehen gerade neue Formen der sozialen Klassifizierung und Distinktion entlang von Verhalten und Meinungen. 

Die unterschiedlichen Einstellungen zu den Corona-Maßnahmen sind also der Grund dafür, dass der Kontakt zu Familienmitgliedern und langjährigen Freund*innen abgebrochen wird?

Ja, auch. Es geht um unterschiedliche Erwartungen, wie sich Menschen in so einer Krisenzeit zu verhalten haben. Leute, die alles für total übertrieben halten, werden nicht ständig ihre Freund*innen durchtelefonieren und fragen: „Ist alles okay, geht’s dir eh gut? Kann ich was für dich tun?”. Aber viele erleben die Pandemie als dramatische Gesundheitskrise und große psychosoziale Belastungt. Die sind teilweise enttäuscht, dass sich Bezugspersonen in der Krisenzeit nicht um sie gekümmert haben. Viele haben auch angegeben, dass sie den Kontakt verloren haben, weil ihnen Telefonate und Video-Calls zu mühsam sind.

Gleichzeitig findet eine gesellschaftliche Ausgrenzung bestimmter Lebensstile statt. Die moralische Verurteilung von Partys, Disziplinlosigkeit oder sexuell freizügigen Lebensentwürfen kannte man ja bisher vor allem von Konservativen. Jetzt ist das aber auf einmal auch in „progressiven Kreisen” angekommen, wie meine Befragten es nennen.

Im Windschatten dieser Verschiebungen gewinnen Paar-Beziehungen unhinterfragt an Legitimität. Und tatsächlich haben eine neue Häuslichkeit und romantische Paarbeziehungen viele Menschen gut durch die Krise getragen. Aber nicht alle führen ein solches Leben. Und Lebensstile haben immer auch soziale Voraussetzungen.

In der Studie hast du Vermeidungsverhalten untersucht. Wer wurde von wem gemieden – und warum?

40% meiner Befragten haben angegeben, dass sie wissen, bei wem sie sich wahrscheinlich anstecken können und deshalb auch, vor welchen Bevölkerungsgruppen sie sich besonders schützen möchten. Die meisten halten sich von Corona-Leugner*innen und Personen, die Party machen und sich nicht an die Maßnahmen halten, fern. Viele meiden auch Kinder und Jugendliche – das hat mich sehr betroffen gemacht, weil die ohnehin am meisten Ängste und Schuldgefühle haben, dass sie jemand anstecken könnten. Überhaupt wurde die Belastung von Jugendlichen lange heruntergespielt. Und das trifft dann natürlich auch Menschen, die mit Kindern zu tun haben – z.B. Eltern.

Berufsgruppen, die Kontakt zu Infizierten haben könnten, wurden auch häufig genannt. Viele halten sich von Obdachlosen und Suchtkranken fern. Einige haben auch „Bildungsferne, die in Einkaufszentren gehen”, „ungepflegte Personen“ oder „dumme Menschen“ geantwortet. 

Mir ist wichtig zu betonen: Es gibt bestimmte Bevölkerungsgruppen, die statistisch ein höheres Ansteckungsrisiko haben – zum Beispiel aufgrund ihrer Berufe. Aber im individuellen Kontakt kann man das nicht vorhersehen.

Haben die Befragten angegeben, ob sie merken, dass andere sie meiden?

Ja. Vor allem Berufsgruppen, die mit Menschen arbeiten, haben das im privaten Umfeld erlebt. Beispielsweise wenn jemand demonstrativ Abstand hält, obwohl es gar nicht notwendig ist – vor allem wenn man bedenkt, wie oft diese Berufsgruppen getestet werden.

Du hast ja auch Stigmatisierungs- und Diskriminierungserfahrungen untersucht. Das Ergebnis war, dass sie vor allem von LGBTQ+-Personen gemacht werden. Wo und wie erleben sie diese?

Personen, die polyamore und unverbindliche (Sex-)Beziehungen haben, berichteten von Ausgrenzung. Sie müssen sich auf einmal rechtfertigen – oder treffen nur mehr eine Person.

Weiters erlebten einige Homofeindlichkeit im öffentlichen Raum. Zum Beispiel wurde schwulen und lesbischen Paaren nicht geglaubt, dass sie ein Paar sind. Sie mussten mehrfach rechtfertigen, dass sie Bezugspersonen sind – unter anderem vor der Polizei.

Transfeindlichkeit ist auch ein großes Thema. Das war die Gruppe von Befragten, die am schwersten belastet war, was übrigens auch vor der Pandemie schon zahlreiche Studien gezeigt haben. Es war auch die Gruppe, die am wenigsten das Gefühl hatte, dass sie mit ihren Partner*innen unbehelligt im öffentlichen Raum Händchenhalten kann. Viele Leute haben gar nicht so am Schirm, dass Alltagsdiskriminierung auch in der Pandemie stattfindet und in der Öffentlichkeit spazieren zu gehen eben nicht für alle unbeschwert möglich ist. 

Welche Rolle spielen queere Communities in der Pandemie?

Die Community-Kontakte von LGBTQ+ sind sehr stark eingebrochen. Damit fällt eine wichtige Möglichkeit der psychosozialen Unterstützung weg. LGBTQ+ hatten auch doppelt so häufig Angst, dass sie Vertrauenspersonen verlieren, und fühlen sich häufiger einsam und isoliert.

All das, obwohl LGBTQ+ Befragte häufiger auch gesellschaftspolitisch engagiert waren als heterosexuelle Befragte. Generell wurden in sehr hohem Ausmaß Personen unterstützt, die von der Pandemie betroffen waren und Hilfe brauchten: 62% der LGBTQ+ Befragten unterstützten betroffene Bekannte durch Gespräche, 13% durch finanzielle Unterstützungsleistungen.

Aber einige sind auch schon im Herbst vom Unterstützungsbedarf innerhalb der Community überfordert gewesen. Von den neuen Erwartungen an psychosoziale Unterstützung und Solidarität im Freundeskreis waren 15% der LGBTQ+ Befragten sehr stark gefordert oder sogar überfordert – doppelt so viele wie bei heterosexuellen Befragten.

Neben Barbara Rothmüller arbeiten Emelie Rack, Laura Wiesböck, Sophie König und Anna Maria Diem am Forschungsprojekt mit.

Interview: Sonja Luksik und Franziska Wallner

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